E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Bugul Riwan oder der Sandweg
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-293-31001-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-31001-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Ken Bugul ernüchtert aus Europa in ihr Dorf zurückkehrt, ist sie zu einer Außenseiterin geworden. Sie ist die Gescheiterte, die mit leeren Händen nach Hause gekommen ist - ohne Geld, ohne Mann, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll. Erneut macht sie sich auf die Suche. Fasziniert von Sanftmut und Toleranz des großen Serigne, zieht sie an seinen Hof und wird zu seiner achtundzwanzigsten Ehefrau.
Dieser Roman erzählt mutig über afrikanische Traditionen und Polygamie, Verführung und Selbstbestimmung.
Riwan oder der Sandweg wurde zu einem der hundert bedeutsamsten afrikanischen Bücher des 20. Jahrhunderts gewählt und mit dem wichtigsten afrikanischen Literaturpreis (Grand Prix Littéraire de l’Afrique Noire) ausgezeichnet.
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An einem Montag. Markttag. In Dianké. Vor dem Tor zum großen Gehöft des Serigne, in Dianké, hatte ungewöhnlicher Lärm die Aufmerksamkeit jener Neugierigen erregt, die sich um diese Zeit in der Gegend aufhielten, um sich ihren Anteil an der riesigen Schüssel mit Essen zu sichern, die der Serigne möglicherweise stiften würde, oder gar – höchst seltener Segen –, um Geld zu ergattern, das er den Bedürftigen vielleicht sogar persönlich aushändigen würde, zum Unterhalt ihrer Familien. Das kam heutzutage häufig vor, hier wie andernorts. Die Ursachen dafür waren bekannt, doch den großen Verantwortungsträgern dieser Welt ging es nicht um die Bekämpfung der Ursache aller Ursachen, sondern vielmehr um die politische Vereinnahmung ihrer dramatischen Folgen. Und zum ohnehin schon grässlichen Vokabular dieser Zeit kamen Wörter wie Riss, Ausgrenzung, Obdachlose und ähnliche hinzu. Als hätten ethnische Säuberung, Genozid, Massaker an Frauen, Kindern, Intellektuellen, Touristen, Flüchtlingen den unmenschlichen Kreis unseres Jahrtausends im Todeskampf nicht längst geschlossen. Was die Verantwortungsträger dieser Welt allerdings nicht um ihre Arbeit gebracht hat. Während die Arbeitslosen arbeitslos blieben und Schinder und Scharfrichter weiterhin Menschen umbrachten. In einem Winkel vor des Serignes Gehöft, in Dianké, ein wenig abseits, bemühten sich drei Personen nach Kräften darum, einen Hünen zu bändigen, der sich gegen sie wehrte: »Halt ihn fest!« »Richtig festhalten!« »Pass auf, dass er dich nicht verletzt!« »Der Kerl ist wahnsinnig, wahnsinnig verrückt, verrückt und gefährlich. Und so starke Verrückte sind noch gefährlicher.« Der Mann war allerdings an Händen und Füßen gefesselt. Er trug eine halb zerrissene Pluderhose. Sein kräftiger Oberkörper war nackt. An seiner schweißnassen Haut klebte Staub. Wütend zerrte er an seinen Fesseln und schnaubte wie ein verwundeter Stier im Kampf. Er brüllte wie ein Raubtier, schaute jedoch ein ums andere Mal verängstigt um sich. Er war attraktiv. Ich fand ihn attraktiv. Ich wartete seit dem Morgen hier, hielt ein Buch in der Hand. Ich war weder gekommen, um etwas zu essen, noch, weil ich Geld für Besorgungen auf dem Markt brauchte. Ich war einfach dort. Wenn auch nicht zufällig. Ich wollte den Serigne sehen, ohne besonderen Grund zwar, doch ich musste ihn sehen. Das Tor zu des Serignes Gehöft war stets geschlossen. Die drei Personen waren noch immer mit ihrem Verrückten befasst. Trotz ihrer übermenschlichen Anstrengungen vermochten sie nicht, ihn zu bändigen. So hatten sich vor des Serignes Gehöft schon eine Menge Menschen eingefunden. Seine Gefolgsleute warteten darauf, dass das Tor sich öffnete, um ihm verschiedenste Klagen, Beschwerden und Beichten vorzutragen. Die Menge war ruhig, alle Blicke auf den Entfesselten in Fesseln gerichtet. »Euer Kamerad sieht ziemlich müde aus«, befand ein Mann, der sich hier auszukennen schien. »Er ist sogar mehr als müde, er ist verrückt. Er strapaziert uns. Wir sind seit gestern mit ihm unterwegs. Wir kommen aus Ndiambour, dort war er eine Weile bei einem Heiler in Behandlung, in Beureup, so heißt der Ort. Wir haben Unbeschreibliches durchgemacht. Seit gestern haben wir praktisch keinen Bissen mehr gegessen, und wir können nichts machen, weil wir ihn ständig beobachten müssen, und weil er so stark ist, der starke Verrückte, können wir ihn auch zu dritt kaum bändigen. Wir mussten ihn fesseln, was ihn wohl erst recht wahnsinnig gemacht hat. Weil sich in Beureup sein Zustand nicht gebessert hat und er im Gegenteil immer verrückter wurde, hat uns jemand geraten, uns hier an den Serigne zu wenden. Bei seinem Leben hat er uns geschworen, dass unser Mann geheilt würde.« Der Verrückte war ein schöner Mann, stattlich schön sogar, und in seinem Wahnsinn scheinbar noch attraktiver. Seine Haut, von Schweißperlen übersät, schillerte wie tausend wilde Feuer. Plötzlich ging ein Ruck durch die Menge: Das Tor zu des Serignes Gehöft hatte sich soeben von innen einen Spaltbreit geöffnet. Der mit der Örtlichkeit vertraut wirkende Mann erhob sich sofort unauffällig, zwängte sich durch den schmalen Spalt und schloss das Tor hinter sich. Die Person, die das Tor von innen geöffnet hatte, war nicht zu sehen gewesen. Wer schon aufgestanden war, setzte sich wieder. Nur der Verrückte hatte sich nicht gerührt. Er schien mit großer Neugier die halb mit Staub bedeckte Menge zu beobachten. Seine Bewacher wollten ihn zwingen, sich endlich hinzusetzen, vergebens. Stehend war er noch kraftvoller und faszinierte mich umso mehr. Das Tor zu des Serignes Gehöft öffnete sich erneut, und der mit dem Ort Vertraute – der Wächter vielleicht – kam auf mich, die etwas abseitssaß, zu. »Der Serigne bittet Sie herein.« Ich stand auf, klopfte mir diskret den Staub aus den Kleidern. Beim Serigne saß man stets auf dem Boden. Die Menge wurde plötzlich auf mich aufmerksam, und ich spürte neugierige Blicke auf mir. Manche Leute warteten vielleicht schon seit dem Vortag. Sie mochten die Nacht im Gamat verbracht haben, einer großen Hütte vergleichbar, ohne Wände, mit Blechbahnen, manchmal mit Stroh gedeckt, oder sie hatten unter den Bäumen geschlafen, bei ihren Gespannen, unter freiem Himmel. Andere waren sehr früh an diesem Morgen hier eingetroffen. Vor dem Gehöft, etwas abseits, standen vereinzelte Karren, schräg gestellt, und Pferde senkten ihre Köpfe in Futtersäcke, ließen ihr Fell dabei zucken. Ich traf den Serigne in seinem Zimmer an. Er trug gut gestärkte, frisch geplättete Kleidung. Der Raum roch intensiv und angenehm. Zweifellos ein Duft von Bourjois. Der Serigne mochte diese Marke sehr. Jicky von Guerlain hingegen war das Lieblingsparfum des Großen, des Größten Serigne. Man erzählt sich, er habe sein Bett damit beträufelt, bevor er den heiligen Koran darauf legte. Jicky. Von Guerlain. Ich begrüßte den Serigne ehrerbietig, indem ich, mich mit beiden Händen abstützend, auf die Knie ging. Er reagierte mit einem »Bissimila« auf meine Begrüßung und bat mich, näher zu treten. Ich kam seiner Aufforderung nach, kroch auf ihn zu wie ein Baby und setzte mich schließlich auf meine Pohälfte, ein Bein über dem anderen. »Hast du gefrühstückt?«, fragte er mich. »Ja, ich habe bereits gefrühstückt«, antwortete ich. »Was führt dich hierher?«, fragte er weiter, um den Grund für meinen Besuch zu erfahren. »Brauchst du etwas?« »Nein, ich brauche nichts, ich wollte Euch nur besuchen«, sagte ich, mit gesenktem Kopf. Er fuhr fort: »Du kommst erst jetzt? Seit wann bist du zurück?« »Ich war schon einmal hier, doch man sagte mir, Ihr seid in Daroulère.« »Du hättest nach Daroulère kommen sollen«, sagte er. »Ja, das hätte ich tun sollen.« Auch mit gesenktem Haupt spürte ich seinen strengen Blick auf mir ruhen. Seine Worte gaben mir zu denken. Wo warst du so lange? Kennst du Amerika? Dort wird die Welt zu Ende gehen. Dort wird das Jüngste Gericht stattfinden. Kannst du mir sagen, wie Chinas Berge heißen? Kennst du die Flüsse Indiens? Kennst du Euphrat und Tigris? Diese Gewässer bergen ein Geheimnis. Er redete mit mir, angeregt und strahlend. Ich hörte ihm zu, staunte darüber, wie viel er wusste, war von seinen Worten fasziniert. Tigris und Euphrat … Vielleicht würde ich eines Tages, vor dem Ende der Welt, in sie eintauchen und die Geheimnisse lüften, von denen er sprach. »Was hast du in der Hand?«, fragte er mich nach einer Weile. »Ein Buch«, stammelte ich. »Und was steht drin in diesem Buch?« »Es handelt von Frauen«, erwiderte ich. »Ein Buch über Frauen? Und was sagt man über sie?« »Es geht um ihre Geschichte, seit dem Anbeginn der Zeit, um ihre Entwicklung …« Statt mir Zeit für weitere Erläuterungen zu lassen, bat er mich, ihm zu berichten, was in diesem Buch stand. Der Serigne konnte das lateinische Alphabet nicht lesen. Meine Mutter auch nicht. »Ich werde nicht alles erzählen können, weil ich das Buch noch nicht zu Ende gelesen habe, und es ist sehr umfangreich. Ich kann nur sagen, dass es um Frauenprobleme geht, dargestellt von anderen Frauen.« »Soll das heißen, Frauen haben Probleme? Das sollten sie nicht, sie wurden nicht erschaffen, um Probleme zu haben, im Gegenteil«, sagte er amüsiert. »Trotzdem«, fuhr ich fort, »scheinen sie viele zu haben, nicht direkt Probleme, eher Sorgen. Es gibt Frauenverbände, die solche Probleme oder Sorgen erfassen, Frauenverbände, die Lösungen für diese Probleme vorschlagen, Frauenverbände, die vor Ort arbeiten, Frauenverbände zum Schutz der Frauen. Mittlerweile wird viel für die Frauen getan: Studien, Forschung, Kolloquien, Foren. Es gab ein Internationales Jahr der Frau, dann das Jahrzehnt, dann …« »Soso«, sagte er, »und dann, was kommt nach...