E-Book, Deutsch, Band 7, 384 Seiten
Reihe: Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism
Burghardt / Hausbacher Vielsprachigkeit der Sprache
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7720-0254-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen
E-Book, Deutsch, Band 7, 384 Seiten
Reihe: Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism
ISBN: 978-3-7720-0254-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Univ. Prof. Dr. Eva Hausbacher lehrt slavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. PD Dr. Anja Burghardt lehrt slavische Literaturwissenschaft an der LMU München.
Autoren/Hrsg.
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3. Literarische Mehr- und Vielsprachigkeit
„Wir sind Schriftsteller*innen, wir kommunizieren immer in etwas anderem als in Nationalsprachen.“
(Sasha Marianna Salzmann, , Berlin: Suhrkamp 2024, 119.)
Wie Roelcke unterscheidet auch Monika Schmitz-Emans (2004) der Sache nach zwischen vielsprachigen Kollektiven (Nationen, Staaten, Regionen und Kulturen) und mehrsprachigen Individuen. Sie macht diese Differenz für ein „weites Panorma an Phänomenen literarischer Mehrsprachigkeit“ (13) fruchtbar. Mit Blick auf die Literatur vielsprachiger Kulturen verweist sie darauf, dass monolinguale Nationalliteraturen allenfalls eine pragmatisch zu rechtfertigende Fiktion seien (11), ehe sie mehrsprachige literarische Werke und das Schreiben mehrsprachiger Autor:innen in den Blick nimmt. Hier sei zwischen solchen Autor:innen zu unterscheiden, die bedingt durch ihre Lebensgeschichte nacheinander in verschiedenen Sprachen schreiben, und solchen, die über längere Zeit oder stets zwischen den Sprachen wechseln (vgl. 11). Das „Dazwischen-Stehen“ könne dabei als produktive Chance ebenso wie als Belastung empfunden werden (vgl. 13). Wie Blum-Barth (2019) anmerkt, führt die Mehrsprachigkeit von Autor:innen allerdings nicht nowendig zu einer Mehrsprachigkeit ihrer Texte (13).
Für die Texte entwirft Schmitz-Emans typologische Spielformen: eine Mischung aus Elementen konventioneller Sprachen unterscheidet sie von solchen, in denen Kunst- und Phantasiesprachen das Ensemble der bekannten Sprachen erweitern. Till Dembeck nimmt das in seiner Darlegung von Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit mit der Gegenüberstellung von Sprachwechsel vs. Sprachmischung ähnlich vor. Während beim Sprachwechsel ein Umschalten zwischen unterschiedlichen Idiomen gegeben ist, zeichnet sich die Sprachmischung dadurch aus, dass ein neues Idiom entsteht, das sich der Elemente mindestens zweier verschiedener Idiome bedient. Es handelt sich bei den beiden Termini also um die literarischen Analogien zu Code-Switching (Sprachwechsel) vs. Kontaktsprachen (Sprachmischung). In Aleksandr Puškins (1830) ist demnach ein Sprachwechsel durch das Einfügen französischer Wörter gegeben; zudem gibt es hier insofern eine Sprachmischung, als Puškin in diesem „Roman in Versen“ getrennte Stillagen der russischen Sprache auflöst. Im 20. Jahrhundert sind dem gegenüber Sprachspiel und innovative Formbildung sowie verfremdende Effekte zentral, insbesondere im Futurismus, der Avantgardelyrik oder auch der Konkreten Poesie.
Mit der visuellen Ebene der konkreten Poesie ist eine weitere Ebene in der Typologie von Schmitz-Emans (2004) angesprochen, nämlich die Intermedialität, die sie als besondere Spielart der Sprachmischungen ansieht. Allgemeiner: die intermediale Integration non-verbaler Sprachen (Bild-, Ton- und Körper-Sprachen), also differenter semiotischer Systeme, stellt ebenfalls eine Form der Vielsprachigkeit dar (15). Sie lenkt so die Aufmerksamkeit in der Vielsprachigkeitsforschung auf die Beziehungen einzelner Künste und Medien, etwas das in dem vorliegenden Band der Beitrag von Ilja Kukuj näher beleuchtet. Auch hier findet sich eine Parallele zu Dembecks Typologie (2017), und zwar zu seinem Konzept der ,Mehrschriftlichkeit‘, für das er zwischen einer thematisierten (oder auch erzählten) gegenüber einer „gezeigten“ Mehrschriftlichkeit differenziert. Letztere beinhaltet den Einsatz von Handschrift oder spezifischer kalligraphischer Praktiken innerhalb desselben Alphabets. Über die sichtbare Kombination mehrerer Schriften hinaus betrachtet er das Zusammenspiel von Schrift und Bild als eine Form der Mehrschriftlichkeit, die mit der Popularität der Graphic Novel aktuell einen Trend zur Integration graphisch-visueller Elemente im literarischen Text erkennen lässt. Dabei lässt sich beobachten, dass ein unkonventionelles Schriftbild oft mit einem inhaltlich-thematischen Irritations-Effekt korrespondiert: Kulturdifferenzen werden so dargestellt oder auch Rätsel (beispielsweise in Form kryptographischer Codes und rätselhafter Geheimschriften).
Solche Formen intermedialer Vielsprachigkeit ebenso wie die historische Forschung zu Vielsprachigkeit (in dem vorliegenden Band beispielsweise mit Agnes Kims Analyse von Dramentexten auch von Unterhaltungsliteratur im 19. Jahrhundert) lassen textuell literaturwissenschaftliche, insbesondere mit Blick auf das Publikum kulturwissenschaftliche oder poietisch für das Œuvre der Schreibenden gegebene Fragen hervortreten: Wie sehr war und ist ein Aspekt der Mehrsprachigkeit, dass die mit ihr bis zu einem gewissen Grad gegebene Unverständlichkeit gelassen oder gar erfreut als Teil der literarischen Kommunikation betrachtetet wurde und wird, als Teil einer Begegnung also mit etwas mehr oder minder Fremdem, auf das überhaupt erst eine Neugier geweckt wird? In diesem Sinne dürfte mehrsprachige Literatur immer ein „translanguaging“ (Taylor-Bartty/Dembeck 2023: 12) zelebrieren.
Für Michel Butor (1996) ist die Idee von der immanenten Vielsprachigkeit des jeweiligen Einzeltextes zentral, u.a. durch fremdsprachige Zitate und Übersetzungsprozesse, die den Anschluss an viele Sprachen gleichzeitig bedeuten. Innerhalb der Slavistik findet sich eine solche Idee bereits in Michail Bachtins Überlegungen zum neuzeitlichen Roman (vgl. Bachtin 1979: 156f.). Nicht nur über die verschiedenen Sprechweisen einzelner Charaktere, die es Bachtin zufolge zudem mit sich bringen, dass im Roman eine große Bandbreite an Idio-, Dia- und Soziolekten aufgerufen wird, ensteht in der Integration von Gattungen aus anderen Literaturen eine Vielsprachigkeit bzw. Polyphonie. Ivana Pajic macht sich Bachtins Konzeption zunutze, um über die Polyphonie Besonderheiten der Mehrsprachigkeit bei deutschsprachigen Autorinnen aufzuzeigen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen.
3.1 Typologien
Die bereits angeklungenen Reflexionen von Spielarten literarischer Vielsprachigkeit systematisiert Natalia Blum-Barth (2019 und 2021). Mit Blick auf die Mehrsprachigkeit von Autor:innen verweist sie zunächst auf eine textexterne bzw. textübergreifende Mehrsprachigkeit, die (neben dem Sprachvermögen der Schreibenden) das Gesamtwerk, das in zwei oder mehr Sprachen vorliegt, umfasst (z.B. Vladimir Nabokov, für dessen Œuvre Selbstübersetzungen eine wichtige Rolle spielen; im Fall von Olga Martynova ist das an die Gattung gebunden, hat sie doch Lyrik auf Russisch, Prosa auf Deutsch verfasst).
Für die textinterne Mehrsprachigkeit führt Blum-Barth eine ganze Palette an Phänomenen an, die Dembeck (2017) ganz ähnlich vorschlägt: Nach Blum-Barth gibt es einerseits (1) eine manifeste Mehrsprachigkeit, die an der Oberfläche eines Textes und unmittelbar wahrnehmbar ist. Sprachwechsel innerhalb eines literarischen Textes (Nebeneinander der Sprachen durch Zitate, Figurenrede, Mnemolexeme u.ä.) und Sprachmischung (Phantasiesprachen, Verballhornungen, phonetische Transkription u.a.) sind hier die gängigen Formen (vgl. dazu im vorliegenden Band Agnes Kims Beitrag zur Figurenrede im deutsch-österreichischen Drama). Diese manifeste Form kann sich auch als „Mehrschriftlichkeit“ äußern, wenn sie z.B. über kyrillische oder hebräische Buchstaben sichtbar wird (vgl. zu solchen Phänomenen im vorliegenden Band die Beiträge von Eva Hausbacher und Mariya Donska). Der Umgang mit anderssprachlichen Elementen ist häufig spielerisch, etwas das in Uljana Wolfs besonders markant ist, sich beispielsweise auch in Olga Martynovas Gedichtzyklus oder in Ilma Rakusas findet.
Dem gegenüber verzeichnet Blum-Barth folgende Typen (2) einer latenten Mehrsprachigkeit, die in der Tiefenstruktur eines Textes verortet, also palimpsesthaft und nicht unmittelbar wahrnehmbar ist: Unmarkierte Zitate oder Anleihen aus anderen Texten stehen hier neben „verdeckten“ Übersetzungen, Sprachlatenz und Sprachecho, es gibt also Einwirkungen auf die Grundsprache sowohl auf der lautlichen als auch auf der syntaktischen Ebene. Nicht nur erscheint Fremdsprachigkeit hier als ästhetisches Prinzip, sie durchdringt Texte vielmehr derart vielfältig, dass Monolingualität als Chimäre erscheint. Verstärkt wird das durch einen letzten Typus der Mehrsprachigkeit, die exkludierte Mehrsprachigkeit, der das eingangs mit Roelcke (2022) angeführte Ineinandgreifen individueller und politischer Dimensionen von Vielsprachigkeit abermals hervortreten lässt. Blum-Barth zufolge ist diese dann gegeben, wenn eine andere Sprache im Text thematisiert, aber nicht realisiert wird, z.B. in Form von Inquit-Formeln und Sprachverweisen (Olga Grjasnowas mit einer Dolmetscherin als Protagonistin ist hier ein einschlägiges Beispiel). In ihrem Beitrag in dem vorliegenden Band konzentriert sich Blum-Barth dann auf die biographische Seite und sucht nach Möglichkeiten, verschiedene Formen von mehrsprachiger Autorschaft zu typologisieren.
Innerhalb der manifesten Mehrsprachigkeit ist die in der Figurenrede die augenfälligste Form literarischer Mehrsprachigkeit. Sie kann unauffällig oder offensichtlich auftreten; Funktionen von Mehrsprachigkeit wurden v. a. dafür reflektiert: Ein Sprachwechsel in der Figurenrede ist beispielsweise Teil von deren Charakterisierung, wie das etwa in Romanen des 19. Jahrhunderts prominent ist, dient aber – man denke an Lev Tolstojs (1869, ) – auch einer Repräsentation der russisch-französischen...