E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Bueno / Macip / Martorell Lara oder Der Kreislauf des Lebens
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25637-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-25637-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Bueno ist Genetik-Dozent und Forscher an der Universität in Barcelona. Er arbeitet außerdem als Autor für Hörfunk und Fernsehen. Lara oder Der Kreislauf des Lebens (2017) ist sein erstes Jugendbuch bei Hanser, das er zusammen mit Salvador Macip und Eduard Martorell verfasst hat.
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I
Als Lara die Augen öffnet, findet sie sich in einem karg eingerichteten Raum wieder. Es fehlt das freundlich anmutende Ambiente der Station, auf der sie die vergangenen Tage verbracht hat. Vielleicht kommt ihr das aber auch nur so vor, weil die Umgebung neu ist, ungewohnt, und weil Lara diesen Raum mit dem Gefühl der Aussichtslosigkeit verbindet, mit dem Abgrund, dem sie durch ihre Krankheit immer näher kommt.
Das beherrschende Weiß, diese absolute Reinheit, kommt ihr wie der verzweifelte Versuch vor, alles fernzuhalten aus diesem Raum, was den unglückseligen Menschen schaden könnte, die hier ihre Nächte verbringen müssen. An einer der sonst durchgängig kahlen Seitenwände nimmt Lara ein einziges kleines Fenster wahr; auf der gegenüberliegenden Seite verbindet eine Glasscheibe ihr Zimmer mit dem Raum, in dem die Schwestern rund um die Uhr vor den Monitoren Wache halten. Davon abgesehen beschränkt sich die Ausstattung auf einen Stuhl und einen Nachttisch.
Lara ist überrascht, ihre Bücher auf dem Nachttisch zu sehen, aber sie ist auch dankbar dafür. Sie braucht irgendeinen Bezugspunkt, etwas in ihrer Nähe, woran sie sich festhalten kann bei all der Ungewissheit. Sie wird die Nacht alleine verbringen müssen, angeschlossen an eine Maschine, die kontinuierlich ihren Herzschlag aufzeichnet, mit einem Schlauch in der Vene, der ihr beständig die Infusion mit dem neuen Medikamentencocktail zuführt, und einem weiteren in der Lunge, der zwischen den Rippen hindurchführt und das sich ansammelnde Wasser absaugt, das ihrem Körper die Sauerstoffaufnahme zunehmend erschwert. Wo sie schon ihre Familie nicht bei sich haben kann, erinnern sie doch zumindest die Bücher daran, dass es ein Leben außerhalb dieser übertrieben keimfreien Umgebung gibt.
Ein Leben, das ich vielleicht nie mehr führen werde, dachte sie.
Sie hat nämlich immer weniger Antrieb, um ihr Leben zu kämpfen. Etwas oberhalb des Bettes, gleich neben ihrer Hand, ist der Knopf, mit dem sie die Schwestern rufen kann; nur weiß sie nicht, ob sie überhaupt genug Energie aufbringen könnte, um ihn im Notfall zu betätigen.
Sie bemerkt, dass man ihr auch das Handy gebracht hat. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass sie genug Kraft hätte, mit jemandem zu sprechen. Etwas zu optimistisch, denkt Lara. Die Finger würden ihr gar nicht gehorchen, wenn sie versuchen würde, eine Nummer zu wählen. Sie hätte allerdings auch keine Lust dazu. Wenn sie das Telefon jetzt einschalten würde, würde sie als Erstes eine Nachricht vorfinden, die sie nicht beantworten will. Und dann wären da bestimmt noch fünf oder sechs weitere Nachrichten derselben Person. Damit kann sie sich jetzt nicht beschäftigen.
Einen Moment lang schließt sie die Augen und versucht, tief Luft zu holen, aber die Rippen wollen sich nicht heben; es ist, als wären sie zusammengeschweißt. So gut es geht, nutzt sie das bisschen Luft, das es in ihre Lunge geschafft hat, um ein wenig ruhiger zu werden.
Dr. Rovira wollte ihr vorhin Mut machen. Doch Lara bemerkte etwas in seinen Augen, das zuvor nicht da gewesen war, auch wenn er sein Bestes gab, es zu verbergen. Er sagte, dass sie vor allem nicht den Mut verlieren dürfe, dass sie sich weiter anstrengen müsse. Dass sie das alles überstehen würde, wenn sie nur nicht aufgäbe. Dass sie nur ein wenig mehr Geduld haben müsse.
Geduld. Geduld hatte sie wirklich nicht mehr viel. Die anderen Male hatte sie Dr. Rovira und seinem Team blind vertraut, aber diesmal hat sie Zweifel.
Nein. Sie ist allein. Sie und die Krankheit und niemand sonst. Niemand, der ihr helfen kann.
»Du kannst wohl nicht schlafen, hm?«
Lara öffnet die Augen. Vor sich sieht sie eine Gestalt, die so strahlend weiß ist, dass sie im Halbdunkel des Raumes fast aus sich selbst heraus zu leuchten scheint. Eine junge Frau mit Kittel.
»Nein«, sagt Lara, nachdem sie die Frau einen Augenblick gemustert hat. Es hat sie Kraft gekostet, das eine Wort auszusprechen; als wären ihr die Lippen eingeschlafen.
»Wie wär’s mit ein bisschen Gesellschaft?«
In einem ersten Reflex will Lara ablehnen. Aber irgendwie hat diese Ärztin etwas … Vielleicht ist es das Lächeln, vielleicht ihre fröhlichen Augen oder ihr zugewandter Gesichtsausdruck. Vielleicht ist es auch ihr jugendliches Alter, durch das sie ihr näher zu sein scheint als Dr. Rovira, ihre Ausstrahlung, mitten im Leben zu stehen, die Unbeirrbarkeit eines jungen Menschen, der denkt, die Welt läge ihm zu Füßen. Sie weiß nicht, warum, aber diese Frau gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit, als würden sie sich schon lange kennen.
Die Frau deutet ihr Schweigen als Einladung.
Sie nimmt sich den Stuhl und setzt sich neben das Bett.
»Na, dann«, sagt sie mit warmer Stimme, »können wir uns ja ein bisschen unterhalten, bis du eingeschlafen bist. Einverstanden?«
»Geht das? Ich meine, müssen Sie nicht irgendwo anders sein und sich um irgendwas kümmern?«
»Jetzt kümmere ich mich eben um dich. Ist doch auch eine wichtige Aufgabe, oder nicht?«
»Sehr wichtig! Zumindest für mich …« Lara wendet den Blick ab. »Es tut mir sicher gut, wenn jemand da ist. Ich habe eine etwas schwierige Nacht vor mir.«
»Ich weiß.«
»Klar wissen Sie das. Dafür sind ja auch Sie die Ärztin, und ich bin die Patientin. Sie haben doch bestimmt in irgendeinem Bericht gelesen, dass die nächsten Stunden kritisch sind und dass sie nicht wissen, ob ich durchkomme.«
»Das haben sie dir gesagt?«
»Nicht nötig. Ich habe schon so lange mit Ärzten zu tun, dass ich weiß, was sie sagen wollen – selbst wenn sie schweigen. Dazu kommt dann noch irgendein Satz, den man aufschnappt, nicht zu vergessen die besorgten Gesichter meiner Eltern … Und dann natürlich, dass ich mich fühle, als hätte ein Lastwagen mich überfahren. Ich bin am Arsch, so viel ist klar.«
»Hey, du solltest die Dinge nicht so schwarz sehen.«
Lara nimmt alle Kraft zusammen und hebt beide Arme.
»Schauen Sie mich doch an: Ich liege auf der Intensivstation und bin voller Kabel und Schläuche, die in mich rein- und aus mir rausführen. Sieht nicht gut aus, würde ich sagen. Ist ein ziemlich heftiger Anfall. Wenn mein Körper nicht auf die Behandlung anspricht, war’s das. Dann kann keiner mehr was machen.«
»Okay, dann liegt es wohl an dir, deinen Teil beizutragen, oder? Und dann sehen wir, ob wir es alle gemeinsam schaffen.«
»Deinen Teil beitragen« – wieder dieser Ausdruck. Dr. Rovira spricht andauernd davon. »Alles wird gut. Du musst nur deinen Teil dazu beitragen, und schon haben wir wieder alles im Griff.«
»Als ob das so einfach wäre …«, sagt Lara leise.
»Nein, einfach wird es wohl nicht. Aber es ist auch nicht unmöglich.«
Lara schüttelt den Kopf.
»Ihr Optimismus gefällt mir.«
»Das trifft sich gut – Optimismus habe ich nämlich jede Menge auf Lager.«
Die beiden müssen grinsen.
»Na ja, vielleicht schaffe ich es ja wirklich …«, meint Lara und fühlt sich seltsam bestärkt. »Übrigens: Wie heißen Sie eigentlich?«
»Carmen. Sag einfach Carmen zu mir.« Sie sieht Lara fest in die Augen und meint schließlich: »Okay – du bist am Arsch. Das sollten wir akzeptieren.«
»Also, das zu akzeptieren ist einfach!«
»Warte, ich bin noch nicht fertig. Dein Körper gibt sich alle Mühe, mit einem ziemlich heftigen Angriff fertigzuwerden, der noch dazu von innen kommt, von deinen eigenen Zellen. Um dagegen anzugehen, bist du hier am richtigen Ort. Hier bekommst du die bestmögliche Behandlung. Außerdem«, sie zeigt auf die Glasscheibe, »wirst du permanent überwacht. Wenn irgendetwas ist, steht eine Armee von Spezialisten auf der Matte, um dir zu helfen. Dafür ist also schon einmal gesorgt. Was braucht es noch?«
»Keine Ahnung …« Lara tut so, als würde sie nachdenken. »Dass ein Wunder geschieht?«
»Nein«, sagt Carmen lächelnd. Sie scheint amüsiert über Laras Idee. »Ich meine deinen eigenen Beitrag. Was kannst du selbst tun?«
»Pfff …«, schnaubt Lara. »Nichts. Das ist ja das Problem.«
»Stimmt nicht. Du selbst spielst auch eine Rolle bei der Sache. Eine sehr wichtige sogar.«
»Ach! Und welche wäre das?«
»Nicht aufzugeben.«
»Aha.«
»Wirklich. Wenn du sagst: ›Basta, das war’s‹, dann ist Schluss mit lustig. Dein Zustand ist kritisch, Lara, das hast du selbst gesagt, und du musst mit all deiner Kraft darum kämpfen, da wieder rauszukommen.«
»Und wenn ich keine Kraft mehr habe?«
»Wir finden noch Kräfte in dir, keine Sorge.« Ihre Worte klingen bestimmt, als hätte sie nicht den geringsten Zweifel. »Fangen wir doch mal damit an, ein bisschen positiver zu sein.«
»Klar, positiv. Als würde ich gesund werden, wenn ich an zwitschernde Vögelchen und den Sonnenuntergang denke.«
»Na, siehst du, die ersten positiven Bilder hast du schon gefunden.«
»Äh – welches genau?«
»Na, das mit den Vögelchen und der Sonne. Es gibt so viel Schönes um uns herum. So vieles, das es lohnenswert macht, am Leben zu bleiben, um sein Leben zu kämpfen. Die Erde ist ein so faszinierender Ort – sag bloß, das ist dir noch nicht aufgefallen!«
»Doch, klar.« Lara zieht eine Grimasse. »Voller Müll und Mikroben, die einen krank machen, und mit viel zu vielen Menschen, die keinen...