Burger / Zumsteg | Blankenburg. Unglaubliche Geschichten und andere späte Prosa. Der Schuss auf die Kanzel | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Burger / Zumsteg Blankenburg. Unglaubliche Geschichten und andere späte Prosa. Der Schuss auf die Kanzel

Erzählungen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00614-4
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-312-00614-4
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die in den letzten Jahren seines Lebens erschienenen Prosabände zeigen Hermann Burger, einen der bedeutendsten Schriftsteller der Schweiz, auf der Höhe seiner Erzählkunst. Wie in seinen frühen Erzählungen sind die Helden der Geschichten in „Blankenburg“, „Der Schuss auf die Kanzel“ und in den „Unglaublichen Geschichten“ Sonderlinge, die auf die Seltsamkeit der Welt mit selbst entwickelten Ordnungssystemen reagieren, oder an Leib und Seele erkrankte Wortkünstler, deren Befreiungsversuche keineswegs immer schlecht enden. Wesentlich ist den Erzählungen Burgers stets ein abgründiger Humor, der die Lektüre bei all den traurig-heroischen Schicksalen der Figuren zu einem außergewöhnlichen Vergnügen macht.

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DER PUCK
  Ein Eismärchen   Nach einer föhnigen ersten Dezemberwoche, die nur Kopfwehschnee gebracht hatte, Kandiszucker an den Straßenrändern, sank das Thermometer und blieb auf zehn Grad minus sitzen. Die Bise trug dazu bei, dass Teiche und Tümpel noch vor Weihnachten zufroren, so dass man bereits am Stephanstag ans Eishockeyspielen denken konnte. Auf dem Estrich band ich mein Stockblatt mit schwarzem Isolierband ein. Die Klammerschlittschuhe hingen an einer roten Schnur im Gebälk, zwischen Zwiebeln und stiebenden Melissenstauden. Diese Angstgerüche alter Bubenverstecke: Dörrobst, Mottenkugeln und Kernseife. Leider hatte ich wieder keine Hockeystiefel bekommen. Mein Vater, der mit den Kufen über den See gelaufen war, fand, sie täten ihren Dienst noch lange. Ich musste mit dem Winkelschlüssel beinahe die rostigen Gewinde vermurksen, bis sich die Backen bewegten, und nahm mir vor, die Eisen bei Gelegenheit geschickt zu verlieren, denn sie waren wie alles in unserem Haus gut versichert. Alle hatten Stiefel seit Weihnachten, Luchsinger sogar rote mit Beinstützen. Im Tor konnten sie mich vielleicht dennoch gebrauchen, als Lückenbüßer. Der Puck in der Schuhschachtel: ich wog ihn in der Hand. Sollte er mit? Nein, sagte ich mir, er ging ja doch nur verloren, und dann war ich der Dumme. Ein grauer Nachmittag. Ich gabelte meine Kufen auf, bei denen es sich nicht einmal mehr lohnte, den Hohlschliff zu erneuern, und schulterte den Stock. Stein und Bein gefroren. Die Bäume in ihren Gichtkronen sahen aus wie verhexte Nebelscheuchen. Ich hatte vor, zur Kiesgrube hinaufzugehen, denn die Lehmwassertümpel auf den Schuttkegeln unterhalb des Schmulzenkopfes waren beliebte Spielfelder. Das Eis über dem gelben Brei war zwar dünn, doch es hielt. Nur wenn man zu hart mit dem Stock schlug, kam es vor, dass einer mal einen Schuh voll Lätt herauszog. Sicher hatten die Burschen schon Mannschaften gewählt und angefangen. Spielten sie nicht in der Grube, dann freilich mussten die alten Feuerweiher auf der Hochebene zugefroren sein. Seit Jahren waren sie nicht mehr freigegeben worden. Am Ausgang des Maschinenwäldchens verließ ich den harten Fußweg und stieg hinauf zur Straße, wo ich das ganze Kiesareal überblicken konnte. Kein Knochen weit und breit. Die graupeligen Lehmaugen wurden überragt vom Schotterturm, dessen geborstene Bretterverschalung von einer dicken, graugrünlichen Mehlschicht überzogen war. Ein Schrägaufzug mit ausgerenkter Wanne führte bis dicht unters Wellblechdach. Im Innern der abbruchreifen Bude konnte man verschmierte Bestandteile des Schwingsiebs erkennen. Die Werkstraße führte zwischen den Kiesbergen durch und verlor sich im Abbaugebiet. Zuhinterst eine Baracke, ein festgerammter Löffelbagger. Darüber türmte sich die offene Wand des Schmulzenkopfes. Überhängende Wurzelnester. Es war so still, dass man das Regnen der Steine hörte, die über die Eisbärte auf den Geröllkegel kollerten. Die Wracks der Raupenfahrzeuge und Kamintraktoren wirkten wie Trümmer auf einem Schlachtfeld, als ob die Grubenmannschaft mit ihren ungelenken Sauriern und gezahnten Brechschaufeln unermüdlich gegen die Wand angerannt wäre, bis alle Motoren verreckten. Die Lust zu einem Spaziergang durch die verlassene Kiesgrube war da, doch dann packte mich wieder das Spielfieber, in Gedanken kombinierte ich schon mit Luchsinger, rote Linie, blaue Linie, obwohl wir die Feldabschnitte nie markierten, dafür war bei uns der Winter zu kurz. Ich nahm den Weg durch den Bleiwald, stapfte den Bach entlang, der dumpf zwischen bizarren Eisknollen gurgelte. Weiter oben trat er aus der mannshohen Röhre, die unter dem Kehrichthügel durchführte. Man nannte den gekrümmten Tunnel Rohrnudel, und er war immer wieder Schauplatz nächtlicher Mutproben. Man konnte ihn nur bezwingen, wenn man sich, mit dem Rücken zur Wand, seitwärts Schritt für Schritt vorantastete auf dem schmalen, glitschigen Rand des Kännels. Rutschte man aus, schwemmte einen der Bach bis zum Tanzenbein hinunter. Nach einer knappen halben Stunde stand ich oben auf der Straße, die sich schnurgerade von den Berghöfen her zwischen den beiden Weihern durchzog. Unten im Tal die Rangiergeräusche auf dem Güterbahnhof. Puffer klirrten aufeinander. Über der Hochebene lag ein bissiger Rauch von Kälte. Nur als schwache Kulisse erkannte ich den Stierenberger Wald, die Lücke mit dem grauen Reservoir. Am großen Weiher vorbei, dessen Böschung rechter Hand steil anstieg, eilte ich zum unteren, der die Form eines diagonal abgeschnittenen Ovals hatte und auf der Bösmatt lag, jener Wiese über dem Steilhang des Bleiwaldes, auf der sich die Amateurreiter der Gegend auf die Springkonkurrenzen vorbereiteten. Fragmente eines Stangenoxers im Reiffeld, zwei ausgetretene Trabkreise. Gespielt wurde auf dem unteren Teich, weil der obere des einlaufenden Baches wegen selten ganz zufror. Von weitem schon hörte ich das Knallen des Pucks und sah ich die Mützen und Pullover der Burschen durcheinanderwirbeln. Doch keiner bemerkte mich, als ich das Bord hinunterschlitterte, durch das verharschte Schilf trat und auf Kauers Tor zuging. Es war mit zwei Steinen markiert. Das Eis dröhnte von den Kufen. Wie erwartet: alle hatten Hockeystiefel an. Luchsinger führte das große Wort. Er hatte den schnellsten Antritt und den härtesten Schuss. Den Torhüter auf der andern Seite erkannte ich nicht, es musste ein Ersatzmann sein. Großartig, wie Luchsinger seine Gegner mit Körpertäuschungen stehen ließ. Er übersetzte links- und rechtsherum, vorwärts und rückwärts kurvend. Rot, seine Mannschaft, lag im Rückstand, wie ich bald erkannte an seiner hastigen Abwehr. Öfter als gewohnt musste er in der Verteidigung aushelfen. Vielleicht lag es nur daran, dass die Blauen einen Mann mehr auf dem Feld hatten. Als der Puck weit neben dem Tor ins Schilf flitzte, schwenkte ich den Stock und rief: «Luchsinger, kann ich mitspielen? Ihr habt doch einen zu wenig!» Luchsinger kurvte herbei und stoppte dicht vor mir. Eismehl stäubte auf. Er prüfte meine Schlittschuhe. «Mit diesen Großvatereisen? Kommt gar nicht in Frage. Eine Niete auf Entenfüßen hat uns gerade noch gefehlt bei diesem Resultat. Verschwinde! Auf dem Lehmweiher ist genug Platz für Anfänger.» «Aber im Tor, Luchsinger, spielen doch die Schlittschuhe keine Rolle. Kauer könnte auf dem Feld mehr leisten.» «Gerade dort», rief der Captain davonschwingend zurück, «kommt es auf einen guten Stand an. Du fällst doch beim ersten Schlagschuss auf den Arsch!» Der Puck war wieder im Spiel, Luchsinger baute den nächsten Angriff auf. Es war zum Verzweifeln! Weshalb wollte mein Vater nicht endlich einsehen, dass es ohne erstklassige Ausrüstung nicht mehr ging. Wenn ich klönte, Kauer habe Stiefel und Bertschi auch, sagte er gleichgültig: Wir sind nicht Kauers und nicht Bertschis. Immer hieß es: wir sind nicht die andern. Und zu spüren, dass wir nicht die andern waren, bekam ich es, einzig und allein ich. Mit dem Velo war es dasselbe. Alle – oder fast alle – besaßen Halbrenner, während ich Samstag für Samstag eine schwere englische Vorkriegsmaschine auf Hochglanz polierte. Fehlte nur noch, dass sie ein Kleidernetz hatte wie die Damenräder. Radball, ja, aber dafür gab Vater den Klepper nicht her. Ich stand hinter Kauers Tor, die Schlittschuhe immer noch über die Schulter gehängt, und trat von einem Fuß auf den andern. Eine Bärenkälte. Ich machte Fäuste in den Hosensäcken. Wir nannten den Schmerz Kuhnägeln. Er begann in den Fingerspitzen und bohrte sich durch die Hände, bis sie nichts mehr greifen konnten. Man musste sie zu Hause unters eiskalte Wasser halten, und es fühlte sich lauwarm an. Weshalb blieb ich da, was hatte ich auf dem Feld noch verloren? Der Augenblick war verpasst, da man einfach abhauen konnte, als ginge einen das Spiel nichts an. Man kämpfte mit den Tränen und machte sich je länger desto lächerlicher. Die Dämmerung begann früh. «Bürgerliche Dämmerung», hatten wir in der Geographie gelernt: solange man Zeitung lesen kann bei Tageslicht. Drüben im Rauch die tiefen Dächer der Berghöfe. In der Scheune brannte ein Licht. Das Reservoir unterhalb der Waldschneise war kaum mehr aus dem Grau herauszulesen. Da tauchte das laubfleckige Gesicht Konrads wieder auf, sein blutender Mund. Ich erinnerte mich an die Szene nach der Schnitzeljagd. Luchsinger wollte mit dem Bau der Baumhütte beginnen. Konrad, mein Cousin, hatte die Mutprobe, die ihn zum Bandenmitglied gemacht hätte, noch nicht bestanden. Wir lungerten auf dem Flachdach des Wasserreservoirs herum. Luchsinger hatte manchmal herrische Launen. Plötzlich befahl er: Spring hinab, dann bist du dabei! Und als Konrad sich schon bereitmachen wollte: mit verbundenen Augen natürlich. Er selber band ihm das schwarze Tuch um. Konrad sprang, tief ins Gras, kaum hörte man den Aufschrei. Laut rauschte der Betonklotz. Luchsinger rannte die seitliche Böschung hinunter, wir ihm nach. Der Arm war ausgerenkt, schien sogar gebrochen zu sein. Konrad würgte und würgte, als hätte er eine Kröte im Hals. Luchsinger totenbleich: So sag doch, wo tut’s dir weh, so sag doch! Es gab eine lange Untersuchung. Konrad hatte die Sprache und den Verstand verloren. Er kam ins Spital und später in eine Heilanstalt. Luchsinger hatte Zeugen genug dafür, dass mein Cousin freiwillig gesprungen war. Er habe zur Bande gehören und an der Baumhütte mitbauen wollen. Mich überstimmten sie mit der Faust im Hosensack, bevor ich den Mund aufmachte. Das Eishockeyspiel wurde immer ruppiger, weil die Blauen den knappen Vorsprung hielten. Wild hieb Luchsinger auf die Stöcke seiner Gegner ein, wenn sie ihm den Puck abnahmen. Die Fehlpässe häuften sich. Das Geschrei der Burschen flaute ab, die Flüche...


Burger, Hermann
Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, studierte Germanistik und promovierte mit einer Arbeit über Paul Celan. Bereits als Student debütierte er 1967 mit der Gedichtsammlung Rauchsignale. Sein vielbeachteter erster Roman Schilten erschien 1976. Burger war außerdem Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredaktor. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. 1989 starb Hermann Burger auf Schloss Brunegg im Aargau an einer Überdosis Medikamente.

Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, studierte Germanistik und promovierte mit einer Arbeit über Paul Celan. Bereits als Student debütierte er 1967 mit der Gedichtsammlung Rauchsignale. Sein vielbeachteter erster Roman Schilten erschien 1976. Burger war außerdem Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredaktor. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. 1989 starb Hermann Burger auf Schloss Brunegg im Aargau an einer Überdosis Medikamente.



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