Burger / Zumsteg Schilten
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00615-1
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Nagel & Kimche
ISBN: 978-3-312-00615-1
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unter dem pädagogischen Künstlernamen Armin Schildknecht arbeitet der dreißigjährige Peter Stirner im abgelegenen Dorf Schilten im Kanton Aargau als Lehrer. Allerdings unterrichtet er längst nicht mehr das, was der Lehrplan vorsieht. In der Schule neben dem Friedhof sinniert er in dem Bericht an seinen Vorgesetzten über Pädagogik, Tod, Erziehung und die Lebensphilosophie des Totengräbers. In seinem Debütroman von 1976, einem der wichtigsten Romane der Schweiz der Nachkriegszeit, zeichnet Hermann Burger minutiös eine Obsession und dabei so aberwitzig wie gnadenlos die Absurdität eines maroden Bildungssystems.
Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, war Publizist, Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredakteur. Nach der Publikation eines Gedicht- und Erzählbandes verhalf ihm das Erscheinen des Romans »Schilten« 1976 zum internationalen Durchbruch. Für den Roman erhielt er seine erste bedeutende Auszeichnung, den später für das Gesamtwerk abermals an ihn verliehenen Preis der Schweizer Schillerstiftung; es folgten 1980 der C.-F.-Meyer-Preis, 1983 der Hölderlin-Preis und 1985 der Ingeborg-Bachmann-Preis. Hermann Burger starb 1989 auf Schloss Brunegg.
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ERSTES QUARTHEFT
Die Schwierigkeit einer exakten Schilderung der Schiltener Lehr- und Lernverhältnisse hängt damit zusammen, dass die Beschreibung des Schulhauses, in dessen Dachstock meine Wohnung eingebaut ist, nahtlos in die Darstellung meines Unterrichts übergehen sollte, Herr Inspektor. So wie ich hier hause, doziere ich auch. Die klare Trennung von Schulsphäre und Privatsphäre existiert nur in den dumpfen Köpfen der Eltern meiner Schüler. Ich will und kann nicht zwei Leben nebeneinander leben. Absonderlichkeiten des Schulhauses sind Absonderlichkeiten des Unterrichts. Der Schulmeister von Schilten ist ein Scholarch.
Ich bedaure, dass Sie meiner wiederholten Einladung, unsere hinterstichige Landturnhalle zu inspizieren – und zwar im Morgengrauen oder an einem trüben Sonntagnachmittag, wie ich ausdrücklich verlangte –, nie Folge geleistet haben, Herr Inspektor. Ansonsten hätten wir nun wenigstens eine gemeinsame Turnhallenbasis. Überhaupt sind Ihre überfallartigen Blitzbesuche, Ihre Unterrichts-Stichproben in den letzten Jahren gänzlich ausgeblieben. Dies war ja Ihr berüchtigtes Vorgehen: an einem x-beliebigen Vormittag des Jahres in einem x-beliebigen Schulhaus Ihrer fetten Inspektions-Pfarre unangemeldet in eine x-beliebige Lektion zu platzen und einen Unterrichts-Pfropfen auszustechen. Gott weiß, womit ich Ihre Vernachlässigung – oder aber Ihr grenzenloses Vertrauen – verdient habe! Item, Sie haben Schilten ausgeklammert, links liegengelassen, und so bin ich auf den schriftlichen Dialog mit Ihnen angewiesen. Die zunehmende Verschriftlichung meiner Existenz ist, so paradox dies klingen mag, durch Ihr Inspektionsvakuum ausgelöst worden. So kommt es, dass Armin Schildknecht, vormaleinst Ihr Schützling in der äußersten pädagogischen Provinz dieses Kantons, jenen Schulbericht, der eigentlich von Ihnen erwartet würde, selber in Angriff nehmen muss, sozusagen als Explorand der hohen Inspektorenkonferenz, und dies umso dringlicher, als ja ein seit Jahren kunstvoll in der Schwebe gehaltenes Disziplinarverfahren gegen mich hängig ist.
Es wäre mir bei der vorgeschlagenen Besichtigung nicht um eine Kritik an den Geräten gegangen, welche diese Bezeichnung freilich kaum mehr verdienen, sondern um einen Stimmungsaugenschein, um eine kurze Stegreifbeurteilung des Geisteszustandes unserer Kleinturnhalle, die, ins Schulhaus eingebaut, immerhin das Gesicht der Nordfassade prägt, weshalb Sie, wenn Sie den steilen Schulstalden von Außerschilten nach Aberschilten hinauffahren, auf den ersten Blick nicht sagen können, ob Sie einen Profan- oder einen Sakralbau vor sich haben. Die fünf gleich großen, dreigeteilten Rundbogenfenster im Erdgeschoss scheinen eher zu einer Kapelle oder zu einem Missionshaus zu gehören als zu einer Lehranstalt. Das Glockentürmchen, das von der Mitte des Dachfirstes leicht gegen den Friedhof vorgerutscht ist, verstärkt diesen Eindruck, und die dunkle Palisadenwand des Schiltwaldes, der das sichelförmige Schilttal gegen Süden abriegelt, trägt das Ihrige zur Verschleierung der Turnhallenfassade bei. Eine Sektenkapelle mit halbamtlichem Einschlag, würde jeder Unvoreingenommene vermuten, ein Klausnerschlösschen. Die Nordseite ist die zwitterhafteste von allen vier Ansichten. Den Rundbogen widersprechen im Obergeschoss fünf hochrechteckige, für ein Unterrichtsgebäude etwas zu aristokratisch geratene Herrenfenster. Erst wenn man näher kommt, verraten die vergraste Weitsprung-Anlage und das durchgerostete Reckgerüst auf der kleinen, von einer zwerghaften Buchsbaumhecke eingefriedeten Turnwiese den wahren Charakter des Raumes, der sich hinter der Kapellenfront verbirgt. Man könnte allerdings von diesem Schindanger früherer, leichtathletischer Aktivitäten mit den beiden gelochten Marterstangen ebenso gut auf eine Leichenhalle schließen. Nicht weit gefehlt, Herr Inspektor, nicht weit gefehlt!
Wenn Sie durch das Hauptportal in den stichtonnengewölbten Schulhauskorridor treten, diesen Angsttunnel von unzähligen Schüler-Generationen, in dem es steinsüßlich und urinsäuerlich riecht, finden Sie linker Hand die Tür zum Unterstufenzimmer, rechts auf gleicher Höhe eine genau gleich große, gleich gestrichene und gleich beschriftete Tür, die einen gleich großen Unterrichtsraum vortäuscht. Öffnen Sie diese Tür unvorbereitet, als Schulhaus-Neuling, in Erwartung von Bankreihen und einer Wandtafel, tappen Sie in die gähnend leere Falle des Schiltener Gymnastiksaals. Sie befinden sich auf einer mit einer Holzbrüstung verschalten, knarrenden Galerie, von der fünf nicht minder knarrende Stufen in den Turnraum hinunterführen, und dieses Knarren ist bereits ein Symptom seiner Gemütskrankheit. Sie müssen sich vorstellen, wie das früher getönt hat, wenn eine Horde losgelassener Schüler diese Treppe hinunterstürmte. Der Blick fällt auf die spärlichen abgewetzten Geräte, welche durch die großen Rundbogenfenster, von denen vier gegen Norden, zwei gegen Osten gehen, viel zu viel Licht bekommen: ein Reckgerüst, vier Kletterstangen, zwei Barren, ein Schwebebalken, eine einteilige Sprossenwand, ein Klettertau, ein Lederpferd, ein wackliger Korbballständer. Das zweite Netz ist an der Galerieverkleidung festgeschraubt. Die drei vergitterten Lampen gemahnen an Arrestanten-Verhöre. Ein dick bandagiertes Rohr zieht sich der Decke entlang und stößt stumpf in die Mauer, hinter der die sogenannte Mörtelkammer liegt, zugänglich durch eine Tür neben der Treppe. Bis auf Fensterhöhe sind die Wände schabzigergrün gestrichen, in der Oberzone ist der ehemals weiße Verputz rauchig eingedunkelt. Der Geruch entspricht nicht etwa dem üblichen Turnhallengeruch, einer Mischung aus vergammeltem Leder, Bodenwichse und Magnesium, es riecht – weshalb, habe ich nie herausgefunden – nach Graphit, nach Abfällen, wie sie beim Bleistiftspitzen entstehen. Schülerspitzen, Bleistiftspitzen. Wer mit einer solchen, in den Proportionen total verrutschten Turnhalle unter einem Dach zusammenlebt, wird mit der Zeit rheumaempfindlich in Bezug auf das Schicksal schizophrener Räume. Der Eindruck von der Galerie aus täuscht. Ein heiteres Landschaftszimmer für Leibesübungen, denkt man, die Aussicht auf den Eisbaumgarten mit einbeziehend. Sobald man aber unten steht, barfuß auf dem grobspleißigen Riemenboden, wenn möglich im Morgengrauen oder an einem tristen Sonntagnachmittag, spürt man die kerkerhafte Enge, ahnt man den verderblichen Einfluss des benachbarten Friedhofs. Und die Schüler, Sie müssen sich in die Schüler hineinversetzen, Herr Inspektor, befinden sich immer unten. Hätten Sie meinem Aufgebot zu einem Stimmungs-Augenschein Folge geleistet, hätte ich Sie mit dem Tamburin in der Hand in die Schülerperspektive hinunterkommandiert, in eine dem Turnungemach angepasste Kauerstellung, und hätte Ihnen dann befohlen, sich an der äußersten der vier Kletterstangen hochzuziehen. Nicht wettkampfmäßig, versteht sich, ganz langsam, so schnell als es Ihr Kletterverschluss noch zugelassen hätte. Alte Turnlehrerweisheit: Mit einem guten Kletterverschluss kommt man durchs Leben! Nachdem Sie, falls überhaupt, oben angelangt wären, nach schülerhafter Klettermanier mit der freien Hand nach der weißen Marke tastend, hätte ich Ihnen vorgeschlagen, einen Blick aus dem Ostfenster zu werfen, um Sie fragen zu können: Was, Herr Inspektor, sehen Sie? Sie, Herr Inspektor, hätten mir zweifellos geantwortet: Den Friedhof. Vielleicht auch ausführlicher, je nach Kondition: Den Pausenplatz, die Güterwaage, die Straße, vier Scheinzypressen, dahinter den Friedhof. Das genügt, hätte ich gesagt und Ihnen erlaubt, wieder hinunterzugleiten, nicht wettkampfmäßig, auch nicht kopfüber, so sachte wie möglich, damit jegliche Blasenbildung an Ihren zarten Inspektorenhänden vermieden worden wäre. In einer von lockeren Freiübungen durchsetzten Turnhallen-Unterredung, Hüpfen, Grätschen, Liegestützen, Rumpfbeuge vorwärts und rückwärts, hätte ich Ihnen, vom Tamburinklopfen rhythmisch unterstützt, erklärt, gezeigt, bewiesen, dass seit Generationen jeder Schüler von Schilten – linkszwei, linkszwei, rechtszwei, rechtszwei, Herr Inspektor, Knie durchstrecken, mit den Fingerspitzen die Zehenspitzen berühren –, jeder Schüler von Schilten, der in den vorgeschriebenen 5,2 Sekunden das obere Ende einer Kletterstange erreicht, der aus der dumpfen grünen Saaldämmerung in die lichte Oberzone hochschnellt, womit belohnt wird? Mit der Aussicht auf den Schiltener Friedhof, den sogenannten Engelhof! Im leichten Laufschritt den abgenützten schäbigen Wänden und verbrauchten Geräten entlang wäre Ihnen sofort, schlagartig klargeworden, was ich meine: dass Turnen in Schilten, gleichviel ob es sich um körperliche oder geistige Ertüchtigung handle, nur ein mühsames Erklettern der Gräberperspektive sein kann. Mehr zu sagen wäre überflüssig gewesen, die landschaftliche und innenräumliche Antithese Friedhof –Turnhalle hätte für sich gesprochen. Es gibt Einsichten, die uns an Ort und Stelle treffen wie ein Blitz, während sie uns von ferne kaum als Wetterleuchten beunruhigen. Und ich hätte Sie so lange an Ort hüpfen lassen, bis Sie gesagt hätten: Sie haben recht, Schildknecht, entweder das Schulhaus oder der Friedhof, beides zusammen, beides nebeneinander geht nicht! Sie haben dermaßen profund recht, dass die Inspektorenkonferenz nicht aufhören wird zu tagen und über dem Traktandum Ihrer Person zu brüten, bis Sie in der Schul- und Gemeinde-Öffentlichkeit vollständig rehabilitiert sind, mehr noch: bis sich aus Ihrer Rehabilitation der süße Zuckerstock eines legendenhaften Nachruhms zu Lebzeiten formt. Da dem nicht so ist, da es mir trotz unzähliger Bitt-, Droh- und Mahn-Briefe nie gelang, Sie in diese Turnhalle zu locken, muss ich nun umgekehrt die Turnhalle samt dem...