Burger / Zumsteg Kurzgefasster Lebenslauf und andere frühe Prosa. Bork. Diabelli
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00613-7
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-312-00613-7
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Exzentriker sind sie, Hermann Burgers Helden. Schon in seinem ersten Geschichtenbuch ‚Bork‘ (1970) begegnen wir ihnen, und erst recht im zweiten, ‚Diabelli‘ (1979), einem Glanzlicht moderner Erzählkunst. Vom einen zum andern ist’s allerdings ein weiter Weg.“ Mit diesen Sätzen beginnt das Nachwort von Beatrice von Matt. In die Jahre zwischen den beiden Erzählbänden fallen Burgers Durchbruch als international gefeierter Autor, seine Selbstinszenierung zwischen Wortkunst und Magie, der Beginn seiner Depression und die Entfaltung einer intensiven schriftstellerischen und kulturjournalistischen Arbeit. In seinen Erzählungen zeigt der Autor aus der Schweiz die hohe Schule seiner Kunst: akribische Recherche, vollendete Sprachführung und abgründiger Humor.
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DER SCHNEE GILT MIR
Skizze Schnee fällt, der erste Schnee, kranker nasser Schnee, weicher Schnee. Erst hat es zu schneien begonnen. Aber er fällt kaum auf Jahresgrund, dieser Schnee. Es dauert noch lange, bis die Moose frieren. Alt und trächtig ist der Himmel, wolframweiß der Nachmittag und hat zu leuchten aufgehört. Ich sitze auf einer Bank in einem Park am Rande irgendeiner Innenstadt und lasse es schneien in mein Gesicht. Lasse mich fallen, wie Blätter fallen, Schneeflocken fallen; alles fällt. Auch Gesichter fallen, sinken zurück in die Erinnerung. Die Türme der Stadt stehen schweigsamer, schwärzer zeichnen sich die Eichenkronen vor grauem Himmel ab. Kahle, glatte Stämme, die es in jedem Park geben muss am Rande einer Innenstadt. Hydranten und Telefonkabinen blicken ernsthafter in die Adventszeit. Drüben, im Spitalgarten, wird der matschige Rasen mit leichtem Verbandstoff ausgelegt. Zu dieser Zeit gibt es keine Geschichten, weil man sitzen muss, schwer sitzen und sinken und zusehen, wie es schneit. Das ist das Schlimme: zusehen. Man wird älter davon. Irgendwo geht jetzt ein Mensch durch den Nachmittag und verliert seine Schritte hinter sich. Seine Spuren werden angeschneit. Immer mehr Flocken, immer mehr Schnee, fällt, sinkt. Wir sind am Rande des Wintermärchens. Es gibt keine Geschichten zu diesem Kron-Augenblick, bloß weißliche Niederschläge von Erinnerungen, die auf der Zunge zergehen. Ich lasse erzählen von den Flocken, die das erste Mal fallen dieses Jahr aus aschgrauem Himmel und verkleiden die ausgewaschenen Häuser der Stadt. Es hat keinen Sinn, die Flocken zu zählen. Tausende sind es, Abertausende, schon diesen Nachmittag. Zahlen! Wäre das eine Geschichte? Ich mache jeden Winter den Flocken das Fallen nach und werde in Städte geschneit, wo ich längst nicht mehr hingehöre. Aber das ist meine Adventsfreude. Es schneit. Altgrau der Himmel, bisweilen wolframweiß, die Türme der Stadt schweigen und stehen gegen ihn. Es schneit vor die Kaufhäuser der Stadt und vor ihre Schaufenster, die schon erleuchtet sind, weil der Himmel plötzlich grau wurde. Einem kleinen Jungen auf die Nase schneit es, weil er sie noch in die Luft streckt, auf seine Hand schneit es, die eine warme Hand drückt. Es schneit vor den Friedhofsmauern, gegen die im Sommer sich die Liebespaare drücken, mondvergessen. Es schneit aus offenen Polstern in eine Stadt hinein. Städte haben Straßen, die verzweigen sich, wie Bronchien der Lunge sich verzweigen. Straßen führen von innen nach außen ins schalenlose Weichbild der Stadt. In plansicherem Koordinatennetz legen sie sich über die Villenquartiere. Aber Straßen verlieren ihre Namen, wenn es zum ersten Mal schneit, wie soll man sich da zurechtfinden? Ich habe mir geschworen, heute nicht zu gehen, auf dieser Bank sitzen zu bleiben und es hineinschneien zu lassen in mich, weil ich früher oft gegangen bin, allzu oft. Und ich weiß, wohin das führt. Durch den spätherbstlichen Nachmittag strolchen, einen Schub schwarz-modrigen Laubes vor den Füßen, oder durch das erste Schneewetter streunen, frische Tritte setzen und immer neue Tritte in den Schnee, der schon krank ist! Nein. Zusehen, wie es treibt. Ich blicke hinüber zum Krematorium, das nicht arbeitet, aber umrisshaft steinschwer gegen den tief hängenden Himmel steht und den Schneefall. Nicht arbeitet, obwohl es Samstag ist. Die weit ausholenden Friedhofsanlagen verlieren sich hinter dem gequaderten Bau und hinter wetterfest grüßenden Tannengruppen, die sich, alle Jahre wieder, als Weihnachtsmänner verkleiden lassen. Etwas seltsam Theatrales weht herüber von der Krematoriumsanlage, ich denke an eine Bühne außer Betrieb, wo in den leer stehenden Kulissen heraufbeschworene Geschichte flüstert. Fast hätte ich Lust, vorbeizuschauen. Krematoriumsanlagen sind jedermann zugänglich und zu jeder Zeit. Ein paar hundert Schritte über den frisch zugeschneiten Rasen, Quartiersstraße querüber, durchs schmiedeeiserne Tor, am Gruß der Tannen vorbei. Doch nein, allzu morbid fallen solche Streifzüge aus, die nirgendswo enden, sei es denn im ausweglos gezirkelten Gedankengarten selbstischer Begräbniswünsche. Ich weiß, es gibt dort Obelisken aus weißem Marmor. Sie frieren stärker, als Stein friert. Obelisken mit fein verzweigter Äderung unter der Lasur. In die Erde geranzt stehen sie schief: Truggötzen heißer Länder. Schnee fällt auf die Grabsteine, aber zaghaft und in sanfter Mildtätigkeit gegen das kältere Material. Viel braucht es, bis die Kristalle in dieses Marmorbild einwilligen. Tastscheu setzen die Flocken über die Steinspargeln hinweg, und nur lose gestrickte Kappen haften an den Spitzpyramiden. Erst der Februarschnee wird diese Fremdkörper, und darunter die massivsten Quader, knietief stauchen. Ich weiß, es gibt dort filigrane Kreuze mit ovalen Apothekerschildern. Sie bewachen verkalktes Gift und Hader unter dem Wurzelwerk der Gräber. Dieser Anblick ist noch erträglich. Auch dass die Grabhügel süß riechen, weil sie das Laub verdauen, und von diesem ersten Schnee nicht zum Schweigen gebracht werden. Ich würde daran riechen, gewiss, auch die halbrohen Spiegeleier zwischen den gezuckerten Buchshecken kämen mir in den Sinn. Nur eines ertrage ich nicht: das Grinsen hinter der Bühne. Die weiß gekalkte Mauer mit den Feuerleitern, die in den Schnürboden steigen. Diesen Herbst war es, glaube ich, als ich einmal die Urnenhallen umging und dem Kuppelbau in den Rücken trat. Der Himmel war wässrig blau, Wolkenfetzen trieben ostwärts, kerzengerade stieg der Rauch. Ich setzte mich an das grün geflieste Bassin, vor dem der Bau rückseitig lagert, und starrte ins plexigrüne Wasser. Zu beiden Seiten standen mannshohe Taxushecken, zimtrote Wege umrahmten das knöcheltiefe Bassin. Hinter meinem Rücken sprang ein Wasser. Die Sonne zeigte sich flüchtig, dieser traumfremde Raum schien nur angeleuchtet wie ein Gewächshaus von innen. Da grinste der Bau. Er grinste vor sich hin ins Wasser. Er grinste unmerklich wie ein breit lagernder Buddha. Und ich erschrak, weil dieser Raum zu eng war für Geheimnisse. Ich erschrak, wie als ich das erste Mal hinter eine Bühne sah. Ich erschrak, wie als ich unvorbereitet eine Ziehharmonika öffnete und es laut schnaufen hörte. Aus Träumen kann man, darf man erwachen, nicht aber aus Räumen, die ein Geheimnis grinsend verwalten. Es wird kühler. Aber noch steigt mir die Kälte nicht in die Glieder. Durch den dichten Flockenvorhang blinzelt das Krematorium herüber. Auf meinen Schuhen bilden sich Pelzinselchen. Von der Stadt tönt gedämpfter Verkehr herauf. Das Zischen einer Fontäne. Dort wird der Schnee zu grauem Matsch gefahren. Die Leute stauen sich vor den Kaufhäusern. Hie und da auch vereinzelte Pfiffe der Rangierer von Osten her, wo die Wolken noch grauer hängen. Im Güterbahnhof wird es schneien. Die Signale wartend mit verschränkten Armen. Schnee vielleicht zwischen den Gleisdreiecken wie ein Triangel aus Pfeifenrisplern. Schnee vielleicht, eine einzelne Flocke, auf dem kaltklebrigen Teller eines Puffers. Schneeflocken tanzen den heranbrausenden Stirnen der Lokomotiven entgegen. Kein Schnee vor Tunnelportalen. Flockentanz um die Sichtscheiben der Stellwerke. Die Stimme aus dem Lautsprecher schluckt ein Loch durch das Gestöber. Güterzüge rappeln über das Gleisfeld. Schnellzüge warten. Die Kälte beginnt jetzt in den Adern zu schmerzen, natürlich bloß ein leichtes Ätzen, wir stecken ja noch nicht im Winter drin. Trotzdem beginne ich nun zu gehen, in Gedanken nur, versteht sich. Der Schnee ist zu neu, als dass ich ihn austreten könnte Schritt vor Schritt. Das ist meine Adventsfreude, die Gedanken wandern zu lassen, obwohl ihre Spuren tiefer sitzen als die von Tritten, und manchen Himmel voll Schnee brauchte es, sie nur halbwegs anzuschneien. Spuren, Erinnerungen haben weibliche Sohlengrößen. Weit zurück erkenne ich die Spuren eines Ganges, der hinausführt aus dem Park, worin ich jetzt sitze mit hochgeschlagenem Mantelkragen, über die mollige Wiese und am Krematorium vorbei führt er bis in eine Allee. Es sind meine Abdrücke, zweifelsohne, kaum kleiner als die, die ich heute von mir geben würde, aber ungleichmäßiger gesetzt. Ich hatte zu große Füße, damals. In eine Allee also sehe ich die Tritte einbiegen, von wo aus man im Spätherbst durch die zum Horizont sich verjüngenden Baumkronen das Meer erblicken könnte. Ich gehe, lasse mir die Flocken vors Gesicht treiben, setze meine Schritte wahllos vor die Füße und verliere frisch schneebackene Schalen hinter mir. Aber nichts will sich darein reimen, der Schnee ist zu flauschig. Früher, wenn ich durch den schweren Februarschnee stapfte, sammelte ich hinter mir her die Blaken, die sich von der Profilsohle lösten, und aß die dicken Schweizerkreuze heraus. Den Schuhen zuliebe. Ich liebte Schuhe, vor allem Winterschuhe. Meine hatten rote Schnürsenkel und am linken Rist einen Goldzahn. Später zwei, als ich sie mit eigens erspartem Geld zum Schuhflicker brachte. Ich muss aber weiter zurückdenken, an frühere Schuhe, bis sie immer schwerer werden, unförmiger, bootsmäßiger, und ich sehe mich auf einer Bank, auf einer jener niedlichen, immer blank geseiften Schuhbänke in Kinderheimen. Draußen wird schon angeschnallt. Wichsdunkel ist es im Schuhkastenvorraum. Ich mühe mich an den Nesteln ab. Einmal sollte man endlich das Schnüren lernen. Kinder gehen, bevor sie schnüren können. Ich sehe zwei ungleich große Schlaufen, nebeneinander. Aber keine Verknüpfung sehe ich, so sehr mir auch das Blut in den Kopf steigt. Vielleicht hat mir ein großes Mädchen geholfen, das Ursula heißen könnte. Das war in einem Winter. Aber noch weiter zurück folge ich meinen Schuhen bis zu jenen gestrickten Pantöffelchen,...