E-Book, Deutsch, Band 12, 472 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
Burke Die Schuld der Väter
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86532-736-9
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 12
E-Book, Deutsch, Band 12, 472 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
ISBN: 978-3-86532-736-9
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vergewaltigt und mit einer Schrotflinte erschossen: Der Mord an einer 16-jährigen Schülerin schreckt die Menschen in New Iberia auf. Fingerabdrücke am Tatort weisen auf den jungen schwarzen Cajun-Musiker Tee Bobby Hulin hin. Doch Dave Robicheaux ist skeptisch und gräbt tiefer. Seine Ermittlungen führen ihn weit in die Vergangenheit - zu Tee Bobby Hulins Großmutter und einem zwielichtigen ehemaligen Plantagenaufseher.
Dann geschieht ein zweiter Mord. Diesmal ist die Tochter eines berüchtigten Mafioso aus New Orleans das Opfer. Als der Mafioso die Sache selbst in die Hand nehmen will, läuft Robicheaux die Zeit davon ...
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1 Als ich in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in New Iberia unten an der Golfküste aufwuchs, gab es für mich keinerlei Zweifel daran, wie es auf der Welt zuging. In der Morgendämmerung ragten entlang der East Main Street die alten, noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammenden Häuser mit ihren taunassen Säulenportalen, den Gartenwegen und den Balkonen aus dem Dunst auf, zeichneten sich die Kamine und Schieferdächer weich unter dem Laubdach der immergrünen Eichen ab, das die ganze Straße überspannte. Mit umgekippten Schornsteinen lagen die versenkten Schiffe der US-Navy im Hafenbecken von Pearl Harbor, und überall in New Iberia hingen die Militärsterne in den Fenstern. Aber an der East Main Street war die Luft im ersten Morgengrauen schwer vom Duft der nachts blühenden Blumen, roch es nach Flechten auf feuchtem Gestein und dem faulig-fruchtbaren Moderdunst des Bayou Teche. Auch wenn im Fenster eines Herrenhauses ein goldener Stern hängen mochte, der den Soldatentod eines Familienangehörigen anzeigte, hätte man meinen können, man befände sich eher im Jahr 1861 als im Sommer 1942. Selbst wenn sich die Sonne über den Horizont schob, wenn die Eis- und Milchwagen auf ihren mit Eisenreifen beschlagenen Rädern die Straße entlangrollten und sich die Schwarzen nach und nach an den Hintertüren ihrer Dienstherren zur Arbeit meldeten, war das Licht niemals grell, wurde es nie zu heiß oder roch nach Straßenteer und Staub, so wie in anderen Gegenden. Stattdessen sickerte es durch das Louisianamoos, durch Bambus und Philodendron, an denen murmelgroße Tautropfen hingen, sodass für diejenigen, die hier lebten, je der neue Morgen mit einer blauen Samtigkeit anbrach, die ihnen tagtäglich deutlich machte, wie großartig die Erde war, erschaffen nach einem Plan, der uns vom Himmel gewährt worden war und nie in Frage gestellt werden sollte. Unten an der Straße stand das alte Frederic Hotel, ein zauberhafter rosafarbener Bau mit Topfpalmen und Marmorsäulen im Innern, einem Ballsaal, einem Fahrstuhl, der aussah wie ein Vogelkäfig aus Messing, einem hohen Schuhputzstuhl aus verschnörkeltem Schmiedeeisen und einer langen, von Hand geschnitzten Mahagonibar. Inmitten der Palmwedel und der blauen und grauen Farbkringel an den Marmorsäulen standen die Glücksspiel- und Rennpferd-Automaten mit ihren blinkenden, kreisenden Lichtern und den wie mattes Zinn schimmernden Münzschalen, die ein stummes Versprechen für jene abgaben, die frohen Mutes waren. Weiter unten zweigten die Hopkins und die Railroad Avenue von der Main Street ab, wie zwei Zubringerstraßen in einen Teil der Geschichte und Geographie der Stadt, über den die Leute in der Öffentlichkeit nicht redeten. Wenn ich samstagnachmittags mit meinem Vater zum Eishaus ging, schaute ich immer verstohlen die Railroad Avenue hinab, auf die ungestrichenen Hütten, die sich zu beiden Seiten der Bahngleise aneinanderreihten, und die ungepflegten Frauen, die auf den Stufen saßen, verkatert, breitbeinig, die Knie unter den weiten Kattunkleidern angewinkelt, und sich vielleicht gerade einen Schluck Bier aus einem Eimer schöpften, den zwei schwarze Jungen an einem Besenstiel aus Hattie Fontenots Bar anschleppten. Ich lernte frühzeitig, dass es kein Laster oder Geschäft mit der Unzucht ohne das Einverständnis der Allgemeinheit gab. Ich dachte, ich hätte das Wesen des Bösen begriffen. Mit zwölf Jahren erfuhr ich, dass dem nicht so war. Mein Halbbruder, der 15 Monate jünger war als ich, hieß Jimmie Robicheaux. Seine Mutter war eine Prostituierte aus Abbeville, aber er und ich wurden gemeinsam aufgezogen, größtenteils von unserem Vater, bekannt als Big Aldous, der Trapper, gewerbsmäßiger Fischer und Bohrarbeiter auf den Öltürmen vor der Küste war. Als Kinder waren Jimmie und ich unzertrennlich. An schönen Sommerabenden gingen wir immer zu den Ballspielen, die unter Flutlicht im City Park stattfanden, und stahlen uns in die Menschenschlangen, die an den Grills und Krabbenküchen bei den Freiluftpavillons anstanden. Unser Vergehen war eher harmlos, nehme ich an, und wir waren ziemlich stolz auf uns, wenn wir meinten, wir hätten die Erwachsenen wieder einmal ausgetrickst. An einem heißen Augustabend, an dem Blitze zwischen den Gewitterwolken über dem Golf von Mexiko zuckten, gingen Jimmie und ich unter den Eichen am Rande des Parks entlang, als wir einen alten Ford sahen, in dem zwei Pärchen saßen, eins auf dem Vordersitz, eins hinten. Wir hörten eine Frau aufstöhnen, dann wurde ihre Stimme lauter und durchdringender. Mit offenem Mund starrten wir hin, als wir den nach hinten gewölbten Oberkörper einer Frau sahen, ihre nackten Brüste, die im Lichtschein eines Picknickpavillons schimmerten, den vor Lust aufgerissenen Mund. Wir wollten in die andere Richtung gehen, aber die Frau lachte jetzt und schaute mit schweißnassem, glänzendem Gesicht aus dem Fenster. „Hey, Junge, weißt du, was wir grade gemacht ham? Das tut meiner Muschi so gut. Hey, komm her, du. Wir ham gefickt, mein Junge“, sagte sie. Damit hätte es vorbei sein sollen – eine unangenehme Begegnung mit weißem Abschaum, Leuten, die vermutlich betrunken waren und sich beim Schäferstündchen im Grünen hatten erwischen lassen. Doch die eigentliche Auseinandersetzung fing damit erst an. Der Mann am Lenkrad zündete sich eine Zigarette an, sodass sein Gesicht im Flammenschein wie Teig aufleuchtete, dann trat er heraus auf den Kies. Er hatte Tätowierungen an den Unterarmen, die wie dunkelblaue Schlieren wirkten. Mit zwei Fingern klappte er die Klinge eines Taschenmessers auf. „Ihr schaut wohl gern bei andern Leuten durchs Fenster?“, fragte er. „Nein, Sir“, sagte ich. „Das sind doch noch Jungs, Legion“, sagte die Frau auf dem Rücksitz, während sie ihre Bluse anzog. „Vielleicht bleiben sie das auch für immer“, sagte der Mann. Ich dachte zunächst, er wollte uns damit bloß erschrecken. Aber dann sah ich ihn deutlich vor mir, die pechschwarzen, nach hinten gekämmten Haare, das schmale Gesicht mit den steilen Falten, die Augen, mit denen er ein Kind anschaute, als wäre es die Ursache all seines Zorns auf Gott und die Welt. Dann rannten Jimmie und ich in die Dunkelheit, mit klopfenden Herzen, für immer verändert durch das Wissen, dass es auf der Welt dunkle Abgründe gab, in denen das Böse hauste. Da mein Vater nicht in der Stadt war, rannten wir bis zu dem Eishaus an der Railroad Avenue, hinter dem das hell erleuchtete und gepflegte Haus von Ciro Shanahan stand, dem einzigen Menschen, von dem mein Vater voller Bewunderung und Zutrauen sprach. Später sollte ich erfahren, warum mein Vater so viel Hochachtung vor seinem Freund hatte. Ciro Shanahan war einer jener seltenen Menschen, die ihr Leid stillschweigend erduldeten und sich schweres Unrecht zufügen ließen, um diejenigen zu schützen, die sie liebten. Es war in einer Frühlingsnacht im Jahr 1931, als Ciro und mein Vater südlich von Point Au Fer die Motoren ihres Bootes abstellten und auf die schwarz-grünen Umrisse der Küste von Louisiana starrten, die sich im Mondlicht abzeichneten. Die Wellen trugen Schaumkronen, und ein scharfer Wind bauschte die knatternde Plane auf, die über die Kisten voller mexikanischem Whiskey und kubanischem Rum gespannt war, die mein Vater und Ciro 16 Kilometer weiter draußen von einem Trawler übernommen hatten. Mein Vater schaute durch seinen Feldstecher und betrachtete die Suchscheinwerfer, die im Süden über die Wellenkämme huschten. Dann stützte er das Glas auf das Dach des kleinen, aus rohem Kiefernholz gebauten Ruderhauses am Heck des Bootes, wischte sich die salzige Gischt vom Gesicht und musterte den Küstenstreifen. Zwischen ihnen und dem rettenden Ufer tanzten die Positionslichter von drei Booten in der Dünung. „Der Mond scheint. Ich hab dir doch gesagt, das is ’ne schlechte Nacht für so was“, sagte er. „Wir haben es früher auch schon gemacht. Wir sind immer noch da, nicht wahr?“, erwiderte Ciro. „Die Boote vor uns, das sind die Männer vom Staat, Ciro“, sagte mein Vater. „Das wissen wir nicht“, sagte Ciro. „Wir können uns nach Osten halten. Die Ladung bei Grand Chenier verstecken und später zurückkommen. Hör mal zu, du. Im Knast is noch keiner auf seine Kosten gekommen“, sagte mein Vater. Ciro war klein, gebaut wie ein Hafenarbeiter, hatte rote Haare, grüne Augen und einen schmalen, nach unten gezogenen irischen Mund. Er trug einen Segeltuchmantel und einen Fedora-Filzhut, der mit einem Schal am Kopf festgebunden war. Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, und sein Gesicht war vom Wind gerötet, wirkte verkniffen und nachdenklich. „Der Mann hat seine Laster da oben stehen, Aldous. Ich hab ihm versprochen, dass wir heut Nacht kommen. Man lässt die Leute nicht warten“, sagte er. „Niemand kommt nach Angola, weil er in ’nem leeren Laster sitzt“, sagte mein Vater. Ciro wandte den Blick von meinem Vater ab und schaute zum Horizont im Süden. „Is jetzt eh wurscht. Da kommt die Küstenwache. Halt dich fest“, sagte er. Das Boot, das Ciro und meinem Vater gemeinsam gehörte, war lang und schmal, wie ein Torpedoboot aus dem Ersten Weltkrieg, und für die Versorgung der Bohrtürme vor der Küste gebaut worden, ohne jeden Firlefanz an Bord. Das Ruderhaus saß wie eine Streichholzschachtel am Heck, und selbst wenn sich die Bohrrohre hoch auf dem Deck stapelten, konnten es die schweren Chrysler-Motoren noch problemlos durch dreieinhalb Meter hohen Seegang treiben. Als Ciro den Gashebel nach vorn schob, pflügten die Schrauben eine Furche durch die Dünung, und der Bug stieg aus dem Wasser und schnitt durch eine Welle, dass...