E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Bünnig Worüber wir nicht reden
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7844-8326-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8326-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jenny Bünnig, Jahrgang 1984, studierte Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und promovierte zu melancholischer Zeit- und Raumwahrnehmung. Sie war jüngst Teilnehmerin der Romanwerkstatt der Bayerischen Akademie des Schreibens. Worüber wir nicht reden ist ihr dritter Roman bei LangenMüller.
Autoren/Hrsg.
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Freitag
03:08 Uhr
»Patti? Patti?«
»Hm?«
»Patti?«
»Was?«
»Aufwachen.«
»Was …? Wieso …? Es ist mitten in der Nacht.«
»Der Kürbis friert.«
»Was?« Patrizia rieb sich über die Augen, bemüht, in der Dunkelheit ihres Zimmers herauszufinden, wer vor ihr stand, obwohl sie Daniels Stimme erkannt hatte. »Was für ’n Kürbis?« Verschlafen setzte sie sich im Bett auf.
Der Raum war fast vollständig finster. Durch die Rollos drang wenig Licht von der Straße herein, von der Tür kam ein matter Schein aus dem Flur. Schmale Schnitte in der Dunkelheit, die an den hellen Rändern besonders tief wirkte.
Patrizia hatte noch lange wach gelegen. An fremden Orten zu schlafen fiel ihr schwer. Schon früher. Sie hatte gedacht, dass sie sich irgendwann daran gewöhnen würde. Das tat sie nicht. Jedes Mal, wenn sie umgezogen war, hatte es Tage, manchmal Wochen gedauert, bis sie nicht mehr ständig aufgewacht war und sich gefragt hatte, wo sie war. Manchmal hatten sich die vielen Wohnungen, in denen sie bereits gelebt hatte, so vermischt, dass sie beim Aufstehen gegen eine Tür gelaufen oder falsch abgebogen und im Hausflur gelandet war.
Hier, in ihrem alten Zimmer, war das anders. Alles kam ihr vertraut vor, obwohl es anders aussah. Nur wenige Dinge waren aus ihrem Kinderzimmer geblieben. Die Farbe der Wände war eine andere, in den Regalen und Schränken standen kaum Sachen, die ihr gehörten, und trotzdem fühlte es sich an, als würde sie alles kennen, als wären die Dinge an ihrem Platz geblieben, ohne es zu sein.
Die Umgebung war es nicht gewesen, die Patrizia dieses Mal wach gehalten hatte. Eher Daniels Worte. Und ihre Erinnerungen. Die vielleicht falsch waren. Zumindest aber nicht richtig.
Patrizia musste gerade erst eingeschlafen sein. Nun stand Daniel vor ihrem Bett, selbst bleich und verschlafen, und sagte ihr, sie solle aufstehen? Wegen einem Kürbis? Der fror? Was?
»Was für ’n Kürbis?«
»Papas Kürbis. Der Kürbis im Garten.«
»Was ist damit?«
»Dem ist kalt?«
»Warum?«
»Es friert.«
»Wo?«
»Draußen.«
»Und?«
»Wir müssen den Kürbis zudecken.«
»Ich versteh kein Wort.« Mit einem Stöhnen griff Patrizia zum Nachttisch und schaltete das Licht an.
Helligkeit flutete über das Bett, ein Stück des Teppichs, Daniels Gesicht. Sie musste blinzeln. Endlich konnte sie ihren Bruder klarer sehen. Er trug einen Schlafanzug, eine Jacke, Schal und Mütze. Komisch sah er aus. Ohne Socken war er in seine Schuhe geschlüpft. Sie konnte ihn nicht verstehen.
»Noch mal von vorn.«
»Die Temperaturen sind unter null gefallen.«
»Und weshalb weckst du mich?«
»Weil wir den Kürbis zudecken müssen.«
»Den Kürbis?«
»Dem Kürbis ist kalt. Er darf nicht frieren.«
War das ein Scherz? Merkte ihr Bruder nicht, wie dämlich das klang? Patrizia würde nicht aufstehen. Das konnte er vergessen. Nicht, weil einem hässlichen Riesenkürbis kalt war.
»Dann soll sich Dirk warme Socken anziehen.«
»Wer?«
»Vergiss es. Woher weißt du, dass es friert?«
»Papa hat einen Frostalarm.«
»Was hat er?«
»Er hat mich geweckt und gesagt, dass wir rausgehen und den Kürbis warm halten sollen, damit er keine Frostbeulen bekommt. Es ist ein Notfall. Gewissermaßen.«
»Willst du mich verarschen? Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass ich mitten in der Nacht aufstehe, um es einem Kürbis draußen im Garten schön warm und muckelig zu machen. Und nur weil unser Vater meint, er müsste dich in seine alberne Kürbissache reinziehen, musst du doch nicht gleich springen! Lern mal Nein sagen, Daniel! Wirklich!«
Ihr Bruder stand vor ihr, ohne ein weiteres Wort zu sagen, in seinen taubenblauen Schlafanzughosen, dem taubenblauen Schlafanzugoberteil, das unter der braunen Winterjacke herauslugte, einen dicken ockergelben Wollschal um den Hals und eine backsteinrote Pudelmütze auf dem Kopf. Er sah so sehr wie der kleine, dicke Junge von früher aus.
Patrizia stöhnte auf. »Von mir aus.« Nachdem sie sich aus der Umarmung ihrer Decke gekämpft hatte, schob sie das Gipsbein über den Bettrand, das andere folgte. Daniel reichte ihr die Krücken, die auf dem Boden gelegen hatten. Umständlich stemmte sie sich hoch und brauchte einen Moment, um das Gleichgewicht zu finden. »Ich war gerade eingeschlafen«, murmelte sie vorwurfsvoll, während sie Daniel aus dem Zimmer und nach unten folgte.
In der Küche brannte Licht. Zwischen den Wänden lag diese seltsame, unnatürliche Helligkeit, die es nur nachts gab und die das surrende Geräusch alter Glühbirnen zu machen schien, selbst wenn alles still war. Am Küchentisch saß Janne, eingewickelt in ihre Bettdecke, den Kopf gesenkt.
»Dich haben sie auch in die Sache reingezogen, was?«, fragte Patrizia.
»Allerdings.«
Als ihr Bruder ein komisches Gesicht machte, zuckte Patrizia die Schultern. »Was?«
Mit der Hand fuhr sich Daniel über den Nacken und trat von einem Fuß auf den anderen, wie er es immer machte, wenn er nervös war. Wie ein dicker Tanzbär. Schon als kleiner Junge war Daniel ein dicker Tanzbär gewesen.
»Ich glaub, diese Sache ist Papa wirklich wichtig«, murmelte Daniel und sprach so leise, dass sich Patrizia anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Er sagt es nicht. Du weißt ja, wie er ist. Aber vielleicht … vielleicht können wir ausnahmsweise nicht streiten und die Sache einfach hinter uns bringen? Ich meine …«
Wieder musste Patrizia an den vergangenen Abend denken, wie sie gemeinsam die Betten bezogen hatten. Hatte Daniel recht? Hatte nicht ihre Mutter, sondern ihr Vater mit ihr auf dem Eis gestanden, ihr das Fahren beigebracht, ihre Hände gehalten, damit sie nicht hinfiel? Unmöglich! Ausgeschlossen! Nie im Leben konnte sie sich so falsch daran erinnern. Patrizia war sich sicher. Vollkommen sicher! So war ihr Vater nicht. Er war ganz anders. Er war …
»Bitte«, sagte Patrizia. »Wenn du unbedingt willst. Retten wir Dirk, den Pfannekuchenjungen.« Sie grinste ihre Nichte an. Die grinste zurück.
»Auch schon da?« Winfried trat durch die Tür aus dem Garten in die Küche.
Hinter ihm schloss sich die Dunkelheit draußen wie ein Vorhang. Er wirkte übertrieben munter, hielt eine Taschenlampe in der Hand, mit der er in den Raum leuchtete. Was sollte das? Mit einem Brummen drehte Patrizia den Kopf weg, als sie der Lichtkegel traf, und wäre am liebsten umgedreht und ins Bett zurückgekrochen. Sie blieb stehen.
»Ich hab schon gedacht, datter gar nich mehr aufsteht. Da sind Deckn und Wärmflaschn.« Winfried deutete zum Küchentisch. »Und Abmarsch. Ranhaltn müssnwer uns.« Er wandte sich um, ging wieder hinaus.
In der Finsternis vor dem Fenster sah Patrizia den Schein seiner Lampe.
Ja, so war ihr Vater. Mürrisch. Kurzab. Aufbrausend. Ein Bollerkopf. Schon immer gewesen. Ganz anders als ihre Mutter. Er brachte einem nicht das Schlittschuhlaufen bei, er hielt einen nicht bei den Händen. Aber Daniel war sich so sicher gewesen. Was, wenn doch?
»Wärmflaschen? Ernsthaft?« Patrizia gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Bringen wir’s hinter uns.« Auf ihren Krücken humpelte sie zur Tür, warf sich zwei Decken über die Schulter, als sie am Tisch vorbeikam, und folgte Winfried nach draußen.
Kalt und tintenschwarz war die Nacht. Der Mond musste hinter Wolken verschwunden sein, vom Himmel fiel kein Licht. Die Finsternis füllte den Garten, machte ihn größer, als würde sich die Welt zurückziehen. Die einzige Helligkeit ging von Lampen aus, die Patrizias Vater um den Kürbis aufgebaut hatte. Fast ein bisschen kirchlich. Wie ein Altar. Absolut lächerlich!
Langsam kam Patrizia näher. Sie hatte Schwierigkeiten, auf den Krücken zu gehen, sie sah nicht, wo sie aufsetzen musste, konnte nur spüren, wie weit die Entfernungen waren. Es fühlte sich an, als würde sie über einen See laufen und die Enden der Stöcke irgendwo unter sich ins dunkle Wasser tauchen. Der Untergrund war uneben und weich. Sie fürchtete auszurutschen.
So ein Mist! Was zum Teufel dachte sich Winfried? Wenn er diese dumme Kürbissache durchziehen wollte, bitte! Aber dann allein. Warum mussten sie alle darunter leiden? Das war typisch für ihn. So typisch!
Der Kürbis lag unter dem Sonnenschirm, als wäre helllichter Tag. Die Aufregung um ihn schien ihn nicht zu stören. Im grellen, harten Licht der Glühbirnen sah er sogar noch hässlicher aus. Unförmig, in einem ausgewaschenen Karottenorange. Die Knubbel und Unebenheiten warfen Schatten. Wahrscheinlich waren Kürbisse das abstoßendste Gemüse, das es gab. Und der hier war keines der schöneren Exemplare. So viel war sicher.
Als Patrizia den Rand des Lichtkreises erreicht hatte, den ihr Vater mit den Lampen um den Kürbis gezogen hatte, blieb sie abwartend stehen. Sie hörte, dass ihr Bruder und Janne neben sie traten.
»Und jetzt?«
»Der Boden unterm Kürbis darf nich am Frieren sein. Wir müssn zusehn, dat die Schale warm bleibt. Am besten, wir machn mit ’n Flaschn so ’n Ring drumrum. Dann die Deckn drauf. Ihr müsstse gut feststeckn. Rausguckn darf da nix.«
Kam das Ganze nur...




