E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Burchuladze Zoorama
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-11968-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-608-11968-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In jedem von uns steckt ein Tier, sagt man. Aber steckt auch in jedem von uns ein Mensch?Eine junge georgische Familie mitten im grauen Winter Berlins. Exilanten, die ein neues Leben beginnen müssen und doch vom alten verfolgt werden. Und ein Hochhaus, das hermetisch abgeriegelt ist, aber die ganze irrsinnige Welt zu beherbergen scheint, flüchtige Generäle, entlaufene Zootiere und jede Menge Abfall. Nur für die Zukunft ist kaum Platz. Ein intensiver Roman über den Verlust und das Finden der Sprache und die Familie als letzte Gemeinschaft in einer unwirtlichen Gegenwart. Der Vater, ein Schriftsteller, verliert langsam seine Sprache. Die Tochter Stella spielt stattdessen dauernd mit Worten. Ihre Mutter Marika muss immer für alle Probleme eine Lösung finden. Als sie zu einem Kindergeburtstag am anderen Ende der Stadt aufbrechen, begegnet ihnen eine zweite Geschichte von einem alten Hochhaus aus Sowjetzeiten. Mit elektrischen Zäunen und vergitterten Fenstern von der Außenwelt abgeschnitten, ersticken die Bewohner zusehends im eigenen Müll. Flüchtige Generäle und entlaufene Zootiere geistern durch die Gänge und seit einiger Zeit verschwinden die Kinder. Kann der Mensch gerettet werden oder wird er sich selbst auslöschen? Wozu erzählen, worauf hoffen, wenn am Ende alle Erzeugnisse nur den Abfall vermehren? Zoorama ist die literarische Suche nach Überlebensmitteln für eine aus den Fugen geratene Welt. 'Zoorama gleicht für mich einem Labyrinth, das man atemlos durchquert, als wäre es eine Sache der Unmöglichkeit innezuhalten oder gar umzukehren. Ähnlich Dantes Vergil, treibt uns das Alter Ego des Autors zielsicher durch sein eigenes, persönliches Inferno. Er führt uns durch das schmutzige und graue Berlin, ins zerstückelte, für ihn nur noch aus Versatzstücken bestehende Tbilisi, hinein in ein apokalyptisches Hochhaus mitsamt seinen skurrilen und dem Untergang geweihten Bewohnern.' Nino Haratischwili'Viele Osteuropäer müssen heute wieder aus Angst in den Westen fliehen, ins Exil. Einer dieser Flüchtlinge ist Zaza Burchuladze. […] Doch das Land, das man mitbringt ins Exil, ist nur so groß wie die Fußsohlen und die Trauer im Kopf.' Herta Müller'Zaza Burchuladze ist ein markanter, origineller, mit niemandem sonst vergleichbarer Schriftsteller. Seine Prosa trägt etwas Unvorhersagbares in sich – für einen zeitgenössischen Autor das wichtigste Qualitätsmerkmal.' Wladimir Sorokin
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2.
Mir kann man leicht etwas einreden. Marika hat so eine Art, das zu sagen und dabei mit den Augen auf mich einzureden, als würde sie mich programmieren. Oder verhexen. Sie hat dann so einen Blick, wenn der auf einen Besen oder was auch immer fällt, meint man, er würde gleich Wurzeln schlagen, Blätter austreiben und zu blühen beginnen. Selbst wenn der Besenstiel aus Plastik ist und nicht aus Holz. Darum habe ich manchmal das Gefühl, ich werde eines Tages die Haustür aufmachen und nicht auf der Straße stehen, sondern auf dem Mond. Oder auf einem exotischen Planeten, in einer riesigen Eiswüste, wo man tief in seinem Inneren weiß, dass man beim ersten Atemzug sterben wird, aber solange man noch lebt, solange man den Atem noch anhält, sieht man die tückische Schönheit ringsum und zählt in Gedanken die letzten Sekunden: Eins. Zwei. Drei. Und plötzlich verschwindet alles. Bis es so weit kommt, kreise ich meinen Hula-Hoop, spähe durchs Fenster und versuche am zementfarbenen Berliner Himmel, auf dem gerade ein Kondensstreifen verblasst, das Wetter zu erraten. Vergeblich. Mit der gleichen Bewegung, mit der man in Georgien ein Lawasch-Fladenbrot innen an die Wand des Tandoor-Ofens klatscht, damit es nicht verbrennt, klebt der Nachbar einen Sonnenschutz von innen an die Frontscheibe seines Opel, der unter einer Werbetafel steht, damit er in der Kabine nicht verglüht und das Armaturenbrett nicht ausbleicht. Ich frage mich sowieso, was die Sonne in Berlin will. Den ganzen Monat lang ist die Werbung auf der Tafel nicht ausgetauscht worden. Sie ist einfach, wirkungsvoll und auch ein bisschen unanständig: Vor hellblau-weißem Hintergrund steckt eine rote Rose in einer Mineralwasserflasche. Im Hals einer kleinen transparenten Flasche steckt ein grüner Stiel, obendrauf flammt wie Feuer eine rote, geöffnete Krone. Am wirkungsvollsten ist der Name des Mineralwassers: »Wasser der Unsterblichkeit«. Dieses Bild begegnet einem in letzter Zeit in Berlin auf Schritt und Tritt. Das »Wasser« bekommt man in drei Ausführungen: naturell, feinperlig, spritzig. Den ganzen Monat schon springt mir diese Reklame ins Auge, an der Decke der U-Bahn, an Bussen oder als buntes Booklet in der Post. Doch das Wasser selbst habe ich noch nicht probiert. Der graue Himmel liegt über unseren Köpfen wie eine niedrige Betondecke, die bisweilen noch niedriger wird. Es gibt Orte in Berlin, wo der Himmel so tief hängt, dass man gebückt gehen muss, so wie in Kafkas niedrigen Häusern. Der hiesige Himmel staucht die Menschen zusammen wie eine Presse, immer spürt man eine Schwere auf den Schultern, auch der Atem geht schneller. Manchmal hat man nicht mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, und fällt auf die Knie. Man übertreibt nicht sonderlich, wenn man sagt, man hätte das Land der Krähen und Raben auf Knien durchquert. Aus dem offenen Fenster sehe ich, wie ein kleiner schnurrbärtiger und glatzköpfiger Türke mit einem weißen Pudel an den Backsteinmauern des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs entlanggeht; der Pudel hat zwei Pompons auf der Kruppe. Dieses Frisurenmodell nennt sich »Continental«, eine Ausstellungsschur. Das Hündchen scheint mächtig routiniert zu sein, es läuft, als schreite es zum Podium. An seinem souveränen Auftreten erkennt man gleich, dass sein Stammbaum solider ist als der meine. Es ist ein unerwartetes Duo, für gewöhnlich haben Berliner Türken einen Kangal. Ich sehe zum ersten Mal, dass Hund und Herrchen einander so wenig ähneln. Kaum zu glauben: Der hochgelobte Hund schnüffelt, mit all seinen Pompons, Kontinenten und Pässen, bei der Birke an den Verrichtungen eines anderen Köters. Hamlet!, der Mann zerrt mit einer Hand an der Leine. Hamlet! Ja, so sind wir Menschen. Taufen unsere Hunde Hamlet und Lanzelot. Einer meiner Bekannten, der Musiker und Schriftsteller Irakli Charkviani, hatte in seiner Jugendzeit einen Dackel mit dem Namen Nebukadnezar, benannt nach einem babylonischen König. Kurz vor seinem Tod ernannte Irakli sich höchstpersönlich zum König. Daher kann ich von mir sagen, einen König persönlich gekannt zu haben. Und sei es einen selbsternannten. Was nicht weiter rühmlich ist. Ich bin aus einem so kleinen Land, dass Fuchs und Hase sich dort gute Nacht sagen. Ein Drogentrip in die variköse Vene mit dem König höchstpersönlich. Auf einen solchen haben wir uns einmal in der kalten Toilette eines Literaturcafés auf der Kostawa-Straße begeben. Logisch, wir waren ja Literaten. Sind es bis heute. Die Lebenden und die Toten. Auch wenn uns beiden kein einziges Haar auf dem eiförmigen Schädel wallte und uns beide derselbe Schnurrbart schmückte, so sahen wir doch grundverschieden aus. Unsere Könige waren alle Dichter. Der letzte bildete da keine Ausnahme. Selbst wenn er ein wenig anders als die anderen Könige war. Manche halten so einen Trip wohl einer Meldung in der Boulevardpresse für wert, und ich glaube, dass jeder Schritt des Königs, und sei es auf die Toilette, automatisch in die Annalen eingehen muss. Oder seit wann dient die Klatschpresse nicht mehr als Geschichtschronik? Was weiß ich, jedenfalls hat mich der König zum Ritter geschlagen, in der zuvor genannten Toilette des Literaturcafés. Bevor wir uns den Stoff in die varikösen Venen drückten, sagte ich freiheraus: Sei so gut, Euer Gnaden, erhebe mich erst in einen höheren Rang. Er stieg auf den Klodeckel (er war zu klein, und ich konnte mich nicht hinknien, weil es zu eng war und wir auch kein Kissen dabeihatten), schlug mir mit der vollen Kanüle erst auf die rechte, dann auf die linke Schulter und sprach: Geschlagen seist du, Schriftsteller, zum Ritter, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit, amen. Diese Begebenheit hat sich wohl nicht groß herumgesprochen. Vielleicht gibt es ja noch andere Toilettenritter auf der Welt. Womöglich welche, die an noch exotischeren Orten geschlagen wurden. Wenn dem so ist und ich nicht allein bin, finden wir einander vielleicht, trinken Tee und schütten uns unser Herz aus. Der Türke zerrt wieder mit der einen Hand an Hamlets Leine, am Ringfinger der anderen funkelt ein Ring aus Sterlingsilber. Die E-Zigarette nimmt er gar nicht aus dem Mund, als wäre sie sein mobiles Beatmungsgerät, ohne welches er auf der Stelle sterben würde. Dass der funkelnde Ring am Finger des Mannes aus echtem Sterlingsilber ist, weiß ich deshalb, weil ein solcher auch mir gestern angeboten worden ist, zu einem ermäßigten Preis. In der Früh klingelte es unten an der Eingangstür. Ich öffnete, ohne zu fragen, ich dachte, es wäre der Briefträger. Ein adrett gekleideter Knabe stand im Hausflur, eher ein Jüngelchen, mit roten Wangen, großen, funkelnd blauen Augen, einem schüchternen Lächeln und einer ganz unerwarteten ledernen Urkunde in der Hand. Ich will Sie nicht aufhalten. Aber hätten Sie ein paar Minuten für mich? Ja, bitte. Wissen Sie, was das für ein Ring ist? Ist er etwas Besonderes? O ja, das haben Sie richtig erkannt, das ist wirklich ein besonderer Ring, von Bvlgari. Das ist ja interessant, seit wann macht Bvlgari denn Hausbesuche? Seit zwei Monaten ungefähr. Wenn Sie erlauben, erzähle ich Ihnen mehr über dieses Schmuckstück, das mehr ist als nur ein gewöhnliches Schmuckstück. Es handelt sich um ein Stück aus der Kampagne »Rettet die Kinder«, die Bvlgari dieses Jahr gemeinsam mit der Wohltätigkeitsorganisation Save the Children ins Leben gerufen hat. Was kostet denn das mehr als nur gewöhnliche Schmuckstück? Der Ring ist aus Sterlingsilber und Schwarzkeramik gefertigt und von der Linie B.zero1 inspiriert. Auf der Innenseite befindet sich das Logo der Wohltätigkeitsorganisation. Mit einem Teilbetrag jedes verkauften Stücks werden Projekte für die bedürftigsten Kinder weltweit finanziert. Überrascht Sie das Funkeln? Vielleicht haben Sie gehört, dass nur Bvlgari-Juwelen so funkeln. Wegen der speziellen Legierung. Auf der Seite des Unternehmens ist der Preis des Rings mit 530 Euro angegeben, inklusive Mehrwertsteuer. 530? Ja, aber heute können Sie ihn für exklusive 400 Euro erwerben. Zusätzlich erhalten Sie ein spezielles Zertifikat. Bei euch ist ja alles speziell. Das erkennen Sie wieder richtig! Wieder? Ich bezweifle, dass jemand in dem Haus hier einen solchen Ring kauft, und wenn er noch so funkelt. Ich fürchte, in diesem Haus fehlen nur noch Sie, sonst hat schon jeder einen solchen Ring gekauft. Jeder? Ja. Auch die ältere Dame über mir? Ja. Und die unter mir? Ja, auch die unter Ihnen und die neben Ihnen. Die junge Frau unten? Ja, auch die junge Frau, die, unter uns gesagt, ausschaut wie eine alte Frau, und die Rechtsanwälte nebenan. Sacco und Vanzetti? Genau. Ich habe nicht mit Ihnen gerechnet, am Samstagmorgen, so viel habe ich nicht im...