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E-Book, Deutsch, 286 Seiten

Bürger Der Neckar

Eine literarische Reise
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-406-64693-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine literarische Reise

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

ISBN: 978-3-406-64693-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



An den Ufern des Neckars, zwischen dem Schwenninger Moos und Mannheim, hat sich seit dem Mittelalter eine einzigartige Kulturlandschaft gebildet, die besonders im 19. und 20. Jahrhundert europäische Bedeutung gewann. Kaum eine Region hat für die intellektuelle Entwicklung Deutschlands eine vergleichbare Rolle gespielt, man denke nur an Hölderlin und Schiller, Waiblinger und Mörike, Kerner und Uhland, aber auch an Berthold Auerbach, Hilde Domin, Hermann Lenz und Siegfried Unseld. Tübingen und Heidelberg, Esslingen und Stuttgart, Ludwigsburg und Marbach – Jan Bürgers anschaulich, kenntnisreich und farbig erzähltes Buch über die historisch-kulturellen Dimensionen des Neckartals, das dem Flusslauf folgt und die zentralen Orte beschreibt, fordert geradezu dazu auf, selbst die Reise den Neckar entlang anzutreten.

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1.
Tübingen
März 2011 – Der Hölderlinturm – Scardanellis ungebetene Gäste – Wilhelm Waiblinger und sein krankes Idol – Feuer im Klinikum – Ein Gedächtnisort wird geschaffen 23. März 2011, eine Bank am Ufer unterhalb der Bursagasse: Gegenüber verdoppelt der Fluss den Anblick der Platanen. In ihren kahlen Kronen zetern Krähen. Es riecht nach Frühling, doch die Morgensonne ist noch winterlich schwach. Die dünnen Zweige einer Trauerweide zittern unter dem Gewicht einer Amsel und streifen mit ihrem frischen Grün beinahe die stille Wasseroberfläche. Zwei Enten, die Köpfe zwischen den Flügeln verborgen, lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Am 20. März 1770 kam Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar zur Welt. Gut 73 Jahre später, am 7. Juni 1843, starb er hier, in Tübingen, in jenem verwinkelten Gebäude am Fluss, das damals schon zu einem weithin bekannten literarischen Ort geworden war. In ihm verbrachte Hölderlin die Hälfte seines Lebens. Aber mit dem Dichter, der er einst gewesen war, hatte er in dieser Zeit nicht mehr viel gemein. «Man hatte sich hier so an sein stilles Daseyn gewöhnt», schrieb Gottlob Kemmler in seinem Nachruf, «daß uns am 8ten Juni die Nachricht von seinem in der verflossenen Nacht erfolgten Tode wirklich überraschte. Ein leichter Katarrh löste den schon so vielfach bestürmten Organismus ohne Schmerzen vollends auf.»[1] Kemmler war Student am nur wenige Schritte entfernten Evangelischen Stift, das 1536 als staatliche Ausbildungsstätte für den Theologennachwuchs begründet worden war und bis heute einer der wichtigsten Orte schwäbischer Gelehrsamkeit geblieben ist. Johannes Kepler und der einflussreiche Pietist Johann Albrecht Bengel zählten einst ebenso zu den Stiftlern wie Hölderlin und dessen Freunde Hegel und Schelling. Für Gottlob Kemmler scheint es selbstverständlich gewesen zu sein, sich gelegentlich in die Bursagasse zu begeben, um den greisen Dichter in Augenschein zu nehmen. Im breitgetretenen Laub des vergangenen Herbstes glitzern Kronkorken wie Katzengold: ‹Veltins›, ‹Sanwald› und ‹Beck’s›. Für Kemmler und seine Kommilitonen gehörten Besuche bei Hölderlin zu den Ritualen des Tübinger Studentendaseins, fast so wie die notorischen Gelage. Die rostigen Metallringe in der betonierten Uferböschung, an denen im Sommer die berühmten Stocherkähne befestigt werden, gab es hingegen noch nicht – die Tradition des geselligen Bootfahrens ist in Tübingen nicht älter als die Versorgung der Haushalte mit Elektrizität. Erst nachdem der Lauf des Neckars zwischen 1909 und 1912 zum Schutz vor Hochwasser ‹korrigiert› und durch Schleusen und ein Wasserkraftwerk beruhigt worden war, richtete man die Landeplätze für Stocherkähne ein. Hölderlin wird, am Fenster stehend, vorwiegend Fischer und Flößer zu Gesicht bekommen haben, die auf dem Neckar stocherten. War es wirklich nur seiner Krankheit geschuldet, dass er sich in seinen letzten Jahren Phantasienamen gab, seine sorgfältig ausgeführten Schriftproben, von denen sich einige erhalten haben, mit ‹Scardanelli› unterzeichnete und scheinbar willkürlich mit Daten aus der Vergangenheit oder der Zukunft versah? War das nicht auch der hilflose, selbstverständlich neurotische Versuch, sich dagegen aufzulehnen, in ein lebendes Exponat verwandelt worden zu sein – zum erschreckenden Schatten einer Künstlerexistenz, zu der Hölderlin selbst keinen Zugang mehr zu haben schien? War die «Anhänglichkeit», welche die «akademische Jugend dem wahnsinnigen Dichter in Tübingen bewahrt» hatte, wie Georg Herwegh bereits 1839 schrieb, wirklich nur «rührend» und der Begeisterung für Hölderlins Briefroman Hyperion geschuldet? Oder redete Herwegh in seinem revolutionären Überschwang Hölderlins Lage schön, indem er hoffte, es sei «mehr als Neugierde» gewesen, mit der die Studenten «zu dem 70jährigen Greise» pilgerten, der ihnen nichts mehr zu bieten hatte «als einige übelgegriffene Akkorde auf einem elenden Klaviere»?[2] ‹Der Sommer›, geschrieben von Hölderlin im Juli 1842 Zumindest der junge, 1823 geborene Kemmler wirkt in seinem Nachruf vor lauter Wohlwollen Hölderlin gegenüber vor allem eines – herablassend und übergriffig, wenn auch ungewollt. Der größte Lyriker des 19. Jahrhunderts ist in den Erinnerungen des Studenten am Ende kaum mehr als ein debiler Schausteller: «Das freundlichste Bild gab er uns in der lezten Zeit, wenn er, am Pulte stehend, seine Gedanken zum ‹dichtenden Gebet› zu sammeln rang; da war alle Aengstlichkeit von der gedrückten Stirne weggeflohen, und eine stille Freude verbreitete sich darüber; man mochte noch so laut um ihn her sich unterhalten, ihm über die Schulter sehen, nichts vermochte ihn da zu stören.»[3] Auf diese Weise wurden dann Strophen wie die folgende überliefert, rhythmisch stimmig, makellos im Formalen und doch durch die Wiederholung eines äußerst beschränkten Motiv-Vorrats geradezu abstrus. ‹Scardanelli› datierte das Gedicht auf den 24. Mai 1758: Der Sommer. Im Thale rinnt der Bach, die Berg’ an hoher Seite,
Sie grünen weit umher an dieses Thales Breite,
Und Bäume mit dem Laube stehn gebreitet,
Daß fast verborgen dort der Bach hinunter gleitet. So glänzt darob des schönen Sommers Sonne,
Daß fast zu eilen scheint des hellen Tages Wonne,
Der Abend mit der Frische kommt zu Ende,
Und trachtet, wie er das dem Menschen noch vollende. mit Unterthänigkeit
Scardanelli. Ferdinand Schimpf, ein weiterer Stiftler, stellte Hölderlins Datierung unter dem schlichten Gedicht richtig. In Wirklichkeit sei Der Sommer im Juli 1842 niedergeschrieben worden, ein knappes Jahr vor Hölderlins Tod. Schimpf gibt auch Auskunft darüber, wie das Blatt entstanden ist. Die Situation gleicht der von Kemmler beschriebenen: «Stud.[ent Friedrich] Habermaaß, der in Schreiner Zimmers Haus wohnte, machte mir und Freund Keller Gelegenheit, den wahnsinnigen Dichter H.[ölderlin] zu sehen u. zu sprechen, indem er denselben einlud in Habermaaß Zimmer eines Nachmittags einen Kaffee mit uns zu trinken. Bei dieser Gelegenheit schrieb uns auf Ersuchen der unglückliche Dichter obige Verse ex tempore nieder. Wenn wir ihn bei s.[einem] Namen nannten, ließ er’s nicht gelten, sondern erwiederte: ‹Sie sprechen mit HE. Rosetti.› Er war schrecklich komplimentös.»[4] In der Regel waren es Hölderlins Zimmernachbarn, die den Kranken mit Fremden konfrontierten. Das von Schimpf überlieferte Blatt ist exemplarisch: Als Scardanelli, Rosetti oder Buonarotti richtete sich Hölderlin nicht nur in Parallelexistenzen ein, er behauptete auch, in einer anderen Zeit zu leben. Dabei fällt auf, dass er bei seinen fiktiven Datierungen oft den 24. eines Monats wählte. Möglicherweise spielte er damit auf Jesus Christus an. Aber wozu dies alles? Vielleicht ist die Frage müßig, auf der Grundlage der wenigen überlieferten Zeugnisse wird wohl niemand den Sinn solcher Normabweichungen erschließen können. In den meisten Fällen lassen sich die Verse, die Hölderlin den ungeladenen Gästen mitgab, in ihrer verstörenden Luzidität immerhin mit der Neckarlandschaft in Verbindung bringen, mit dem Blick aus den Fenstern seines Asyls, mit der Nähe zum Schwarzwald, dessen Holz damals, zu gewaltigen Flößen zusammengebunden, den Fluss bis in den Rhein hinabgetrieben wurde. Zu Hölderlins Zeiten war der Neckar vor allem ein Handelsweg: eine der wichtigen Wasserstraßen nach Holland, wo große Holzmengen für Schiffe und Häuser benötigt wurden, und damit zum Meer. Auch wenn Tübingen kein Floßlandeplatz war, vermittelte die Präsenz der Flößer im Alltag der Universitätsstadt eine Ahnung von einem vollkommen anderen Leben. Sie machten deutlich, wie eng der schwäbische Kosmos war, so eng, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich unmöglich war, in Tübingen zu studieren, ohne auf den kranken Dichter aufmerksam zu werden, der in unmittelbarer Nähe der wichtigsten Universitätsgebäude lebte. Hölderlins Begegnungen mit seinen Besuchern verliefen keinesfalls immer harmonisch. Neben der fast stereotypen Idealisierung der ‹griechischen› Schönheit seines Gesichts, seiner hochgewölbten Stirn und seines Blicks, «an welchem der Wahnsinn keine Spur hinterlassen hatte»,[5] finden sich in mehreren Berichten auch Äußerungen über Wutausbrüche. Wenige Wochen vor seinem Tod soll er den Schriftsteller und Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer gar «hinter den Ofen» geworfen haben.[6] Diese Darstellung könnte überzeichnet sein. Doch auch wenn Hölderlin Vischer tatsächlich angegriffen hat, so handelte es sich bei dem Vorfall sicher um eine Ausnahme. In den ersten Jahren seiner Krankheit soll er oft ‹getobt› haben, später aber muss er sich in der Regel...


Jan Bürger, 1968 geboren, wurde über Hans Henny Jahnn promoviert, gehörte zu den Gründungsredakteuren der Zeitschrift 'Literaturen' und arbeitet seit 2002 am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Wichtige Veröffentlichungen: Verlängerte Reise. Roman (2000), Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn (2003), Benns Doppelleben (2006), Max Frisch: Das Tagebuch (2011). Bekannt wurde er auch durch zahlreiche Zeitungsbeiträge, u.a. für die 'ZEIT' und die 'FAZ'.



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