Burckhardt Digitale Renaissance
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8493-0331-0
Verlag: Metrolit Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz
Manifest für eine neue Welt
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-8493-0331-0
Verlag: Metrolit Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz
Spätestens seit NSA und der Euro-Krise wissen wir: Unsere Gesellschaft funktioniert nicht mehr nach den alten Regeln. Martin Burckhardt, einer der profiliertesten Vordenker unserer Zeit, macht tabula rasa. Sein „Manifest für eine neue Welt“ legt Thesen für eine Neuordnung unserer Gesellschaft vor.
Wir befinden uns inmitten einer Zeitenwende: So wie in der Renaissance alte Werte, Glaubensätze und gesellschaftliche Zusammenhänge zerstört und erneuert wurden, so verändert die digitale Welt unsere Gesellschaft. Nur die Regeln unseres Zusammenlebens sind noch die alten – und sie funktionieren nicht mehr.
Was ist Bildung, wenn das Weltwissen überall im Netz zugänglich ist? Wie werden wir arbeiten? Wie funktioniert die Wirtschaft wenn Produkte bald von jedem beliebig zu vervielfältigen sind? Was ist angesichts dieses Überflusses ein Wert? Was wird mein Wert sein? Sicher ist nur: Nichts wird bleiben, wie es ist.
Martin Burckhardt erklärt den gesellschaftlichen Umbruch und legt konkrete Vorschläge für Politik, Wirtschaft, Bildung, den Finanzmarkt und die Arbeitswelt vor.
Das E-Book erscheint im Februar, zwei Monate vor dem gedruckten Buch. E-Book-Käufer haben die Möglichkeit, das Buch zu verändern, indem sie kommentieren, Vorschläge machen und erweitern. So wird das Endprodukt ein Gemeinschaftsprojekt von Autor und Lesern.
'Eine subjektiv-essayistische Erkundung zwischen Futur und Vergangenheit, wobei er die Phänomene einer digitalisierten Zivilisation mit philosophischen Konzepten der Moderne analysiert, zumindest teilweise.'
Deutschlandradio Kultur
Autoren/Hrsg.
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Die Neue Welt
Das Haus ist für amerikanische Verhältnisse alt, ein viktorianischer Bau in romanischer Verkleidung. Einst hat es ein französischer Kaufmann seiner Tochter zur Hochzeit geschenkt. Nachdem das junge Paar vergeblich versucht hatte, das viel zu große Gebäude mit Leben zu füllen, wandelte man es zu einem Ort des Wedding-Business um. Zu Zeiten der Prohibition diente es als Speakeasy, als Alkoholausschank und als Spielhölle. Diese Logik der geschäftsmäßigen Enthemmung ist den Räumen erhalten geblieben. Jetzt gehört das Haus einem ehemaligen Footballstar, der sich mit nachlassender Partylaune entschieden hat, es wieder an Hochzeitsgäste zu vermieten. An diesem Wochentag bin ich der einzige Gast. Der Manager ist damit beschäftigt, die Flecken der letzten Feier zu entfernen. Ein schreckliches Geschäft, sagt er, schrecklich! Und abgrundtief komisch! Was soll man auch sagen, wenn die Braut am nächsten Tag in die Küche torkelt und wissen möchte, mit wem sie am Vortag geschlafen hat. Der Kellner, der zugleich auch der Koch ist und mir einen Kaffee auf die Terrasse bringt, hat noch nie von Edward Snowden gehört. Ohnehin ist er davon überzeugt, dass die Regierung die Bürger desinformiere. Er überlegt sich, Amerika zu verlassen und nach Malaysia zu gehen. Oder nach Europa vielleicht. Auf jeden Fall bereitet er sich mit einem Online-Kurs für Business-Administration auf den Tag X vor. Als der Laptop sich ausschaltet und für einen kurzen Moment Stille herrscht, spüre ich, wie anstrengend es war, meinen Körper an diesen Teil der Welt zu verfrachten. An den Grenzbeamten vorbei, durch den Ganzkörperscanner, vorbei an Fragen wie diesen: Haben Sie vor, in den Vereinigten Staaten terroristischen Aktivitäten nachzugehen? Später gehe ich über einen Friedhof, der aussieht wie ein Drive-in oder eine Stummfilmkulisse: mit riesenhaften Obelisken und einem makellos weißen ägyptischen Tempel, der von zwei prallbrüstigen Sphingen bewacht wird, die die absurde Assoziation eines schönheitschirurgischen Modellbusens hervorrufen. Beim Lesen der Namen auf den Grabsteinen sehe ich, dass sie nicht bloß für die Toten, sondern auch für die Lebenden angelegt sind. Da steht ein Name, ein Geburtsjahr – und ein offenes Todesdatum. Warum? Weil der Kauf von mehreren Gräbern einen Rabatt mit sich bringt? Buy one, get two? Vor einem dieser Gräber stehend, verwandelt sich die Müdigkeit zu der Gewissheit, dass die besten Tage der alten Neuen Welt Vergangenheit sind, dass es gilt, eine neue Neue Welt zu betreten. Zeitriss
Wenn ich auf meine Lebenszeit zurückschaue, ein halbes Jahrhundert, sehe ich eine zunehmende Aushöhlung der Institutionen, des Denkens, der Wörter. Leeregefühl, das in dem Maße sich ausdehnt, in dem der Wohlstand wächst. Das Verschwinden der Arbeit, Produkte, die sich in Luft auflösen, frei flottierende Existenzen, die sich wie Astronauten in irgendwelche Versorgungsschläuche verstrickt haben. Ich sehe durchtrainierte, braungebrannte Senioren, die sich als die letzten ihrer Art vorstellen, Künstler, die verbissen wie Buchhalter den eigenen Vorteil verfolgen, wohlgenährte Revoluzzer, die im Dreiteiler zu Staatsgläubigen mutieren. Ich sehe Gespensterdiskurse, die sich von selber erledigen, Bücher, die nicht mehr gelesen, Gedanken, die nicht mehr zu Ende gedacht werden. Eine wachsende Zukunftsverzagtheit, die in umso hektischere soziale Geschäftigkeit mündet. Ich sehe Kinder, die ihren Eltern die Welt erklären. Ich sehe eine Gesellschaft, in der niemand mehr Täter ist, aber jeder Opfer sein will. Ich sehe fern. Ich sehe, dass es kein Sendeschlussbild mehr gibt. Ich sehe die immer gleichen Menschen, die einander mit den immer gleichen Parolen ins Wort fallen. Ich sehe Wegelagerer, die im Dschungel der Paragrafen ihre Opfer ausspähen. Ich sehe, dass neben dem Gebrauchswert noch ein Missbrauchswert existiert. Ich sehe die Rückkehr der Armut, ich sehe die besorgten Gesichter der Eltern, die auf den viel zu kleinen Stühlen ihrer Kinder selbst zu Schulkindern werden. Ich sehe, dass die Dinge, die unser politisches Leben bestimmen, von einem sonderbaren Schweigen umhüllt sind. Ich sehe, dass Wörter sich an die Stelle von Handlungen setzen. Ich sehe Staaten, die das Papier nicht mehr wert sind, auf dem ihre Landkarten gedruckt sind. Ich sehe, dass Bürgerkriege, Glaubenskriege, Währungskriege zurückgekehrt sind. Folter, Sklaverei, inquisitorischen Eifer. Ich sehe, was ich als junger Autor für ausgeschlossen gehalten hätte: dass unser Denken ins Mittelalter zurückgekehrt ist. Andererseits sehe ich: eine unendliche Freiheit. Eine Welt, die erwacht, die sich aus ihrer Engherzigkeit löst und aus ihrem Stumpfsinn heraustritt. Ich sehe, wie Traditionen mühelos abgestreift werden, gleich dem Kostüm, aus dem der Schauspieler steigt. Kleidungsstücke in einem offenen Koffer, Abschiede, die in Wahrheit Anfänge sind. Ich sehe, dass den versteinerten Wörtern wieder eine Seele zufliegt: sie werden leicht und verletzlich, wie ein Vogel, den man in der Hand hält. Ich sehe Bibliotheken, die sich aus ihren Grundfesten lösen und zu schweben beginnen. Ich sehe die Rückkehr des Sinns und der Sinne, und wie das Blut, das sich im Kopf gestaut hat, nun wieder in den Körper zurückströmt. Ein Luftzug, der die Papiere im Zimmer aufwirbelt. Ich sehe, wie das Denken in Bewegung gerät, wie es beim Blick aus dem Fenster sich in der Wolke verliert und die Bewegung eines Vogelschwarms in sich aufnimmt. Ich sehe, wie die Wiederholung des Augenblicks mit jedem Mal eine andere Tönung hervortreten lässt. Wie etwas sich formt, auflöst und wieder verdichtet. Ich sehe die Zeilen, die sich in Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, ich sehe den Flügelschlag des Schmetterlings am anderen Ende der Welt. Ich sehe eine Neue Welt, wie ich sie mir als junger Mann immer erträumt habe. Ein Buch, das einen solchen Riss in sich trägt, kann nicht temperiert, es kann nur radikal sein. Dabei ist die Radikalität weder Ausdruck politischer Militanz noch jene Salon-Provokation, die mit theatralischer Geste vor allem Applaus sucht. Die Radikalität liegt in der Eigenheit des digitalen Zeitalters selbst, das in dem Maße, in dem es sich mobilisiert und globalisiert hat, Traditionen entwurzelt und zu freien Radikalen verwandelt hat. Insofern geht es nicht um eine persönliche Haltung oder um eine Frage des Stils, sondern um etwas, das uns alle angeht. Und nicht bloß hier, sondern weltweit. Denn dass eine globale Erschütterung stattgefunden hat, ist während der Finanzkrise von 2008 deutlich geworden. Plötzlich war da eine Welt mit ihrer Weisheit am Ende, mit Lichtgeschwindigkeit griff jene Epidemie der Zeichen um sich, welche die Akteure von einem Tsunami reden ließ. Aber warum ein Tsunami? Wäre es in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei alledem um Menschenwerk handelt, nicht angemessener, statt von einer Naturkatastrophe von einer Kulturkatastrophe zu sprechen? Und haben wir nicht den Zusammenbruch eines Weltbildes erlebt, in dem binnen Tagen, ja Stunden, alles auf den Kopf gestellt wurde, was unter Ökonomen als Weisheit letzter Schluss galt? Mögen wir uns einreden, dass es bei alledem um Finanzfragen geht, um längst eingehegte Exzesse, das Fehlverhalten Einzelner zudem, so wissen wir insgeheim, dass wir uns damit in einer Illusion wiegen. Denn die Krise hält an und macht in immer neuen Erscheinungsformen von sich reden. Auf die Immobilien folgten Düngemittel, dann Lebensmittel, darauf das Gold, der Schweizer Franken und dann wiederum Häuser – und mit jeder weiteren Blase stiegen die Schulden, in einem Maße, dass nun nicht mehr Banken, sondern ganze Volkswirtschaften wie Ramschartikel verhökert werden. Nicht nur, dass die vermeintlichen Sanierungsarbeiten unseren Blick auf die Zukunft verstellen, darüber hinaus nötigen sie uns dazu, die Schulden der Vergangenheit abzuarbeiten. Wie bei einem havarierten Reaktor, der eine strahlende Zukunft verheißt, ist man nur mehr damit beschäftigt, die Folgeschäden zu begrenzen – aber entkräftet und außerstande, einen offenen Blick in eine offene Zukunft zu werfen. Dabei stellt die anhaltende Krise nur die äußere Erscheinungsform, die Kulisse eines anderen Dramas dar, dessen Bedeutung und Ausmaß uns entgeht. Denn was, wenn die Krise nicht vorüber wäre, sondern uns erst noch bevorstünde? Was, wenn die einstigen Brandstifter sich nur deswegen als Feuerwehrleute gerieren, weil sie eine weit größere Katastrophe einzuhegen versuchen? Was also, wenn unsere Krisenpolitik die Krankheit wäre, für deren Therapie sie sich hält? Man muss nur eine simple Frage stellen, um die Tiefe unseres Dilemmas auszuloten. Wohin wird sich, ja, soll sich unsere Gesellschaft bewegen? Was kann man seinem Kind als Gewissheit mit auf den Weg geben? Stellt man diese Fragen in den Raum, so erntet man betretenes, ja geradezu lärmendes Schweigen. Denn die meisten Menschen sind vor allem mit dem eigenen Fortkommen beschäftigt. Es ist ein Fortkommen auf unsicherem Grund, weiß man doch, wie leicht man den Boden unter den Füßen verlieren kann. Folglich klammert man sich an alles, was Halt und Heil verspricht, richtet sich ein im politischen Biedermeier und hofft, dass sich der Status quo verlängern lässt, dass das Leben nicht lebensgefährlich, sondern versichert sein kann. Das mag verständlich sein. Beunruhigender ist, dass die hauptberuflichen Krisenbewältiger auf ein begrenztes Zeitfenster verweisen und zu bedenken geben, man könne schon froh sein, wenn man, auf Sicht fahrend, die nächsten Monate über die Runden komme. Und die Intellektuellen? Sie schweigen oder üben sich in jener Gratis-Empörung, die zu keinerlei Handlung verpflichtet, müssten sie andernfalls doch eingestehen, dass sie schon seit langem keinen nennenswerten Beitrag zur...