Buch, Deutsch, 228 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 190 mm
Reihe: Anthologie Nr. ... der Creativo, Initiativgruppe für Literatur, Wissenschaft und Bildende Kunst
Buch, Deutsch, 228 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 190 mm
Reihe: Anthologie Nr. ... der Creativo, Initiativgruppe für Literatur, Wissenschaft und Bildende Kunst
ISBN: 978-3-945346-75-4
Verlag: Fabuloso
Freiheit – für uns ein fast alltägliches Wort.
Für andere Menschen ein unerreichbarer Zustand.
Wir leben heute in einem freien Land. Aber das ist keine Selbstverständlichkeit.
Vor 30 Jahren fiel die innerdeutsche Grenze und die Mauer in Berlin. Tausende Menschen strömten von Ost nach West und umgekehrt.
Viele suchten die Freiheit. Haben sie sie gefunden?
In besonderem Maße waren Berlin als geteilte Stadt und das Eichsfeld als geteilte Landschaft von der Teilung betroffen. Ist nach all den Jahren der Einheit die Freiheit noch das, was die Menschen heute suchen?
Die Autorinnen und Autoren der Creativo erzählen in diesem Buch in vielfältiger Weise wie sie Freiheit erlebt haben und noch erleben. Die Geschichten handeln von Menschen, die nicht frei sind, erzählen von Träumen, die vom Wunsch nach Freiheit geprägt sind. Oder beleuchten in humorvoller Weise die kleinen Unfreiheiten des Alltags.
Nehmen Sie sich die Freiheit einer Pause, lehnen sich zurück und lassen sich entführen in die Freiheit der Gedanken.
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Gefangen
Er versuchte, sich zu bewegen. Unmöglich. Eingezwängt. Nicht einen Millimeter Platz, um den Körper zu drehen oder in irgendeiner Weise seine Lage zu verändern. Gefangen wie in einer Zwangsjacke. Stund um Stund enger. Nicht auszuhalten.
Der einzige Gedanke, für den Platz blieb, war: „Ich muss hier raus!“
„Raus!“, schrie alles in ihm. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu strecken, seine Glieder lang zu machen. Gekrümmt und zusammengedrückt saß er fest.
Wie hatte es nur so weit kommen können?
Bis vor ein paar Wochen war sein Leben noch einigermaßen passabel verlaufen. Er hatte alle Annehmlichkeiten, die sich ihm boten, genossen. Essen! Das war seine größte Leidenschaft gewesen. Nie konnte er genug bekommen. Essen war sein Bestreben, wenn er am Morgen aufwachte, und nur der Schlaf in der Nacht konnte ihn davon abhalten. Er fraß sich regelrecht durchs Leben, disziplinlos, gierig. Freundschaften ignorierte er, schiss darauf.
Ja, er selbst war schuld an dem Dilemma. Auf Hilfe konnte er nicht hoffen. Das wusste er genau. Aus lauter Übermut, vielleicht sogar einer Portion Überheblichkeit, hatte er sich in diese missliche Lage gebracht.
„Ich nehme mir, was ich will, und ich tu´, was ich will“, war sein Leitspruch gewesen. Damit hatte er allen Gefahren, und es gab nicht wenige in seinem Leben, getrotzt. Er hatte sich rundum wohl gefühlt. Doch dann war er auf die, wie ihm nun schien, verrückte Idee gekommen, sich ein Haus zu bauen. Ganz allein nur für sich. Jeder, der etwas auf sich hielt, hatte eine Immobilie. Sein eigenes Werk sollte es werden, von der Statik bis zur Vollendung. Seins. Auf ihn zugeschnitten, genau in der richtigen Größe.
Und nun? Er hatte nicht an alles gedacht, Fehler gemacht, sich aus Sicherheitsgründen isoliert, abgenabelt vom Rest der Welt.
Vor lauter Tatendrang hatte er sogar vergessen, für Nahrung zu sorgen. Oder war er des Essens überdrüssig geworden? Er wusste es nicht mehr. In den ersten Tagen, als ihm die missliche Lage bewusst wurde, hatte er sogar ans Sterben gedacht. Leben ohne Nahrung, war das überhaupt möglich? Er bezweifelte es zutiefst. Und doch, er hatte verlernt hungrig zu sein. In seinen Träumen, und das war im Moment die einzige Beschäftigung, kam Essen überhaupt nicht mehr vor. Das wunderte ihn ungemein. Plötzlich wollte er frei sein! Die Welt entdecken, ihre Schönheiten, ihre grenzenlose Vielfältigkeit bestaunen. Nur davon träumte er noch.
Seine Einstellung zum Leben hatte sich hier im Verlies, wie er sein Haus nun betitelte, grundlegend verändert. Er kam sich verletzlicher, empfindsamer, zarter vor. Irgendwie anders. Er wunderte sich über sich selbst.
Und plötzlich war er wieder da, der unbändige Drang hinauszukommen, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Er gab ihm die Energie, es zu versuchen. Wenn er seine Gliedmaßen schon nicht bewegen konnte, seine Kaumuskulatur war trainiert noch aus der Zeit, als Essen für ihn das Wichtigste im Leben war.
Zielstrebig versuchte er seine eigene Behausung, die ihm so viel Mühe und Arbeit gekostet hatte, zu zernagen. Es ging nicht! Er konnte nicht mehr zubeißen! Was war nur los mit ihm? Mit aller Kraft drückte er sich gegen die Wand.
„Ich muss hier raus!“ Wieder und wieder presste er sich dagegen, bis es knisterte. Sein Haus bekam einen Riss! Durch einen Schlitz sah er die Sonne! Er empfand den warmen Strahl, der ihn am Kopf traf, wie ein Band, das ihn hinauszog aus der Gefangenschaft in die Freiheit. Warum hatte er dieses alles durchflutende Licht früher ignoriert? Wunderbar schien es auf ihn herab. So warm und golden! Demütig, aber auch genussvoll, hielt er sein Antlitz der Sonne hin. Sie schenkte ihm wohlwollend neue Energie, die er brauchte, um sich hinauszuzwängen. Hin und her wand er sich. Millimeter für Millimeter drückte er sich hinaus. Den letzten Rest schaffte er mit einem Ruck. Erschöpft blieb er liegen. Würde er noch einmal die Chance haben, die Welt mit anderen Augen zu sehen?
Er ließ den zerknitterten Körper von der Sonne wärmen, streckte die steifen Gliedmaßen. Langsam erhob er sich, entfaltete seine Flügel, betrachtete voll Freude ihre Schönheit und Farbenvielfalt und entschwand in unendlicher Leichtigkeit in die Freiheit.
Grenzen der Freiheit
Auf der höchsten Stelle der Klippe Cap de la Chévre in der Bretagne stehe ich und trotze dem Wind, der über dem Atlantik einzelne kleine Wolken auf mich zutreibt.
Die Sonne steht direkt über mir und aus dem nahen Dorf höre ich die Mittagsglocken.
Mein Blick findet keinen Halt. Ich schließe die Augen und breite die Arme aus. Es stellt sich ein Gefühl vom Fliegen ein. Die Klippe ist hier 96 Meter hoch. Tief unter mir tost die Brandung.
Die Luft ist salzig. Ich schmecke den Atlantik. Möwen schreien gegen den Wind an. Ich fühle die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht.
Wenn ich hier noch länger stehe, werde ich morgen einen Sonnenbrand haben … doch das Gefühl von Freiheit ist berauschend! Ich werde bleiben.
Meine Sinne erfahren ihre Begrenzung spätestens am Horizont, aber die Gedanken wandern weiter – bis nach Amerika und auch in die nördliche Richtung, nach Wales. Dorthin möchte ich irgendwann einmal. Nach Süden hin liegt Nordspanien, das wir so gern bereist haben.
Bei dem Land, das weit hinter mir liegt, Deutschland, denke ich nur an seine Enge. Von Freiheit spüre ich dort wenig.
Hier ist noch nicht einmal ein Geländer. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Die Treppen oder Klippen in Frankreich haben nur Begrenzungen, wenn es wirklich notwendig ist.
Ich denke an das berühmte französische laissez faire – lass es laufen – oder mit anderen Worten: Misch dich nicht ein, wenn es nicht notwendig ist.
Diese Einstellung beinhaltet ein großes Maß an Freiheit. Die Grenzen der Freiheit sind weit gesteckt.
Sind meine Gedanken frei, wie es in dem alten Lied gesungen wird? Nun, es gibt keine Gedankenpolizei, aber trotzdem sind viele Gedanken verboten.
Es wird gesagt, dass dieses Lied aus dem 18ten Jahrhundert das beliebteste deutsche Volkslied sei.
Warum wohl? Kann es sein, dass wir eine unbestimmte Sehnsucht nach Freiheit haben, weil wir sie vermissen?
Das Gefühl von Freiheit macht auch schwindelig. Das Wort schwindelig beinhaltet das Wort schwindeln, also lügen. Lügt mir mein Gefühl in solchen Situationen nur etwas von Freiheit vor? Rundherum nur Luft und Wind. Das wird von vielen Menschen nicht ertragen. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich auf festem Boden stehe, vergeht das unerträgliche Gefühl.
Hoch oben auf einem Felsen oder Berg erleben meine Sinne ein großes Maß an Freiheit, aber ich spüre auch die Grenzen.
Die Gedanken sind so lange frei, bis sie erraten werden, wie es im Lied heißt. Wenn ich in meinen Gedanken keine Grenzen kenne, werde ich dann auch schwindelig? Brauche ich eine Gesellschaftsordnung, die mir Vorschriften macht, eine Religion, die Gebote und Verbote für mich hat? Kann ich ohne diese Hilfen mit anderen Menschen leben?
Nein, denn meine Freiheit hört dort auf, wo die Freiheit des Nachbarn beginnt.