Neue Perspektiven auf Staat und Demokratie in der Weltpolitik
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-593-40737-1
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Vorwort
Neue Perspektiven auf Staat und Demokratie in den Nord-Süd-Beziehungen
Hans-Jürgen Burchardt
Staat und Demokratie
Staatlichkeit und Governance - Regieren mit begrenzten Konzepten in Räumen begrenzter Staatlichkeit?
Lars Brozus/Thomas Risse
Der strategisch-relationale Ansatz der Staatstheorie in der Südperspektive
Bob Jessop
Über Staatsgewalt in der Sub-Sahara und das Elend der Kategorien
Heide Gerstenberger
Von der Wahl zur Qual? Demokratie und Herrschaft außerhalb der OECD
Hans-Jürgen Burchardt
Weltpolitik
Nachhaltige Entwicklung und Governance - neue theoretische Anforderungen
Renate Mayntz
Prima Klima in den Nord-Süd-Beziehungen? Die Antinomien globaler Klimapolitik: Diskurse, Politiken und Prozesse
Kristina Dietz
Globale Sozialpolitik und Governance: Standpunkte, Politik und Postkolonialismus
Noémi Lendvai/Paul Stubbs
Die externe Förderung von Demokratie und Good Governance zwischen Dominanz und Konvergenz
Jonas Wolff
Klassen- und Sozialstrukturanalyse in transnationaler Dimension
Max Koch
Aspekte der globalen Sozialstruktur
Boike Rehbein
Autorinnen und Autoren
Neue Perspektiven auf Staat und Demokratie in den Nord-Süd-Beziehungen
Hans-Jürgen Burchardt
Methodische und theoretische Annäherungen
Die Welt ist im Umbruch. Dynamiken wie die internationale Finanzkrise, der globale Klimawandel oder das weltweite Aufrüsten stellen Politik und Wissenschaft vor neue Aufgaben. Die Nord-Süd-Beziehungen, die lange im Schatten des Kalten Krieges standen, gewinnen hier zunehmend an Bedeutung. Die globalen Ungleichheiten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fordern den Norden zwar schon seit einiger Zeit über Bumerang-Effekte wie ökonomischen Wettbewerbsdruck, Migration, Lohndumping, die Bedrohung durch zerfallende Staaten oder Terrorismus heraus. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint diese Entwicklungsasymmetrie aber das Potenzial zu entfalten, zu einer zentralen Konfliktachse im Weltsystem zu werden. Gleichzeitig ist eine Veränderung internationaler Machtkonstellationen zu beobachten. Aufstrebende Staaten wie China, Indien, Brasilien oder Südafrika erweitern ihren ökonomischen und politischen Einfluss. Für die Bearbeitung globaler Problemlagen werden die Länder und Regionen außerhalb der OECD darum immer wichtiger.
Doch über viele politische Bereiche und Phänomene der Nicht-OECD-Länder liegt bis heute nur begrenztes Wissen vor. Für nicht wenige Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sind bereits aufgrund der mangelnden Datenlage generelle Aussagen über gesellschaftliche Entwicklungen oder politischen Wandel nur partiell möglich. Dies beginnt schon bei der Kennzeichnung dieser Länder, mit der in diesem Buch bewusst unsystematisch umgegangen wird. Peripherie: Was ist randständiger - die Slums von Washington und Paris oder die Zentren von Mexiko City und Johannesburg? Dritte Welt: Wo ist die Zweite geblieben? Länder des Südens: Liegt Tschetschenien nicht im Osten? Es gilt also, neue Zugänge zu den Ländern der Dritten Welt und den Nord-Süd-Beziehungen zu entwickeln. Denn statt die Welt neu zu erklären, muss sie erst einmal neu verstanden werden.
Aus diesem Grund werden in diesem Buch unterschiedliche Autorinnen und Autoren um das Thema Nord-Süd-Beziehungen versammelt. Einige versuchen dabei erstmals, ihre bisher eher für die OECD-Länder Forschung bereits erfolgreich entwickelten Kategorien für den Süden aufzubereiten und zu diskutieren, welche Möglichkeiten des Kenntnisgewinns daraus für Dritte-Welt-Studien entstehen könnten. Andere sind schon länger mit der Forschung zur Peripherie und den Nord-Süd-Beziehungen vertraut, schlagen neue Ansätze vor oder wenden vorhandenes Wissen auf international virulent werdende Politikfelder an. Allen Mitwirkenden sind zwei Dinge gemeinsam: Sie teilen erstens die Erkenntnis, dass die Nord-Süd-Beziehungen eine neue Qualität zu entfalten beginnen. Und sie unternehmen zweitens den Versuch, den aktuellen Umbrüchen in der Weltpolitik nachzuspüren.
In diesem einführenden Text werden die einzelnen Artikel kurz in ihren Inhalten dargestellt, in den jeweiligen wissenschaftlichen Debatten verortet und um eigene Überlegungen ergänzt. Im ersten Abschnitt stehen dabei die Binnendynamiken in den Ländern des Südens im Vordergrund: Es geht um verschiedene analytische Perspektiven auf Staat und Demokratie in der Dritten Welt. Im zweiten Abschnitt liegt der Fokus auf den Nord-Süd-Beziehungen. Damit wird der Erkenntnis gefolgt, dass die transnationalen Verflechtungen eine Betrachtung einzelner Länder nicht mehr ohne Bezugnahmen auf die Weltpolitik sinnvoll erscheinen lassen. Auch hier versuchen mehrere Analysen, Wege aufzuzeigen, wie man sich Problemen und deren wissenschaftliche Bearbeitung über neue Sichtweisen nähern kann.
Meine eigenen Reflexionen konzentrieren sich auf zwei Schwerpunkte: Zum einen auf die Frage, wo eurozentristische Sichtweisen den analytischen Blick auf die Nord-Süd-Beziehungen begrenzen und wie diese Verengungen erweitert werden können. Denn fehlende Fakten und unzureichendes Wissen verführen immer wieder dazu, bei der Betrachtung von Staat und Demokratie in der Dritten Welt die OECD-Kernländer als fixen Referenzpunkt zu wählen und Abweichungen als Defizit beziehungsweise Negation derselben zu beschreiben. Zwar wird dieser eurozentristische Tunnelblick schon seit langer Zeit kritisiert (Gareau 1985; Said 1978; Samir 1989) und immer wieder betont, dass die für den Norden gültigen Erfahrungen im Süden nur teilweise oder gar nicht wirksam sind (Alatas 2006; Conrad/Randeira 2002; Lander 2003). Allerdings haben sich diese Erkenntnisse noch nicht breitenwirksam durchgesetzt. In meiner eigenen Analyse stehen vor allem das Akteursverständnis sowie das Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat im Zentrum der Betrachtung. Ich stelle Überlegungen an, wie die Beziehungen zwischen Institution und Akteur beziehungsweise zwischen Struktur und Handlung bei der Erforschung der Nicht-OECD-Länder neu gedacht werden könnten.
Dritte Welt - kein Staat zu machen?
Eine der wichtigsten Kategorien der (inter-)nationalen Politik ist bis heute ein unzureichend erforschtes Phänomen: der Staat in der Dritten Welt. Nach seiner "Entdeckung" als Gegenstand der Entwicklungstheorie durch Paul Rosenstein-Rodan und Gunnar Myrdal wurde er lange Zeit als ideelle Entwicklungsagentur betrachtet (Menzel 1992). Zwar konnte der Entwicklungsstaat die in ihn gesetzten Projektionen und Hoffnungen nur begrenzt erfüllen und in nicht weniger Fällen verwandelte sich der Leviathan in einen Behemoth, also einen Unstaat, der als Entwicklungsdiktatur seine eigenen Regeln verletzte und zur Quelle von Gewalt wurde (O'Donnell 1973). Doch erst als Anfang der 1980er Jahre viele Entwicklungsländer in eine Finanzkrise schlitterten, erschien die Idee des Entwicklungsstaates weitgehend als diskreditiert.
Der Entwicklungsstaat wurde für die damalige ökonomische und darauf folgende soziale und politische Krise verantwortlich gemacht. Statt Entwicklung schien er vor allem Klientelismus, Nepotismus und Korruption zu fördern und partikularen Interessen zu folgen, anstatt ein gesellschaftliches Gesamtinteresse im Blick zu haben. Dieser ersten Entzauberung folgte allerdings keine intensivere analytische Beschäftigung mit dem peripheren Staat. Vielmehr wurde dessen scheinbares Versagen zum Anlass genommen, einfach den Entwicklungsagenten auszutauschen: Nach dem Staat sollte es jetzt der Markt richten. Dem Dritte-Welt-Staat wurde darum eine Schlankheitskur verordnet. Er hatte sich aus der Wirtschaft ganz zurückziehen und sollte über Rationalisierung, Dezentralisierung und Wettbewerb effizienter werden. Als "Washington Consensus" leitete diese Politik gleichzeitig eine marktradikale Neuausrichtung der wirtschaftlichen Nord-Süd-Beziehungen ein, die bis heute oft als "Neoliberalismus" bezeichnet wird (Burchardt 2004). Der mit dem Fall der Berliner Mauer beginnende Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime schien diesem Paradigmenwechsel auch historisch Recht zu geben. Francis Fukuyama verkündete das "Ende der Geschichte". Entwicklung jenseits des Marktes schien kaum noch denkbar.