E-Book, Deutsch, 254 Seiten
Geschichte, Theorie, Praxis
E-Book, Deutsch, 254 Seiten
ISBN: 978-3-17-045422-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Die Anfänge
1.1 Die Kinderpsychoanalyse beginnt bei Sigmund Freud
Im Folgenden soll die Geschichte von einigen methodischen Grundlagen referiert werden, die bis heute in Behandlungen von Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden. Wir werden versuchen, aufzuzeigen, wie fast alle bereits in Freuds Behandlungen von Kindern und einer Jugendlichen zur Verwendung kamen: Alle wesentlichen Essentials jeder psychodynamischen Therapie hat Freud geschaffen, auch jene für eine Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen. Später wurden diese Grundlagen ergänzt, modifiziert, weiterentwickelt, doch sind die Kernaussagen unumstößlich gültig. Darum ist es so wichtig, dass Studierende der psychodynamischen Therapien von Anfang an Freud lesen und in sich aufnehmen. Und natürlich ist auch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TFP) eine psychoanalytische Variante, sie basiert genauso wie die analytische Psychotherapie auf dem Fundament der Freud'schen Psychoanalyse, auch wenn in manchen Veröffentlichungen der Bezug auf Freud als eine »konservative Position«, als »rückwärtiger Bezug« oder gar als »Dogmenperspektive« bezeichnet wird (Jäggi & Riegels 2008, S. 54). Aber ohne ein stabiles Fundament ist ein Haus nicht standfest. Wir gehen davon aus, dass jene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapien psychodynamisch genannt werden können, die ein Unbewusstes und die zentralen Essentials der Psychoanalyse (Neutralität und Abstinenz, Übertragung und Gegenübertragung etc.) anerkennen und in ihrer Behandlungspraxis anwenden. Mertens zeigt übrigens auf, dass auch der Begriff ›dynamisch‹, aus dem sich ›psychodynamisch‹ entwickelt hat, von Freud herrührt (2015, S. 16). An den Beginn dieses Kapitels wollen wir den Traum der kleinen Anna stellen, mit dem Freud erste Überlegungen zum Kindertraum verdeutlicht hat. Danach folgt eine Szene mit einem 13-jährigen Jungen, anhand derer Freud eine entstehende therapeutische Beziehung darstellt. Mit der Fallgeschichte vom kleinen Hans zeigt Freud auf, wie mit Eltern gearbeitet werden kann, um Konflikte eines Kindes zu beeinflussen. Und die Behandlung der Dora führt zur Entdeckung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Wir wollen uns dabei auf Freuds Entdeckungen und theoretische Erkenntnisse für die Entwicklung eines Behandlungssettings für eine Psychoanalyse des Kindes begrenzen. 1.2 Kinder assoziieren kaum ...
Träume von Kindern und Jugendlichen finden in der Psychotherapie nicht jene Beachtung, wie das bei Erwachsenen geschieht, weil kleinere Kinder noch kaum assoziieren können. Die Geschichte des Kindertraums beginnt bei Freud mit einer Reihe von Träumen, zum Teil von seinen eigenen Kindern, die typische infantile Wunscherfüllungen enthalten. Das jüngste Kind unter den kleinen Träumerinnen und Träumern war die neunzehnmonatige Anna, deren Traum Freud in seiner unübertrefflichen Sprache wie folgt wiedergegeben hat: »Wenn man mir zugibt, dass das Sprechen aus dem Schlaf der Kinder gleichfalls dem Kreis des Träumens angehört, so kann ich im Folgenden einen der jüngsten Träume meiner Sammlung mitteilen. Mein jüngstes Mädchen, damals neunzehn Monate alt, hatte eines Morgens erbrochen und war darum den Tag über nüchtern erhalten worden. In der Nacht, die diesem Hungertag folgte, hörte man sie erregt aus dem Schlaf rufen: ›Anna F.eud, Er?(d)?beer, Hochbeer, Eier?(s)?peis, Papp. Ihren Namen gebrauchte sie damals, um die Besitzergreifung auszudrücken; der Speisezettel umfasste wohl alles, was ihr als begehrenswerte Mahlzeit erscheinen musste; dass die Erdbeeren darin in zwei Varietäten vorkamen, war eine Demonstration gegen die häusliche Sanitätspolizei und hatte seinen Grund in dem von ihr wohl bemerkten Nebenumstand, dass die Kinderfrau ihre Indisposition auf allzu reichlichen Erdbeergenuss geschoben hatte; für dies ihr unbequeme Gutachten nahm sie also im Traume ihre Revanche‹« (Freud 1900a, S. 148). Indirekt hat Freud beschrieben, dass der Traum der kleinen Anna auch einen Wunsch des Mädchens darstellt, Autonomie und Loslösung auszuprobieren, wenn sie sich trotz Verbots der ›häuslichen Sanitätspolizei‹ mit allerlei Leckereien bedient. Überwiegend betrachtete Freud diese Sorte von Träumen jedoch als simple, unverkleidete Wunscherfüllungen, die er im Gegensatz zu den Träumen Erwachsener gar nicht interessant fand (a.?a.?O., S. 145). In seiner Theorie ging er auch nicht vom geträumten Traum aus, sondern vom so genannten ›manifesten Trauminhalt‹, indem er Traum, Traumtext und manifesten Trauminhalt gleichsetzte. Der manifeste Trauminhalt umfasst entsprechend seiner Definition »alle Aspekte dessen, woran der Träumer sich nach dem Erwachen bewusst erinnert und das ihm in jeder beliebigen Form im Gedächtnis haften bleibt, in Form von Bildern, widersinnigen Situationen, gegensätzlichen Gefühlen usw.«. Mittlerweile betrachten wir eine Traumerzählung auch als spezielle Form einer Erzählung, als ein so genanntes ›Narrativ‹. Mit der Traumerzählung wird der vergangene Traum aktualisiert und neu erlebt. Die sprachliche Form der Traummitteilung lädt den Hörer zur Klärung und Aufklärung, zur Enträtselung ein, was eine Alltagserzählung zumeist nicht tut (vgl. Boothe 2011, S. 69). Die Träume von Kindern charakterisierte Freud bis etwa zum fünften Lebensjahr als kurz, klar, kohärent, leicht zu verstehen und unzweideutig. Er verstand sie als einfache, meist an ein Vortagsereignis anknüpfende unverhüllte Wunscherfüllungen, und er erwähnte auch, dass bis zum fünften Lebensjahr manifester und latenter Trauminhalt zusammenfielen. Erst von diesem Alter an setze in der Regel die Traumentstellung ein, und die Träume würden komplizierter. Die Übergänge zwischen Traumbericht, Tagtraum und Phantasien sind fließend und daher ist es bei Kinderträumen oft nicht möglich, den Unterschied zwischen eigentlichem Traumbericht und im Nachhinein produzierten Phantasien und Ausschmückungen auszumachen. Innerhalb der Kinderpsychoanalyse wiegt diese Tatsache letztlich jedoch gering; denn nach psychoanalytischem Verständnis gelten auch Phantasien und Tagträume als mehr oder weniger verkleidete Wunscherfüllungen, als Ersatz für Versagungen in der Realität und besitzen darum die gleiche Funktion wie nächtliches Träumen, um psychische Spannungen abzureagieren (vgl. Freud 1978, S. 2834). Der entscheidende Grund für die stiefmütterliche Behandlung des Traumes in der Psychoanalyse des Kindes resultiert aus einer anderen Tatsache: Es war weniger die Weigerung von Kindern, Träume zu berichten, noch ihre Neigung zur konfabulatorischen Ausschmückung; es war der Ausfall der freien Assoziation, der die Psychoanalyse auf die konsequente Nutzung des Kindertraumes verzichten ließ: Kinder verweigern die analytische Grundregel, ihre Träume kritiklos mitzuteilen. Wenn sie gelegentlich Träume in die psychoanalytische Behandlung bringen, liefern sie im Gegensatz zu Erwachsenen selten und weniger Einfälle zu den einzelnen Traumelementen. Anna Freud (1965) beschrieb dies in folgender Weise: »Sie teilen ihre Erlebnisse mit dem Analytiker, vorausgesetzt, dass ein Vertrauensverhältnis innerhalb der Analyse hergestellt ist; aber ohne das Mittel der freien Assoziation können ihre Mitteilungen nicht über den Rahmen des Bewusstseins hinausgehen« (S. 2149?f.). Darum herrschten anfänglich große Zweifel, ob eine Psychoanalyse von Kindern vor diesen Hindernissen überhaupt möglich sei, denn es erschien schwer vorstellbar, dass Kinder auf der Couch liegend Träume berichten würden. 1.3 Alles, was in der Therapie inszeniert wird, hat mit der Symptomatik zu tun ...
Kinder können noch nicht assoziieren und ihre Konflikte sprachlich nicht mitteilen. Wie kann dieses Problem bewältigt werden? Die erste Therapievignette über psychoanalytische Arbeit mit einem Kind hat Freud in seinem Buch »Psychopathologie des Alltagslebens« veröffentlicht. Damit ist dies überhaupt die erste Mitteilung von einer kinderanalytischen Behandlung, die Freud – anders als beim kleinen Hans – sogar selbst durchgeführt hat. Es handelte sich um einen noch nicht 13-jährigen Jungen, der seit zwei Jahren massive hysterische Symptome zeigte. Freud deutet an, dass der Junge, von dem wir keinen Namen erfahren, wahrscheinlich sexuelle Erfahrungen gemacht habe, vermutlich also missbraucht worden war. Während der Sitzung formte der Junge aus Brotkrumen Männchen »wie die rohesten prähistorischen Idole«. Freud...