Bunin / Grob | Leichter Atem | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Bunin / Grob Leichter Atem

Erzählungen 1916-1919
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03820-973-7
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen 1916-1919

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-03820-973-7
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Leichter Atem' ist eine der schönsten Erzählungen Bunins. In der Geschichte der aparten, mutwilligen Gymnasiastin Olja, die von einem Freund ihres Vaters verführt wird, stehen Beschwingtheit und Melancholie dicht nebeneinander. Von einer fatalen Affäre erzählt auch 'Der Sohn': Madame Mareau, die Ehefrau eines Kolonialbeamten in Algerien, gibt aus Ennui und Koketterie den Avancen eines jungen Verehrers nach.Die achtzehn Erzählungen dieses Bandes, von denen acht erstmals auf Deutsch vorliegen, sind die letzten, die Iwan Bunin vor seiner Emigration 1920 schrieb. Sie entstanden in politisch bewegten Zeiten und insbesondere der Erste Weltkrieg steht wie ein Schatten hinter den Geschehnissen.

Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Auswahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890-1909 (Band 3). Das Dorf / Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzählungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8) und Leichter Atem. Erzählungen 1916-1919 (Band 9). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.
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Der Sohn

Madame Mareau war in Lausanne geboren und aufgewachsen, in einer strengen, rechtschaffenen und fleißigen Familie. Sie hatte nicht früh, aber aus Liebe geheiratet. Im März 1876 befand sich unter den Passagieren des alten französischen Dampfschiffs Auvergne, das von Marseille aus nach Italien fuhr, ein neuvermähltes Paar. Die Tage waren still und kühl, das Meer verlor sich silbrig spiegelnd in den dunstigen Frühlingsweiten, die Neuvermählten blieben stets an Deck. Alle erfreuten sich an ihnen, betrachteten ihr Glück mit einem freundlichen Lächeln: Bei ihm zeigte sich dieses Glück in seinem munteren, resoluten Blick, in dem Bedürfnis nach Bewegung, in der überschwenglichen Leutseligkeit gegenüber den anderen Passagieren, bei ihr in dem freudigen Interesse, mit dem sie jede Einzelheit aufnahm … Diese Neuvermählten waren die Mareaus.

Er war etwa zehn Jahre älter als sie, nicht sonderlich groß, hatte einen bräunlichen Teint und lockiges Haar; seine Hand war hager, seine Stimme klangvoll. Sie dagegen war erkennbar anderer, nichtromanischer Abstammung; sie schien ein wenig groß – wenngleich ihre Taille ganz entzückend war – und hatte dunkles Haar und graublaue Augen. Über Neapel, Palermo und Tunis reisten sie in die algerische Stadt Constantine, wo Monsieur Mareau eine recht bedeutende Stellung bekommen hatte. Und das Leben in Constantine, die vierzehn Jahre, die seit jenem glücklichen Frühling vergangen waren, hatte ihnen all das geschenkt, was die Menschen für gewöhnlich zufriedenstellt: Wohlstand, ein harmonisches Familienleben, gesunde und schöne Kinder.

In den vierzehn Jahren hatten sich die Mareaus äußerlich sehr verändert. Sein Gesicht war dunkel geworden wie das eines Arabers, er war grauhaarig und hager von der Arbeit, vom vielen Reisen, vom Tabak und von der Sonne – viele hielten ihn für einen gebürtigen Algerier. Sie wiederum hätte niemand mehr als die junge Frau erkannt, die einst auf der Auvergne hergereist war: Damals strahlten selbst ihre Schuhe, die sie nachts vor die Tür stellte, den Zauber der Jugend aus; jetzt hatte auch ihr Haar einen Silberschimmer, war ihre Haut feiner und goldgetönter, waren ihre Arme magerer geworden, und in der Pflege, die sie ihnen angedeihen ließ, in der Frisur, in der Leibwäsche, in der Kleidung zeigte sich bereits eine gewisse übertriebene Sorgsamkeit. Natürlich hatte sich auch ihr Verhältnis zueinander geändert, wenngleich niemand behaupten würde, daß es eine Wende zum Schlechteren genommen hätte. Sie lebten indes jeder sein eigenes Leben: Seine Zeit war ganz von der Arbeit erfüllt – er war derselbe leidenschaftliche und zugleich nüchterne Mensch wie früher –, die ihre von der Fürsorge für ihn und die Kinder, zwei hübsche Mädchen, von denen die ältere beinahe schon ein Fräulein war; und alle waren einhellig der Meinung, daß es in Constantine keine bessere Hausherrin, keine bessere Mutter und keine liebenswürdigere Gesprächspartnerin im Salon gab als Madame Mareau.

Ihr Haus stand in einem ruhigen, ordentlichen Viertel. Vom ersten Stock, von den Gesellschaftszimmern aus, die wegen der geschlossenen Jalousien stets im Halbdunkel lagen, war das für seine malerische Kulisse in der ganzen Welt berühmte Constantine zu sehen: Auf schroffen Felsen liegt diese alte arabische Festung, die eine französische Stadt geworden ist. Die Fenster der schattigen, kühlen Privaträume blickten auf den Garten – in ewiger Glut, in ewigem Glast schlummerten dort jahrhundertealte Eukalyptusbäume, Sykomoren und Palmen, umgeben von hohen Mauern. Der Hausherr war diensthalber häufig abwesend. Die Hausherrin führte das zurückgezogene Dasein, zu dem die Ehefrauen aller Europäer in den Kolonien verurteilt sind. Sonntags war sie stets in der Kirche. Werktags fuhr sie selten aus und hielt sich an einen kleinen, auserwählten Kreis. Sie las, beschäftigte sich mit Handarbeiten, plauderte oder lernte mit den Kindern; hin und wieder nahm sie die schwarzäugige Marie, das jüngste Töchterchen, auf den Schoß, spielte mit einer Hand auf dem Fortepiano und sang alte französische Lieder, um so den langen afrikanischen Tag zu verkürzen, während der heiße Wind vom Garten her großzügig durch die geöffneten Fenster hereinblies … Constantine, das in der erbarmungslos sengenden Sonne alle seine Fensterläden geschlossen hielt, wirkte in diesen Stunden wie eine tote Stadt: Nur die Blauracken schrien immer wieder hinter den Mauern der Gärten, und melancholisch, mit der Schwermut der Kolonialländer, schallte der Klang der Hornbläser über die Hügel außerhalb der Stadt, wo von Zeit zu Zeit Kanonen mit dumpfem Schlag die Erde erschütterten und weiße Soldatenhelme aufblitzten.

Die Tage in Constantine verliefen einförmig, aber niemand hätte bemerkt, daß Madame Mareau darunter gelitten hätte. Ihr Charakter, der feinfühlig und sittsam war, zeigte weder eine gesteigerte Empfindlichkeit noch übermäßige Nervosität. Ihre Gesundheit konnte man nicht als robust bezeichnen, aber sie bereitete Monsieur Mareau auch keine Sorge. Lediglich ein Vorfall hatte ihm zu denken gegeben: Einmal in Tunis hatte ein arabischer Gaukler sie so schnell und tief hypnotisiert, daß sie nur mit Mühe und Not wieder zu sich kam. Das war jedoch noch zur Zeit der Übersiedlung aus Frankreich gewesen; seither hatte sie einen derart heftigen Willensverlust, eine derart krankhafte Empfänglichkeit nie wieder erfahren. So war Monsieur Mareau glücklich, gelassen und überzeugt davon, ihre Seele sei ungetrübt und ihm aufrichtig zugetan. Dem war auch so, selbst im letzten, dem vierzehnten Jahr ihres Familienlebens … Da jedoch erschien in Constantine ein gewisser Emile Du Buis.

Emile Du Buis war der Sohn von Madame Bonnet, einer langjährigen guten Bekannten der Mareaus, und erst neunzehn Jahre alt. Madame Bonnet, die Witwe eines Ingenieurs, hatte außer Emile, ihrem Sohn aus erster Ehe, der in Paris aufgewachsen war und bereits Rechtswissenschaft studierte, sich allerdings mehr dem Verfassen von nur ihm allein verständlichen Gedichten widmete und sich zur nichtexistierenden Schule der »Sucher« zählte, noch eine Tochter, Elise. Diese war im Mai 1889 kurz vor ihrer Hochzeit erkrankt und innerhalb weniger Tage verstorben. Emile, der noch nie zuvor in Constantine gewesen war, war nun zum Begräbnis angereist. Man kann gut verstehen, wie sehr dieser Tod Madame Mareau berührte, der Tod eines jungen Mädchens, das schon den Brautschleier anprobiert hatte; auch weiß man, wie leicht sich unter derartigen Umständen Menschen näherkommen, selbst wenn sie einander zuvor kaum gekannt haben. Zudem war Emile für Madame Mareau wirklich nur ein Knabe. Bald nach dem Begräbnis reiste Madame Bonnet zu Verwandten nach Frankreich. Emile blieb in Constantine, im Landhaus seines verstorbenen Stiefvaters, in der Villa Hashim, wie man sie in der Stadt nannte, und war beinahe täglich zu Gast bei den Mareaus. Wie immer er war, was immer er vorgab zu sein, er war trotz allem noch sehr jung, sehr empfindsam, und er suchte Menschen, denen er sich für eine Zeitlang anschließen konnte. »Ist es nicht eigenartig?« sagten manche. »Madame Mareau ist gar nicht wiederzuerkennen! Wie lebhaft sie geworden ist, wie hübsch!«

Diese Anspielungen waren indes unbegründet. Zu Anfang wurde lediglich ihr Leben ein wenig heiterer, wurden ihre Mädchen ein wenig unbekümmerter und koketter, weil Emile seinen Schmerz und das Gift, das ihm – wie er meinte – das »Fin de siècle« einflößte, zwischendurch immer wieder vergaß und sich manchmal stundenlang mit Marie und Louise abgab wie mit seinesgleichen. Bei alledem war er dennoch ein Mann, kam aus Paris und war nicht gerade ein Dutzendmensch; er war Teil jenes für gewöhnliche Sterbliche unzugänglichen Lebens, das die Pariser Schriftsteller führten: Häufig rezitierte er mit fast somnambuler Ausdruckskraft seltsame, aber wohlklingende Verse, und vielleicht war es wirklich gerade ihm zu verdanken, daß Madame Mareaus Gang leichter und beschwingter geworden war, ihre häuslichen Toiletten ein wenig eleganter und ihr Tonfall zärtlicher und neckischer; vielleicht war in ihrer Seele auch ein Fünkchen rein weiblicher Freude erwacht, daß da jemand war, den man ein wenig bevormunden, mit dem man halb scherzhaft in belehrendem Ton sprechen konnte, mit einer Unbefangenheit, die der Altersunterschied zwischen ihnen so selbstverständlich gestattete, und daß dieser Mensch eine Anhänglichkeit zu ihrem ganzen Haus entwickelt hatte, in dem allerdings – das zeigte sich natürlich sehr bald – die Hauptperson für ihn unangefochten sie war. Aber all das ist schließlich nichts Besonderes! Meistens tat er ihr vor allem nur leid.

Er hielt sich aufrichtig für einen geborenen Poeten und wollte auch äußerlich einem solchen gleichen; er trug die Haare lang und zurückgekämmt und kleidete sich mit künstlerischer Bescheidenheit; die schönen braunen Haare paßten zu seinem blassen Gesicht ebenso wie zu seiner schwarzen Kleidung, doch diese Blässe war allzu blutleer und hatte einen Anflug von Gelb. Seine Augen glänzten fortwährend, wirkten jedoch durch das ausgemergelte Gesicht fiebrig, und so eingefallen und flach war seine Brust, so dünn waren seine Beine, so hager seine Arme, daß es einem nachgerade unbehaglich war, wenn er übermäßig lebhaft die Straße entlang oder durch den Garten lief, leicht vornübergebeugt, als gleite er dahin, um sein Gebrechen zu verbergen – die Tatsache, daß ein Bein kürzer als das andere war; in Gesellschaft war er bisweilen unangenehm und arrogant, er war bemüht, geheimnisvoll und nachlässig zu erscheinen, manchmal elegant und anmaßend, manchmal herablassend und zerstreut und in jeder Hinsicht...


Trottenberg, Dorothea
Dorothea Trottenberg arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, u. a. von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol,Vladimir Sorokin, Maria Rybakova, Boris Akunin und Iwan Bunin. Für ihre Übersetzungen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Grob, Thomas
Thomas Grob ist Professor für Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zudem ist er publizistisch tätig, u. a. als Herausgeber der Werke Bunins im Dörlemann Verlag.

Bunin, Iwan
Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Auswahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890–1909 (Band 3). Das Dorf / Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzählungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8) und Leichter Atem. Erzählungen 1916–1919 (Band 9). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.

Angaben zur Person: IWAN BUNIN, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französi- schen Exil. 2003 erschien der kleine Band Ein unbekannter Freund in der Übersetzung von Swetlana Geier. Bislang erschienen in der Aus-wahlwerkausgabe: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch (Band 1). Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder (Band 2). Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890-1909 (Band 3). Das Dorf Suchodol. Erzählungen (Band 4). Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911 (Band 5). Vera. Erzäh- lungen 1912 (Band 6). Frühling. Erzählungen 1913 (Band 7). Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915 (Band 8). Alle Bände deutsch von Dorothea Trottenberg.



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