Bunin / Grob | Vera | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Bunin / Grob Vera

Erzählungen 1912
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-908778-58-5
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen 1912

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-908778-58-5
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die fünf 1912 geschriebenen Erzählungen Iwan Bunins sind Preziosen, die schon bei Zeitgenossen starke Resonanz fanden. Die ungewöhnlichen Schicksale stehen für Bunins Bild vom ländlichen russischen Leben, ein scheinbar zeitloses Leben im Schatten der Moderne, weitab der Städte. Doch spiegelt sich in den kleinen und großen Schicksalen das innere Leben dieser Welt: in der tödlich endenden Trinkwette des Bauern Worobjow ebenso wie im Schicksal der als Kind missbrauchten Ljubka oder demjenigen von Andrej und Vera, die beim letzten Wiedersehen das Scheitern ihrer Träume erkennen.

Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Auswahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890-1909 (Band 3). Das Dorf / Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzählungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8) und Leichter Atem. Erzählungen 1916-1919 (Band 9). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.
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SACHAR WOROBJOW

Letzthin ist Sachar Worobjow, genannt »der Minderjährige«, aus Ossinowyje Dwory gestorben.

Er war rotblond, bärtig und so viel größer und massiger als gewöhnliche Menschen, daß man ihn hätte ausstellen können. Auch er selbst fühlte sich einem anderen Schlag zugehörig als die übrigen Menschen und in mancher Hinsicht wie ein Erwachsener unter Kindern, die es indes auf Augenhöhe zu behandeln galt. Sein Leben lang – er war vierzig Jahre alt – hatte ihn noch ein anderes Gefühl begleitet, ein dunkles Gefühl von Einsamkeit: In alten Zeiten, so sagt man, gab es viele seinesgleichen, aber dieser Schlag verschwindet allmählich. »Es gibt noch einen wie mich«, sagte er mitunter, »aber der ist weit weg, irgendwo bei Sadonsk …«

Im übrigen war er durchwegs bester Laune. Er war bei außergewöhnlich guter Gesundheit. Er war prächtig gebaut. Er wäre sogar schön gewesen, wenn nicht seine dunkle Sonnenbräune und die blutunterlaufenen, hängenden Unterlider gewesen wären, in denen ständig gläserne Tränen unter den großen hellblauen Augen standen. Er hatte einen weichen, dichten, leicht gekrausten Bart, den man immerzu anfassen wollte. Er lächelte häufig verwundert mit der Freundlichkeit eines Riesen und warf den Kopf zurück, wobei er seinen roten, heißen Rachen leicht öffnete und seine herrlichen jungen Zähne zeigte. Auch ging ein angenehmer Geruch von ihm aus: der Roggengeruch des Steppenbewohners, vermischt mit dem Geruch seiner teerigen, robusten, eisenbeschlagenen Stiefel, dem säuerlichen Mief seines gegerbten Halbpelzes und dem Pfefferminzaroma des Schnupftabaks: Er rauchte nicht, aber er schnupfte.

Überhaupt zeigte er eine ausgeprägte Neigung für die alten Sitten. Der Kragen seines ungebleichten, stets sauberen Hanfhemds war nicht geknöpft, sondern gebunden. An seinem Gürtel hingen ein kupferner Kamm und ein kupferner Ohrlöffel. Bis er etwa fünfunddreißig Jahre alt war, hatte er Bastschuhe getragen. Als jedoch seine Söhne größer wurden und der Hof wuchs und gedieh, begann Sachar, Stiefel zu tragen. Halbpelz und Mütze zog er winters wie sommers nie aus. Sein Halbpelz war nach seinem Tode noch gut, wie neu. Sogar der Ärmel war beinahe einen halben Arschin lang. Die grün-blauen Ornamente und die feinen Biesen aus buntem Saffianleder auf dem schön gesteppten Vorderteil waren noch nicht ausgeblichen. Das schwarzbraune Robbenfell – der Besatz an Borte und Kragen – war noch borstig und hart. Sachar mochte Sauberkeit und Ordnung, er mochte alles Neue, Gediegene.

Er starb vollkommen unerwartet.

Es geschah Anfang August. Er hatte gerade einen ordentlichen Fußmarsch hinter sich. Von Ossinowyje Dwory war er zunächst nach Krasnaja Palna gegangen, zu einer Gerichtsverhandlung mit einem Nachbarn. Von Palna aus war er zu Fuß die etwa fünfzehn Werst bis in die Stadt gegangen: Er mußte bei der Gutsherrin Kobylinskaja, von der er Land pachtete, etwas erledigen. Von der Stadt aus war er zuerst mit der Eisenbahn zum Dorf Schipowo gefahren und dann zu Fuß über Schilyje nach Ossinowyje Dwory marschiert – das waren noch einmal etwa zehn Werst. Aber nicht das hatte ihn umgebracht.

»Was denn?« hätte er mit seinem samtweichen Baß erstaunt und ehrwürdig-streng gefragt. »Vierzig Werst?«

Gutmütig und freundlich hätte er hinzugesetzt:

»Ach was, mein Kleiner! Ich würde auch tausend schaffen.«

In Schipowo trank er etwas – und zwar ganz anständig: ein Viertel. Es war am ersten Spas. »Es wäre schön, jetzt auf den Feiertag einen zu heben«, sagte er im Spaß zu einem Bekannten, dem Kutscher von Petrischtschew, als er den mit Schlämmkreide ausgegossenen Bahnhof durchquerte, der wie jeden Sommer renoviert wurde. »Nur zu! Du könntest mir übrigens auch ein Gläschen bringen«, erwiderte der Kutscher. »Ich wüßte nicht wovon, hab alles ausgegeben und bin sogar schon im Güterwaggon gefahren, mit einer Ladung Steine«, sagte Sachar, obwohl er Geld hatte. Der Kutscher gab einem Bekannten, dem Wachtmeister Golizyn, einen Wink. Ein Bauer aus Schipowo, der Säufer Aljoschka Artschak, gesellte sich noch dazu. Zu dritt folgten sie Sachar und verließen unter halblautem Gespräch den Bahnhof. Sachar und Aljoschka gingen zu Fuß weiter, der Kutscher stieg in seinen zweispännigen Wagen – er hatte Petrischtschew abholen wollen, aber der war nicht im Zug gewesen – und der Wachtmeister in eine Renndroschke. Aljoschka regte sogleich eine Wette an: Würde Sachar in einer Stunde ein Viertel trinken können?

»Und was ist mit einem Imbiß dazu?« fragte Sachar, während er mit weit ausholenden Schritten neben der großen, mageren Stute des Wachtmeisters über die trockene, von Fahrrinnen durchfurchte Erde ging und dabei von Zeit zu Zeit die Deichsel herunterdrückte und das verrutschte Pferdegeschirr wieder zurechtschob.

»Du kannst dir bestellen, was du willst, für fünfzig Kopeken«, sagte der Kutscher, ein einfältiger und niederträchtiger, finsterer Kerl mit Schweinsäuglein.

»Aber wenn du die Wette verlierst«, setzte Aljoschka hinzu, ein zerlumpter Bauer mit gebrochener Nase, der sich gewerbsmäßig mit Kuppelei abgab, »wenn du die Wette verlierst, dann gibst du uns für alles das Dreifache.«

»Meinetwegen, wie ihr wollt«, antwortete Sachar von oben herab und überlegte, was er sich zum Imbiß bestellen sollte.

Er langweilte sich mit diesen Leuten. Er verstand jeden von ihnen sehr gut: Plötzen, kleine Leute! Aber er war guter Dinge in diesen Tagen, wie immer bei trockenem Wetter, wenn der Sommer zu Ende ging, ein sehr ertragreicher obendrein. Nicht nur, daß er von der Strecke nach Palna, wo die Verhandlung ausgezeichnet mit einem Vergleich geendet hatte, nicht ermüdet war, nicht nur, daß er nach den zwei Tagen, die er sich in der Hitze der Stadt geplagt hatte, nicht erschöpft war – er spürte sogar neuen Elan, eine Zunahme seiner Kräfte. Mit jeder Faser seines Herzens wollte er irgend etwas Außergewöhnliches tun. Aber was? Ein Viertel zu trinken, das war keine große Sache, das war nicht neu … Den Kutscher zu beeindrucken, ihm eins auszuwischen, war auch nicht besonders interessant … Trotzdem ließ Sachar sich bereitwillig auf die Wette ein. Er machte sich also über Essen und Trinken her und schwelgte zunächst im Essen – er hatte großen Hunger, jeder Bissen war ein Genuß – und dann in seiner Erzählung über die Gerichtsverhandlung.

Es ging auf vier Uhr nachmittags an diesem heißen, trockenen Tag; doch Hunderte von Werst weit rings um das Dorf, in der Weite der gelben, mit Heuschobern übersäten Felder, lag schon etwas Vorherbstliches, Leichtes, Klares. Der dichte Staub auf dem Dorfplatz von Schipowo lag grau und glänzend in der prallen Sonne. Holzschuppen grenzten den Platz vom Dorf ab, die Bäckerei, der Branntweinladen, die Poststelle, das hellblaue Haus mit Vorgarten des Kaufmanns Jakowlew und dessen zwei Läden in einem separaten Balkengeviert an der Ecke. Neben dem dunklen Kaufladen waren strohgelbe Kiefernbretter stufenförmig aufeinandergestapelt. Es roch hier nach Harz, das in hellen, klebrigen Tropfen auf den Brettern hervortrat, nach Staub, nach Kalatsch, nach den Blechdächern und jenem schwer zu beschreibenden Geruch, der so charakteristisch für einen Dorfladen ist. Sachar saß auf den untersten Brettern, aß und trank, redete und blickte auf den Platz, auf die in der Sonne glänzenden Bahngeleise, die Schranke des buckligen Bahnübergangs und das gelbe Feld jenseits der Geleise. Aljoschka saß neben ihm und nahm ebenfalls einen Imbiß – billiges Brot. Der Wachtmeister – ein langweiliger, staubbedeckter Mann mit gestutztem Schnurrbart und in einem abgetragenen Uniformmantel mit orangefarbenen Schulterklappen –, der Wachtmeister also und der Kutscher rauchten, der eine in der Droschke, der andere auf dem Wagen. Die Pferde dösten und warteten geduldig, bis man ihnen befehlen würde, sich in Bewegung zu setzen. Und Sachar erzählte.

»Wie die Verhandlung ausgegangen ist?« sagte er. »Na gar nicht. Wir haben uns wieder vertragen. Von diesen Gerichten, zur Hölle damit, habe ich noch nie im Leben etwas wissen wollen, ich hab noch mit niemandem prozessiert – Gott sei Dank. Mein verstorbener Vater hat mir solche Streitereien verboten. Und hier ging es sowieso bloß um nichtiges Gezänk. Die Weiber sind sich in die Haare geraten, und wir haben uns aus Dummheit mit hineinziehen lassen …«

Sachar hatte bereits etwa drei Flaschen getrunken – aus einer hölzernen Maßkelle, die Aljoschka von Jakowlews Hof geholt hatte; er machte seine Sache so mühelos, war so überzeugt von sich, daß er nicht einmal merkte, was er tat. Der Kutscher, der Wachtmeister und Aljoschka waren in erwartungsfroher Aufregung und versuchten nach Kräften, gelassen zu scheinen, obgleich die Seele jedes einzelnen von ihnen Gott inständig bat, Sachar möge sich möglichst elend fühlen und aufgeben oder wenigstens leblos umfallen, bevor er das Viertel austrinken könnte. Sachar aber knöpfte nur den Halbpelz auf, schob seine Mütze aus der Stirn zurück und bekam rote Backen. Er hatte zwei Blaunasen verzehrt, einen riesigen Bund Lauch und sechs französische Brötchen, er hatte mit solchem Genuß und Geschick gegessen, daß selbst seine Gegner über ihn staunten, und er erzählte munter und spöttelnd:

»Diese Gerichtsverhandlungen, zur Hölle damit, sind schon eine kuriose Sache! Ich wollte eigentlich gar nicht hin. Ich habe gehört, er hat eine Eingabe gemacht. Na schön, soll er doch, von mir aus, aber ich gehe nicht hin, habe ich gesagt. Aber auf einmal kommt die Obrigkeit nach Palna, der Beisitzer höchstpersönlich schickt nach mir. Ach, zum Kuckuck! Nichts zu...


Grob, Thomas
Thomas Grob ist Professor für Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zudem ist er publizistisch tätig, u. a. als Herausgeber der Werke Bunins im Dörlemann Verlag.

Trottenberg, Dorothea
Dorothea Trottenberg arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, u. a. von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol,Vladimir Sorokin, Maria Rybakova, Boris Akunin und Iwan Bunin. Für ihre Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Bunin, Iwan
Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Auswahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890–1909 (Band 3). Das Dorf / Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzählungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8) und Leichter Atem. Erzählungen 1916–1919 (Band 9). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.

IWAN BUNIN, geboren am 22. Oktober 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. 1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. Bislang erschienen: "Ein unbekannter Freund". Deutsch von Swetlana Geier (2003) sowie "Verfluchte Tage" (2005), "Der Sonnentempel" (2008), "Am Ursprung der Tage" (2010), "Das Dorf / Suchodol" (2011) und "Gespräch in der Nacht" (2013), alle fünf in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg. DOROTHEA TROTTENBERG studierte Slavistik in Köln und Leningrad, arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur. Sie wurde u.a. mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis und 2012 mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. THOMAS GROB ist Professor für Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zudem ist er publizistisch tätig.



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