Burger / Zumsteg | Die Künstliche Mutter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Burger / Zumsteg Die Künstliche Mutter

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00616-8
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-312-00616-8
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach dem durchschlagenden Erfolg von „Schilten“ erschien 1982 Hermann Burgers zweiter Roman „Die Künstliche Mutter“, seine wohl waghalsigste Phantasie und Konstruktion. Darin reist der Privatdozent Wolfram Schöllkopf, der nach dem Verlust seiner universitären Arbeitsstelle einen Zusammenbruch erleidet, zur Kur in eine aufgelassene militärische Festung im Gotthardmassiv. Schöllkopf wird analysiert und einer abenteuerlichen Therapie unterzogen, an deren Ende die Erkenntnis steht: Erst im Tod ist das Leben endlich genesen. Ein episch-wuchtiger Roman, bitterscharfe Analyse der Schweiz, Satire auf Akademie und Psychologie – und zugleich der grandiose Versuch, mit den Mitteln des Erzählens einen Heilungsprozess in Gang zu setzen.

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I  ERMORDUNG EINES
PRIVATDOZENTEN
  1
  Nein: ich hatte in dieser zweiten Maiwoche nach dem verhagelten Muttertag, da die Eisheiligen Pancratius, Servatius, Bonifatius und insbesondere die Kalte Sophie ihr glaziales Symposium abhielten, noch nicht, wie vorgesehen, nach Göschenen einrücken können, zuerst musste, nach der skandalösen Semesterkonferenz der Abteilung für Geistes- und Militärwissenschaften der Eidgenössischen Technischen Universität, der Alma Mater Polytechnica Helvetiae, die ETU-Schmach getilgt werden, musste Wolfram Schöllkopf, daselbst Privatdozent für neuere deutsche Literatur und Glaziologie – diese Verbindung eines humanistischen mit einem naturwissenschaftlichen Fach entspricht einer alten Tradition der Fakultativfächerfakultät –, auf die Erdrosselung seines Lehrauftrags durch Dekan Wörner reagieren. Eine geschlagene Dreiviertelstunde lang stand Schöllkopf, der erbrechend aus der Konferenz gestürzt war, als gerade über die Verteilung von Ehrenadressen zum Anlass des ETU-Jubiläums diskutiert wurde, an der Toggenbalustrade des dritten Stockwerks, zwischen den Marmorbüsten der Schulratspräsidenten Bleuler und Gnehm, und fragte sich: Sollst du, sollst du nicht? Zu Häupten die Kassettendecke, tief unter ihm die Mosaikfliesen des von den Großauditorien umgebenen Pausenhofs, der Gullschen Halle, auch Ehrenhalle genannt, gegenüber der östliche Triumphbogen, der sich über die Estrade vor dem Auditorium Maximum wölbte, wo der mit der Venia Legendi Ausgezeichnete – denn es war tatsächlich eine Gunst, an dieser Höchsten aller Schweizerischen Hochschulen lehren zu dürfen – vor zweihundertdreiundzwanzig Personen seine Antrittsvorlesung über «Die Bedeutung der Gletscher in der Schweizer Gegenwartsliteratur» gehalten hatte. Stand Privatdozent Wolfram Schöllkopf, unweit vom Vorzimmer des Schulrats, des obersten Aufsichtsorgans, unweit von der Spannteppichresidenz des Präsidenten, immer noch Magensäfte speiend: Sollst du, sollst nicht? Man unterschätzte, von unten zur Decke emporblickend, die Höhe der Gullschen Halle, weil die oberen Stockwerke hinter die doppelgeschossigen Arkaden zurücktraten und somit der rosettengeschmückte Eierkarton frei über dem Hof zu schweben schien. Aber Schöllkopf wusste: fünfundzwanzig Meter genügten, einer bereits zerschmetterten akademischen Existenz den Rest zu geben, und es war richtig, der Kombinierten Abteilung für Geistes- und Militärwissenschaften diese Existenz samt der Venia, die fortan höchstens noch eine Schande des Lehrens sein würde, vor die Füße zu schmeißen. Sollten die Kollegen ihn da unten in der Ehrenhalle vom süßlichen Steinboden kratzen, nachdem das Vernehmlassungsverfahren betreffs Honoris-Causa-Adressen abgeschlossen war! Es war, und dies kränkte ihn am meisten, eine plumpe Intrige gewesen, welche zur Streichung seines Lehrauftrags in der Höhe von monatlich sechshundertsiebenunddreißig Franken brutto geführt hatte. Professor Stefan Schädelin aus St. Gallen, der neugewählte Militärhistoriker, von Haus aus ein Heer-und-Haus-Spezialist, hatte auf einer Konferenz, an der Schöllkopf krankheitshalber fehlte, den Antrag eingebracht, man müsse diesen Lehrauftrag «überprüfen», und das Wort «überprüfen» hört ein Dekan, der sich in einer chronischen Budgetkrise befindet, immer gern. Natürlich steckten ganz andere als finanzielle Motive hinter dem Schädelinschen Überraschungs-Angriff. Die militärwissenschaftliche Hälfte der Abteilung XIII sah es ungern, dass die Gletscher als topographische Bestandteile des Réduit-Verteidigungskonzeptes der Schweizer Armee von der jüngsten Literatur dieses Landes vereinnahmt und damit in ihrer erdgeschichtlich-strategischen Lage quasi ans Ausland, also an den Feind verraten wurden. Vom Milizhistoriographen Schädelin stammte der Satz: «Die Gletscher sind unsere Gebirgsinfanterie. Hätte Russland über ebenso viel Eis verfügt wie die Schweiz, Hitler hätte den Einmarsch nicht gewagt.» Wolfram Schöllkopf indessen hatte in seiner Antrittsvorlesung darauf hingewiesen, dass sich in der neueren Schweizer Literatur, welche sich in den sechziger Jahren behaglich am Jurasüdfuß eingerichtet habe, eine Tendenz abzeichne, die erstarrten Packeisfronten in den Alpen von unten her zu schmelzen, und das hatte sich natürlich unter den Militärwissenschaftlern herumgesprochen. Diese subversiven Literaten, so mochte es geheißen haben, unterwühlen nicht nur das Gesellschaftssystem, sondern rühren ans Heiligste: an die Naturabwehrkräfte, die Seine Eminenz, der liebe Gott persönlich, nach dem ja das Zentrum unseres Zentralalpenmassivs, der Gotthard, benannt ist, anlässlich der Erschaffung von Himmel und Erde für die künftige Eidgenossenschaft reserviert hat, exklusiv, streng geheim und vertraulich. Das war der Grund für die handstreichartige Rückeroberung von Wolfram Schöllkopfs Lehrauftragsstellung. Soll ich, soll ich nicht: PD heißt ja nicht nur Privat- und Pendeldozent, sondern auch Pedell und Professoren-Domestike, das absolut Infausteste, was es auf dem akademischen Pflaster gibt; die Herren Lehrstuhlinhaber konnten davon ausgehen, dass sich ein Edelreservist, der darauf angewiesen ist, dass die Venia Legendi alle vier Semester erneuert wird, schon ducken würde und in die Kappe scheißen ließe, aber er, Schöllkopf, nein, er nicht. Es gab zwei Möglichkeiten: diesen Schädelin standrechtlich abzuknallen oder auf den grießgrauen Fliesen der Gullschen Ehrenhalle zu zerschellen, mit dem Pausenläuten, das durch die zwielichtigen Stollengänge der Semperschen Polytechnikums-Festung schrillte, zugrunde zu gehen. Der Diskussion über Ehrenadressen ein vorzeitiges Ende bereiten mit dem Skandal eines Privatdozenten-Suizids. Freilich, so sagte der Germanist in mir und nicht der Glaziologe, wäre es ein Pleonasmus, dem Mord von außen einen Mord von innen folgen zu lassen. Aber wie weiterexistieren, mit der Aussicht auf eine Kur in Göschenen-Kaltbad? Dekan Wörner, Strafrechtler, hatte sich den Schädelinschen Antrag unterjubeln lassen und ohne jede Vorwarnung in der Traktandenliste, die ohnehin viel zu spät verschickt worden war, in der üblichen Schlamperei jener ETU-Dozenten, welche, mit Nebenämtern überlastet und Nebeneinkünften vergoldet, die Bürde der Abteilungsvorsteher-Würde wider Willen, durch das Anciennitätsprinzip dazu gezwungen, auf sich nahmen, die Konferenz zum Semesterbeginn mit dem Vorschlag überfallen – Herr Kollega Schöllkopf darf ruhig zuhören und im Saal bleiben –, meinen Lehrauftrag im Rahmen der Sparmaßnahmen zu streichen. Alle müssten kürzer treten und den Gürtel enger schnallen et cetera: pikanterweise lag gleichzeitig ein Antrag Schädelins für drei Stellvertretungen auf dem Tisch, denn der knapp Vierzigjährige hatte sich bei seiner Wahl als Provision ein Urlaubssemester eingehandelt, um seine Habilitationsschrift – man höre und staune: Nachhabilitation eines Ordinarius – «Die Dissuasionswirkung der Schweizer Armee im Rahmen der Sicherheitspolitik des Bundes» – in Ruhe, also ohne die lästige Verpflichtung von fünf Wochenstunden, fertigschreiben zu können. Es gab kein Votum, in eigener Sache zu Wort melden konnte ich mich nicht, verbal befand ich mich im Ausstand und psychisch in einer Katastrophe, ich hätte ohnehin keine Silbe über die Lippen meiner cardialen Gipsmaske gebracht. Man schritt flott zur Abstimmung, und das Resultat, o Wunder und Pech für das Intriganten-Duo Wörner/Schädelin, lautete neun zu sieben gegen den Antrag des Dekans, bei fünf Enthaltungen und einem Dutzend Absenzen, also für Beibehaltung des Schöllkopfschen Engagements, das ohnehin von Semester zu Semester neu bestätigt werden musste. Nach gut demokratischer Gepflogenheit beugte sich Professor Wörner – Schädelin fehlte entschuldigt – der Mehrheit, indem er das Traktandum, das laut Liste keines war, vorläufig zurückstellte, um dann unter Verschiedenes und Umfrage, geschickt vor die Aussprache über Ehrenadressen manövriert, nebenbei zu Protokoll zu geben: Sie haben also, wenn ich das recht verstanden habe, in der Angelegenheit Lehrauftrag Schöllkopf mit neun zu sieben zugestimmt. Allgemeines Kopfnicken der in irgendwelche Gutachterpapiere vertieften Fachifizenzen, plus mal minus ergibt minus; sie hatten aber nicht dem Schachzug des Winkeljuristen, sondern der Prolongierung meiner bezahlten Stunde zugestimmt – minus mal minus gleich plus –, also war mit einem billigen Trick an einer Universität, die berühmt war für ihre Kapazitäten auf dem Gebiet der höheren Mathematik, dieses Lehrauftragsattentat an einem Privatdozenten ins Protokoll hineingeschmuggelt worden. Mein wichtigster Lehrer und Förderer, Professor Walter Kern, der Gute Gott der ETU genannt, hätte sich dreimal im Grab umgedreht, wenn er diese Gaunerei von seinem Friedhof aus mit angesehen hätte, das Knarren des Sarges wäre durch das dicke Zyklopengemäuer der Nordfassade gedrungen mit den Sgraffitos, welche Aufbau und Aufgaben der Eidgenössischen Technischen Universität allegorisierten: zwei beflügelte Standartenträgerinnen versprachen dem Studenten, der diese Bildungskasematte in mattem Basaltgrün zu sprengen versuchte, dass unter den Auspizien der Eidgenossenschaft in gegenseitigem Einvernehmen von Wissenschaft und Kunst alle Sparten vom Bauingenieurwesen bis zum Militärwesen, ergänzt durch humanistischen Zuckerguss, in interdisziplinärem Föderalismus, für den die Girlanden der Kantonswappen unter dem Dachvorsprung bürgten, sine ira et studio gelehrt werden würden. Über den Fenstern des Erdgeschosses siebzehn Zelebritäten von Homer bis Newton. Und was hatte Seneca, vom gesprengten Segmentgiebel des Nordportals...


Burger, Hermann
Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, studierte Germanistik und promovierte mit einer Arbeit über Paul Celan. Bereits als Student debütierte er 1967 mit der Gedichtsammlung Rauchsignale. Sein vielbeachteter erster Roman Schilten erschien 1976. Burger war außerdem Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredaktor. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. 1989 starb Hermann Burger auf Schloss Brunegg im Aargau an einer Überdosis Medikamente.

Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, studierte Germanistik und promovierte mit einer Arbeit über Paul Celan. Bereits als Student debütierte er 1967 mit der Gedichtsammlung Rauchsignale. Sein vielbeachteter erster Roman Schilten erschien 1976. Burger war außerdem Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredaktor. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. 1989 starb Hermann Burger auf Schloss Brunegg im Aargau an einer Überdosis Medikamente.



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