Bulgakow | Aufzeichnungen eines Toten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Bulgakow Aufzeichnungen eines Toten

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09711-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-641-09711-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine wunderbare Satire und scharfe Polemik gegen die Kulturpolitik des Russland der 30er Jahre.

Mit beißender Ironie und bitterem Sarkasmus beschreibt „Aufzeichnungen eines Toten“ (1936/37) Bulgakows Einstieg in die groteske Literatur- und Theaterwelt im Moskau der zwanziger Jahre.

Bulgakow Aufzeichnungen eines Toten jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


5    Ungewöhnliche Ereignisse

Stehlen ist nicht schwer. Wieder zurückgeben, das ist nicht ganz einfach. Mit dem Browning in der Tasche fuhr ich zu meinem Freund.

Mir klopfte das Herz, als ich ihn schon durch die Tür rufen hörte:

»Und wer noch, Mama?«

Dumpf ertönte die Stimme seiner alten Mutter:

»Der Klempner …«

»Was ist passiert?« fragte ich und zog den Mantel aus.

Mein Freund blickte sich um und flüsterte:

»Den Revolver haben sie mir heute geklaut … Diese Lumpen …«

»Ei-jei-jei«, sagte ich.

Die alte Mutter sauste durch die kleine Wohnung, kroch im Flur auf dem Fußboden herum und sah in irgendwelchen Körben nach.

»Das ist doch Unsinn, Mama! Hör auf, auf dem Fußboden rumzukrauchen!«

»Heute?« fragte ich erfreut. (Er irrte sich, der Revolver war ihm gestern abhanden gekommen, aber er bildete sich ein, ihn gestern nacht noch im Schreibtisch gesehen zu haben.)

»Wer war denn bei euch?«

»Der Klempner!« schrie mein Freund.

»Parfjon, der war doch gar nicht in deinem Zimmer«, sagte die Mutter schüchtern, »er ist gleich zum Wasserhahn gegangen …«

»Ach, Mama! Ach, Mama!«

»Sonst war keiner da? Und gestern?«

»Gestern auch nicht! Nur Sie waren hier, sonst keiner.«

Plötzlich starrte mich mein Freund mit großen Augen an.

»Erlauben Sie mal«, sagte ich würdevoll.

»Ach, was sind sie doch empfindlich, diese Intellektuellen!« schrie mein Freund. »Ich glaube doch nicht, daß Sie ihn geklaut haben.«

Und er sauste los, um nachzusehen, zu welchem Wasserhahn der Klempner gegangen war. Die Mutter spielte die Rolle des Klempners und ahmte sogar seinen Tonfall nach.

»So ist er reingekommen«, sagte die alte Frau, »›Guten Tag‹ hat er gesagt. Dann hat er seine Mütze aufgehängt und ist reingegangen …«

»Wo ist er reingegangen?«

Den Klempner nachahmend, ging die alte Frau in die Küche, und mein Freund folgte ihr. Ich machte eine Bewegung, als wollte ich ebenfalls in die Küche, scherte aber aus ins Arbeitszimmer, legte den Browning nicht in die linke, sondern in die rechte Schreibtischschublade und ging erst dann in die Küche.

»Wo bewahren Sie ihn denn auf?« fragte ich im Arbeitszimmer teilnahmsvoll.

Mein Freund zog die linke Schublade auf und zeigte mir die leere Stelle.

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich achselzuckend, »wirklich eine rätselhafte Geschichte. Ja, er muß wohl geklaut sein.«

Mein Freund geriet vollends außer sich.

»Und trotzdem, ich glaube nicht, daß er geklaut ist«, sagte ich etwas später, »wenn keiner hier war, wer soll ihn dann geklaut haben?«

Er raffte sich auf und durchsuchte die Taschen eines alten Mantels im Flur, doch er fand ihn nicht.

»Offenbar doch gestohlen«, sagte ich nachdenklich, »Sie müssen es bei der Miliz melden.«

Mein Freund stöhnte etwas Unverständliches.

»Können Sie ihn nicht irgendwo anders hingelegt haben?«

»Ich leg ihn immer an dieselbe Stelle!« rief er nervös und zog die mittlere Schublade auf. Er flüsterte etwas, öffnete die linke Schublade und faßte sogar hinein, dann die darunterliegende und endlich, mit einem Fluch, die rechte.

»Das ist ein Ding!« krächzte er und starrte mich an. »Das ist ein Ding … Mama! Er ist da!«

Er war sehr glücklich an diesem Tag und behielt mich zum Essen da.

Nachdem ich so das auf meinem Gewissen lastende Revolverproblem gelöst hatte, unternahm ich einen Schritt, den man riskant nennen könnte – ich kündigte bei der »Dampfschiffahrt«.

Ich übersiedelte in eine andere Welt, besuchte Rudolfi und traf mich mit Schriftstellern, von denen einige schon sehr bekannt waren. Aber das alles ist spurlos aus meinem Gedächtnis verschwunden, ich erinnere mich nur noch an Langeweile, alles andere habe ich vergessen. Nur eines kann ich nicht vergessen – meine Bekanntschaft mit Rudolfis Herausgeber Makar Rwazki.

Die Sache ist die, daß Rudolfi Verstand, Scharfsinn und sogar eine gewisse Belesenheit hatte, nur eines fehlte ihm – Geld. Dennoch zwang ihn die leidenschaftliche Liebe zu seinem Beruf, um jeden Preis eine umfangreiche Zeitschrift herauszugeben. Ich glaube, ohne sie wäre er gestorben.

Aus diesem Grunde fand ich mich eines Tages in einem seltsamen Raum an einem Moskauer Boulevard wieder. Hier hauste der Verleger Rwazki, wie Rudolfi mir erklärt hatte. Mich wunderte, daß ein Schild am Eingang ein »Büro für fotografisches Zubehör« verkündete.

Noch seltsamer war, daß in dem Raum keinerlei fotografisches Zubehör zu sehen war mit Ausnahme mehrerer in Zeitungspapier gewickelter Ballen Kattun und Wollstoff.

In dem Raum wimmelte es von Menschen. Sie waren alle in Mantel und Hut und unterhielten sich lebhaft. Ich fing zwei Wörter auf – »Draht« und »Dosen«, und ich wunderte mich sehr, doch auch ich wurde mit erstaunten Blicken gemustert. Ich sagte, daß ich zu Rwazki wolle. Sofort wurde ich sehr achtungsvoll hinter eine Sperrholzwand geleitet, wo meine Verwunderung ihren Höhepunkt erreichte.

Auf dem Schreibtisch, hinter dem Rwazki thronte, erblickte ich einen Stapel Sprottenkistchen.

Aber noch mehr als die Sprotten im Verlag mißfiel mir Rwazki. Er war klein und mager und für meine an die Arbeitskittel in der »Dampfschiffahrt« gewöhnten Augen sehr sonderbar gekleidet: kurzer Einreiher mit gestreiften Hosen, dazu ein schmutziger gestärkter Kragen und ein grüner Schlips mit einer Rubinnadel.

Rwazki verblüffte mich, ich aber erschreckte ihn oder, genauer, irritierte ihn, als ich ihm eröffnete, gekommen zu sein, um mit ihm einen Vertrag über den Abdruck eines Romans in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift abzuschließen. Er faßte sich jedoch sehr schnell, nahm die beiden Vertragsexemplare, die ich mitgebracht hatte, holte einen Füllhalter hervor, unterschrieb nach flüchtigem Hinsehen beide Exemplare und schob sie mir samt dem Füllhalter zu. Ich hatte diesen bereits ergriffen, als plötzlich mein Blick auf die Kistchen fiel, die die Aufschrift »Erlesene Astrachan-Sprotten« und ein Netz sowie einen Fischer mit aufgekrempelten Hosenbeinen zeigten, und ein quälender Gedanke durchzuckte mich.

»Bekomme ich mein Geld sofort, wie es im Vertrag vorgesehen ist?« fragte ich.

Der ganze Rwazki verwandelte sich in ein zuckriges, höfliches Lächeln.

Er räusperte sich und sagte:

»Genau in zwei Wochen, ich bin momentan etwas klamm …«

Ich legte den Füllhalter hin.

»Oder in einer Woche«, sagte Rwazki eilig. »Warum unterschreiben Sie nicht?«

»Wir werden uns einigen und den Vertrag unterschreiben, sobald Sie nicht mehr klamm sind«, sagte ich.

Rwazki lächelte bitter und wiegte den Kopf.

»Sie trauen mir nicht?« fragte er.

»Ich bitte Sie!«

»Also am Mittwoch!« sagte Rwazki. »Wenn Sie das Geld so nötig brauchen.«

»Bedaure, ich kann nicht.«

»Es ist wichtig, den Vertrag zu unterschreiben«, sagte Rwazki bedächtig, »das Geld können Sie sogar schon am Dienstag haben.«

»Bedaure, ich kann nicht.« Ich schob die Verträge zurück und knöpfte mich zu.

»Einen Moment noch, ach, was sind Sie doch für einer!« rief Rwazki. »Und da sagt man, Schriftsteller seien unpraktische Leute.«

Plötzlich wurde sein bleiches Gesicht wehmütig, und er sah sich besorgt um, aber da kam ein junger Mann hereingelaufen und gab ihm ein Stückchen Pappe, in einen weißen Zettel gewickelt. Fahrkarte und Platzkarte, dachte ich, er will verreisen … Die Wangen des Verlegers röteten sich, seine Augen funkelten, ich hätte nicht gedacht, daß so etwas bei ihm vorkam.

Um’s kurz zu machen, Rwazki gab mir die Summe, die im Vertrag genannt war, und schrieb mir für den Rest Wechsel aus. Zum ersten und letzten Mal im Leben hielt ich Wechsel in der Hand, die auf mich lauteten. (Während man lief, um die Wechselformulare zu holen, saß ich auf irgendwelchen Kisten, die einen intensiven Schuhledergeruch verbreiteten.) Ich war sehr stolz, Wechsel zu besitzen.

Die nächsten zwei Monate sind aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich weiß nur noch, daß ich mich empört bei Rudolfi beklagte, daß er mich zu so einem wie Rwazki geschickt habe und daß jemand mit trüben Augen und einer Rubinnadel kein Verleger sein könne. Außerdem entsinne ich mich, wie mir das Herz klopfte, als Rudolfi sagte: »Zeigen Sie mir doch mal die Wechsel«, und wie es stockte, als er durch die Zähne murmelte: »Alles in Ordnung.« Überdies werde ich nie vergessen, wie ich den ersten Wechsel einlösen ging. Es fing damit an, daß das Schild »Büro für fotografisches Zubehör« nicht mehr existent und durch ein Schild »Büro für medizinische Schröpfköpfe« ersetzt war.

Ich trat ein und sagte:

»Ich möchte Makar Borissowitsch Rwazki sprechen.«

Ich weiß noch genau, wie mir die Knie einknickten, als man mir antwortete, daß M. B. Rwazki … im Ausland sei.

Ach, mein armes Herz! Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.

Ich fasse mich wieder kurz: Hinter der Sperrholzwand saß Rwazkis Bruder. (Rwazki war zehn Minuten, nachdem er meinen Vertrag unterschrieben hatte, ins Ausland abgereist – erinnern Sie sich an die Platzkarte?) Aloisi Rwazki, der mit seinem athletischen Körperbau und dem schweren Blick das genaue Gegenteil...


Bulgakow, Michail
Michail Bulgakow wurde am 15. Mai 1891 in Kiew geboren und starb am 10. März 1940 in Moskau. Nach einem Medizinstudium arbeitete er zunächst als Landarzt und zog dann nach Moskau, um sich ganz der Literatur zu widmen. Er gilt als einer der größten russischen Satiriker und hatte zeitlebens unter der stalinistischen Zensur zu leiden. Seine zahlreichen Dramen durften nicht aufgeführt werden, seine bedeutendsten Prosawerke konnten erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Seine Werke liegen im Luchterhand Literaturverlag in der Übersetzung von Thomas und Renate Reschke vor.

Reschke, Thomas
Thomas Reschke, geboren 1932 in Danzig, studierte Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1955-1990 war er Redakteur und Lektor der DDR-Verlage "Kultur und Fortschritt" und "Volk und Welt". Seit 1956 übersetzt er literarische Werke aus dem Russischen, seit 1990 hauptberuflich als freier Übersetzer. Heute zählt er zu den produktivsten deutschen Russisch-Übersetzern der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Übersetzung eines Großteils der Werke Michail Bulgakows gilt als hervorragend. Thomas Reschke wurde für seine Übersetzungen vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem F.-C.-Weiskopf-Preis (1975), dem Maxim-Gorki-Preis des Sowjetischen Schriftstellerverbandes (1987), dem Deutschen Jugendliteraturpreis, Sparte Übersetzung (1992), dem Bundesverdienstkreuz (2000) sowie in Anerkennung seines Lebenswerks dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (2001).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.