Burger / Zumsteg Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Tractatus logico-suicidalis
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00620-5
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-312-00620-5
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hermann Burger war, allem voran in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung, ein wortreicher Erläuterer des eigenen schriftstellerischen Werks. Minutiös und erhellend berichtet er über seine Arbeitsmethoden, seine An- und Einsichten zur Schweiz und über die Recherchen zu seinen literarischen Texten, er reflektiert die Existenzform des Schreibens und schließlich, in seinem berühmten Traktat, das in Form von Aphorismen aufgebaut ist, über das Verhältnis von Kunst, Tod und Leben.
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WAS MIR DIE RÜEBLILÄNDER
METROPOLE BEDEUTET
Ein lokalpolitisches Feuilleton Kürzlich wurden ein paar Aargauer Autoren von der Redaktion des Badener Tagblatts aufgefordert, sich zum Stichwort «Baden» zu äußern, in freier, improvisatorischer Art, was mich denn auch dazu reizte, dem Badener Stadtrat die Schaffung eines poetischen Stadtschreiberpostens zu anempfehlen, aber natürlich kann es nicht in Frage kommen, die Bäderstadt, in deren Schwefeluntergrund ich fragmentarische Reste der europäischen Bordellkultur mehr rieche als vermute, einfach so anzuschwärmen, ohne Aaraus zu gedenken, denn schließlich verdanke ich der Stadt der schönen Giebel mehr als Baden, so viel, dass endlich wieder einmal eine Liebeserklärung fällig ist, dies 16 Jahre nach meinen ‹Blauschwarzen Liebesbriefen›, neu aufgelegt im soeben erschienenen Band Als Autor auf der Stör. Als ich die Bezirksschule in Menziken absolviert hatte, woll-te ich eigentlich, meinem ursprünglichen Talent folgend, in ein graphisches Atelier eintreten und den Beruf eines Graphikers lernen, was ein psychologischer Berufseignungstest in Zürich verhinderte, es gehe, so meinten die Kapazitäten, nicht ohne Mittelschule, also gab ich dem Ruf nach Aarau nach und wohnte als möblierter Studiosus in jener Stadt, in der ich am 10. Juli 1942 um 6.45 Uhr das Licht der Welt erblickt hatte, notfallmäßig, als völlig verquerte Zangengeburt, so aber in den Genuss meines ersten Maienzugs kam, der zunächst nach dem Schönwetterprogramm, gegen Abend eines verheerenden Hagelschlages wegen gemäß der Schlechtwettervariante ablief, die Natur meldete sich also elementar zu Wort, nicht minder elementar als vor fünf Wochen, als ein Blitz in mein Dachstudio auf Brunegg einschlug und mich nur verfehlte, weil ich mein Kolleg an der ETH hielt. Weil ich hier zur Welt kam, ist und bleibt Aarau für mich im höheren Sinne eine «Weltstadt», mondialer als Paris, London und Rom. Zu Hause im Menziker Park an schönen Sommerabenden, wenn sich stumpenländisch provinzielle Langeweile breitmachte und wir beim Genuss einer Havanna fragten, was unternehmen wir jetzt, schlug ich immer wieder einen Ausflug nach Aarau vor. Mein Vater lachte dann und fragte: «Was um Himmels willen zieht dich nach Aarau?» Meine Familie war allenfalls nach «Luzern ie», wie es mundartlich heißt, nach «Züri use», aber nicht nach «Aarou abe» zu locken. Aarau war eben, was die Eltern wohl wussten, aber nicht teilten, meine «Studierstadt», lange vor Zürich und Berlin, deshalb rangiert sie auch heute noch vor diesen vermeintlich so viel attraktiveren Konkurrentinnen. Aarau, das war auch der «erste Kuss» im Rathausgarten, dargeboten von einer Coiffeuse-Lehrtochter, die, bevor sie ans Werk ging, den Kaugummi aus dem Mund nehmen musste. Was Wunder, dass der Kuss weniger nach Odol als nach Bazooka schmeckte, dass ich fortan Bazooka stangenweise schiggte, dass ich auch heute noch darauf bestehe, mir die Haare von weiblicher Hand schneiden zu lassen, dass Frisiersalons für mich etwas zutiefst Erotisches haben, darin sogar die ominösen Massage-Etablissements übertreffend. Was Wunder, dass kein späterer auch noch so blonder Kuss diesen Urkuss übertroffen hat, seine Süßigkeit, sein Ambra wird vielleicht dann noch einmal anklingen, wenn wir in einem Klinikbett – aber bitte nicht in der Schwarzwaldklinik – die schon dürren Lippen zum letzten Mal spitzen, das Leben liebt solche Symmetrien. Aarau, das war der Schachen, war ein Handballfeld, auf dem sich in den fünfziger Jahren anlässlich von Kadettentagen die einheimische Bezirksschülermannschaft und Lenzburg ein, ich kann nicht umhin, es so zu nennen, wahrhaft göttliches Spiel lieferten, weitmaschig, trickreich, überfallartig, hochklassig, BTV-reif, eine Partie, die ich deshalb so neidisch verfolgte, weil ich ein miserabler Turner, ein Bewegungsidiot und ein skandalöser Kadett war, mein späterer Freund Kurt Oehler spielte mit, desgleichen mein späterer Bandleader Peter Hiller und ein dunkelhäutiger Bursche, in den sich sogar Thomas Mann verliebt hätte; es kann nicht anders sein, als dass aus dieser Schülermannschaft einige Internationale hervorgegangen sind, und mir prägte sich mit heraldischem Nachdruck ein: Aarau, das ist eine Handball-, keine Fußballstadt. Da sieht man nur, wie sich die Zeiten geändert haben! Aarau war und ist der Sitz der Rentenanstalt, in deren Diensten mein Vater als erfolgreicher Versicherungsinspektor ein Leben lang stand, und zu Hause in Menziken galt die Regel, dass die sonst immer offene Bürotür geschlossen werden musste, wenn «Aarau» am Apparat war, und genau wie im Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz der Vater von Siggi Jepsen in Rugbüll in den Hörer schreit, um alle Distanzen zu überwinden, so sprach auch mein Vater in voller Lautstärke, sein Partner war ein Herr Dubs, später Herr Dr. Moser, wir Kinder lauschten an der zigarrenbraun geflammten Tür und erhaschten rätselhafte Fachtermini wie «Risikorente», «Mortabilitätstabelle», «Überschüsse», «Doppelauszahlung im Todesfall», und das alles hatte zentral mit Aarau zu tun. Wenn mein Vater «nach Aarau musste», das nicht in seinem Rayon lag, war damit immer die Existenzgrundlage unserer Familie berührt, nicht selten kam er mit hochrotem Kopf von einer solchen «Konferenz» zurück, seltsam genug, dass die kurven-, hindernis- und entbehrungsreiche Wynentaler Strecke es nicht vermochte hatte, die Röte der Wut oder Scham zu vertreiben, und wenn dann noch eine Beinahe-Kollision mit der privatbähnlerisch-eigenbrötlerischen, damals noch blau-grauen WTB zu vermelden war, war «der Zapfen ab». Aarau, das ist meine unvergessliche Kantonsschulzeit in jenem staubigen, altdeutschen Kasten, dessen Architektur mich immer an Anker-Bausteine erinnert. Hier schwitzte ich an der schriftstellerischen Aufnahmeprüfung wie weiland Hermann Hesse am Schwäbischen Landexamen, hier schrieb ich mein erstes Stück Prosa, ‹Beobachtungen bei Kleintieren›, eine «Kurzgeschichte» mit dreifacher Brechung, der Vater überwacht den Sohn, der Sohn zeichnet die Katze, die Katze beobachtet die Kanarienvögel, die der Vater dem Sohn zum Geburtstag geschenkt hat, beide sehen sich in der Annahme getäuscht, die Katze fresse die Vögel, sie lässt sie leben. Note 6, blank und ohne Kommentar, ein schriftstellerischer Anfang. Mein späterer Deutschlehrer, Professor Bagdasarianz, förderte meine Neigung, wo immer er konnte, und als wir nach einer endlos kräftezehrenden Schulreisewanderung alle hinter dem Heutraktor herrannten, auf dem er sich das letzte Stück fahren ließ, als alle gleichzeitig aufsitzen wollten, vertrieb er meine Mitschüler mit dem Stock, machte mir Platz und sagte: «Only for poets.» Ich kann von daher das boulevard-publizistische Gezeter, im Aargau würden alle Talente verkannt, überhaupt nicht verstehen. Wir Schriftsteller auf jeden Fall fanden im Kulturkanton die besten Startvoraussetzungen. Aarau, das ist, leider muss es gesagt werden, die Infanteriekaserne und die Balänenturnhalle. Auch im adretten Himbeereiston hat das Drillgebäude nichts von seinem Schrecken eingebüßt, es ist Gott, obwohl es ihn so, wie die Pfaffia behauptet, sicher nicht gibt, höchlichst zu danken, dass er mir die Infanterie-Tortur in Aarau ersparte, im Herzen dieser geliebten Welt- und Studierstadt dem Kommando «Laufschritt, marsch» oder «Gewehr bei Fuß» gehorchen zu müssen, hätte mich der Rüebliländer Metropole ein für allemal entfremdet, und jedes Mal, wenn ich einen Zug Kampfsäcke den Fußgängerstreifen in der Laurenzenvorstadt überqueren sehe, frage ich mich ernstens, womit ich es verdient habe, dass dieser Kelch an mir vorüberging. Als Aarauer Infanterist wäre ich glatt vor die Hunde gegangen, als Panzerfahrer in Thun konnte man ins Technische ausweichen und lernte wenigstens, wie ein Motor funktioniert. Die Schmach, die ich in der Balänenturnhalle unter der Pfeife «Ösci» Webers vor allem an den Geräten erleiden musste, ist mit dem Prosastück ‹Über Turnhallen› (unveröffentlicht) und mit den Turnhallen-Kapiteln in Schilten getilgt worden, dessen ungeachtet möchte ich auf keinen Fall meinen Hinterbliebenen eine Turnhallenabdankung zumuten, ein Brauch, der im Schulhaus Schiltwald noch immer in Kraft ist. Nun war der «Ösci» durchaus ein Bodybuilder der milden Observanz, ich kann im Großen und Ganzen sagen, dass er mit den «gschtabigen» Badener BBC-Söhnen und mit mir eine Art Erbarmen hatte, schon gar im Telli-Bereich, wo es ein Leichtes war, sich in einem Gebüsch zu verschlaufen. Vor Orientierungsläufen der Aare entlang machte ich meine gastrischen Beschwerden geltend und las ungeschoren im mitgenommenen Reclam-Heftchen. Dann gönnte er uns trotz Handballprimat viel Fußball, ein Spiel, bei dem ich einen leidlichen Rechtsaußen abgab. So war die Balänen-Kaserne zwischen Hoffen und Bangen doch irgendwie verkraftbar. Aarau, das ist, natürlich, wie könnte man sich daran vorbeimogeln, der immer wieder tränenrührende Maienzug mit den zylinderschwenkenden Honoratioren, den Kornblumenkränzchen, den weißen Röckchen in den unteren, den galanten Garderoben in den oberen Jahrgängen, mit den immer an Ort tretenden Couleurbrüdern, mit «Alt Heidelberg, du schöne …», mit der Buchser, der Rohrer, der Küttiger Harmonie, mit Glockengeläute und Fahnenpracht, was die Wetterkonferenz, die Wurstprobe und die Bankett-Querelen betrifft, ist alles schon hundertmal beschrieben worden in den poesiereichsten Spalten, die eine Zeitung aufzuweisen hat, im Lokalteil. Alles Übrige kann man vergessen, das Ausland, das Inland, die Wirtschaft, die Kultur, meinetwegen auch den Sport, auf den ich zwar ungern...