E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Büker / Höke Bildungsdokumentation in Kita und Grundschule stärkenorientiert gestalten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-030053-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-17-030053-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Für viele Kinder gestaltet sich der erste Schultag als "Stunde Null" - als hätten kindliche Bildungs- und Lernprozesse nicht schon lange vor dem Eintritt ins Schulleben begonnen. Welche Potenziale, welche Stärken und welches Vorwissen die Kinder zum Schuleintritt schon mitbringen, wird bis heute kaum wahrgenommen, übersehen, oft übergangen. Den Lehrkräften fehlt es schlicht an Wissen über die individuellen Lernausgangslagen ihrer Schulneulinge. Um dem abzuhelfen, wird heute in der Wissenschaft und Praxis intensiv über eine übergangsbegleitende und institutionsübergreifende Bildungsdokumentation für die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern diskutiert. Das Buch rückt die Themen "Beobachtung", "Dokumentation" und "Rückmeldung" als ein zentrales Instrument in den Mittelpunkt gegenwärtiger Qualitätsdebatten im Elementar- und Primarbereich. Es entwirft aus einer ressourcenorientierten Perspektive auf kindliche Lernvoraussetzungen das Konzept einer partizipativ angelegten Bidlungsdokumentation, die entwicklungspsychologisch gerahmt ist. Von hier aus werden die in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen etablierten Ansätze und Verfahren der Bildungsdokumentation einer kritischen Prüfung unterzogen. Schließlich wird der Band die Grundlinien einer Bildungsbeobachtung und -dokumentation skizzieren, die auf Kontinuität und Anschlussfähigkeit angelegt sind und eine Bildungsbrücke schlagen zwischen den bislang getrennten Lernprozessen in Kita und Schule.
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Beobachten und Dokumentieren als pädagogische Kerntätigkeiten: Charakteristika und Realisierungsformen
Beobachten im Sinne von aufmerksamem, verstehendem Wahrnehmen von Bildungsprozessen von Kindern und Jugendlichen zählt seit dem 18. Jahrhundert zum Kerngeschäft pädagogischer Fach- und Lehrkräfte (vgl. Berdelmann, 2016; Reh, 2012a): Erziehen, Arrangieren von Lehr-Lern-Prozessen, Beraten, Bewerten, Reflektieren – all diese zentralen Aufgabenbereiche sind wesentlich mit Beobachtung verbunden. »Eine Beobachtung besteht in der Wahrnehmung eines Verhaltens oder einer Verhaltensäußerung durch einen Beobachter. Verhalten umfasst in diesem Sinne jedes Agieren, jede Reaktion oder Nichtreaktion einer Person oder Personengruppe, die einer Beobachtung bewusst zugänglich ist« (Jäger, 2007, S. 52). Sowohl in der pädagogischen Praxis wie auch in der Sozialforschung kann Beobachtung als das klassische Verfahren der Informations- bzw. Datengewinnung angesehen werden (vgl. Abel, Möller & Treumann, 1998, S. 62). Dabei ist es wichtig zu beachten, dass mit ihr nur Ausschnitte aus dem Gesamtgeschehen des Verhaltens erfasst werden können: Motive, Einstellungen usw., die das Verhalten steuern, sind nicht beobachtbar. Beobachtungen sind nie objektiv, denn sie sind immer auch geprägt von der Person des Beobachters und der spezifischen Beobachtungssituation. Vorwissen, Motivation, die eigene Befindlichkeit und implizite Persönlichkeitstheorien beeinflussen ebenso wie die Menschenbildannahmen des Beobachters mit, was in welcher Situation unter welchem Fokus beobachtet wird. Beobachtung vollzieht sich immer in einem komplexen Prozess von Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, in dem Selektionen und Abspeicherungen stattfinden, die dem Beobachter in der Regel selbst nicht bewusst sind. Im Bestreben, der beobachteten Situation Sinn zu verleihen, erfolgt eine Bedeutungszuschreibung qua Interpretation des Wahrgenommenen. Diese steuert auch die Dokumentation der Beobachtung: Für relevant Gehaltenes wird festgehalten, Irrelevantes wird außen vor gelassen. »Jeder Beobachter konstruiert offenbar seine eigene Wirklichkeit« (Korossy, 2011, S. 14). Anlass, Intention und Situationsspezifik bestimmen in starkem Maße, wer welches Setting wie beobachtet und interpretiert. Hierbei wird grob zwischen drei Funktionskontexten unterschieden: der Alltagsbeobachtung, der wissenschaftlichen Beobachtung und der diagnostischen Beobachtung (vgl. Abel et al., 1998, S. 63). Die Fähigkeit zur alltäglichen Beobachtung ist dem Menschen quasi angeboren; als Grundlage für nachahmendes Lernen steuert sie vom Säuglingsalter an Entwicklungsprozesse und dient auch in pädagogischen Kontexten ganz allgemein der Orientierung der Akteure in der Welt (vgl. Atteslander & Cromm, 2010). Alltägliche Beobachtung geschieht zufällig, spontan und unmittelbar und ist emotional geleitet. Alltagsbeobachtung, von anderen Autoren auch als Gelegenheitsbeobachtung bezeichnet (vgl. Kleber, 1992), ermöglicht dem Beobachter ein schnelles Reagieren in komplexen sozialen Situationen, ist aber gleichzeitig auch sehr fehleranfällig. Wissenschaftliche Beobachtung ist hingegen systematisch geplant, der oder das zu Beobachtende ist theoretisch begründet (vgl. Zumhasch, 2011, S. 297). Sie ist zweckgerichtet und zielt auf die »[…] Beschreibung bzw. Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit vor dem Hintergrund einer leitenden Forschungsfrage« (Kleber, 1992, S. 199). Einen besonderen Ansatz bietet die ethnografische Beobachtung, bei der es »[…] vor allem um eine Beschreibung von Praktiken geht, die u. a. dieses implizite Wissen, den Vollzug und die Darstellung von Praktiken, Fragen der Lösung von Handlungsproblemen und der Handlungskoordination zu explizieren versucht« (Breidenstein, Hirschauer & Kalthoff, 2013, S. 33). Diagnostische Beobachtung im pädagogischen Feld folgt ebenfalls einer Systematik; sie intendiert das Verstehen und Einordnen eines Einzelfalls, um daraus (Förder-/Forder-)Maßnahmen ableiten zu können (vgl. Lukesch, 1998). Wissenschaftliche und diagnostische Beobachtungsverfahren zielen auf größtmögliche Objektivität; sie orientieren sich daher an klassischen Gütekriterien ( Kap. 5.1). Alle drei Beobachtungsformen spielen in KiTa und Grundschule eine Rolle. Sie greifen ineinander, etwa, wenn Ergebnisse einer unsystematischen Beobachtung mehr oder weniger zufällig auf Ereignisse aufmerksam machen, für die eine fundierte Erklärung benötigt wird, und im Anschluss eine systematische Beobachtung auslösen. Die intrinsisch motivierte Neigung zur Alltagsbeobachtung der Fachkräfte, d. h. das Interesse an und das Verstehen-Wollen von kindlichen Aktivitäten, bildet grundsätzlich eine sehr gute Voraussetzung für diese pädagogische Kernaufgabe, kann aber nicht deren alleinige Basis sein. Aus Professionalisierungsperspektive werden positive Effekte auf die Qualität der Alltagsbeobachtung erwartet, wenn die Kompetenzen des wissenschaftlich-forschenden sowie des diagnostischen Sehens entwickelt werden. In Anbetracht der hohen Fehleranfälligkeit von Beobachtung, die weitreichende Folgen für die Kinder nach sich ziehen kann ( Kap. 5.1.2), geht es insbesondere darum, Fachkräfte so zu qualifizieren, dass sie die verschiedenen Anwendungsformen der Beobachtung kennen, diese situationsspezifisch bewusst und kompetent anwenden können und für Wahrnehmungsprozesse, Beobachtungsfehler und mögliche Wirkungen auf die Kinder selbst, die Eltern und die Teams/Kollegien sensibilisiert sind. Zur Ausdifferenzierung der verschiedenen Beobachtungsformen hat Kleber (vgl. Kleber, 1992, S. 199) einen Kategorisierungsansatz vorgenommen, der unseres Erachtens der bewussten Unterscheidung von Beobachtungssettings in Forschung und Praxis zuträglich ist: Er führt fünf Kategorien an, welche die verschiedenen Beobachtungsformen voneinander abgrenzen. Dies sind der »Anlass«, die »Richtung«, die »Distanz«, die »Offenheit« sowie die »Struktur« einer Beobachtung. Auf dieser Basis unterscheidet er als Modi der Beobachtung: • Gelegenheitsbeobachtung vs. systematische Beobachtung: Sofern der Anlass einer Beobachtung ein begründetes Erkenntnisinteresse ist und der Beobachter sich gezielt in eine geplante Situation begibt, um genau dieses Interesse zu befriedigen, handelt es sich um eine systematische Beobachtung. • Selbstbeobachtung vs. Fremdbeobachtung: Die Beobachtung kann auf die eigene Person oder auf äußere Situationen und das Verhalten anderer gerichtet sein. Zwar dominiert in KiTa und Grundschule die Fremdbeobachtung, allerdings gibt es viele Möglichkeiten, die Kinder aktiv in die Beobachtung einzubeziehen und sie nach ihrer Einschätzung der beobachteten Situation zu befragen. Im Sinne der Förderung selbstreflexiven und selbstgesteuerten Lernens spielt die Begleitung der Kinder beim Erwerb der Selbstbeobachtungsfähigkeit eine wichtige Rolle. • Teilnehmende vs. nicht-teilnehmende Beobachtung: Bezüglich der Distanz des Beobachters zu den zu Beobachtenden wird zwischen teilnehmender Beobachtung, in welcher der Beobachter Teil des aktiven Geschehens ist und in die Situation partizipativ eingebunden wird, und nicht-teilnehmender Beobachtung unterschieden. Bei Letzterer verlässt die pädagogische Fachkraft oder die Lehrkraft ihre Rolle und steht den Kindern für die Beobachtungsdauer nicht als Ansprech-, Spiel- oder Lernpartner/in zur Verfügung. Laut Bensel & Haug-Schnabel (vgl. 2009, S. 21) eröffnet dieser Beobachtungsmodus die Möglichkeit, sich besser auf das Beobachtungsziel zu konzentrieren, eine objektivere Perspektive einzunehmen, nahezu zeitgleich mit dem Geschehen protokollieren zu können und das Beobachtungsergebnis nicht durch eigenes Zutun zu verfälschen. • Offene vs. verdeckte Beobachtung: Von einer verdeckten Beobachtung wird gesprochen, wenn die Personen, die zum Beobachtungsfeld gehören, nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Ist die Beobachtungssituation hingegen von allen Beteiligten klar als solche zu identifizieren, liegt eine offene Beobachtung vor (vgl. Kleber, 1992, S. 199). Eine verdeckte Beobachtung lässt sich beispielsweise durch eine Aufzeichnung einer Situation mithilfe einer fest installierten Kamera realisieren. Die offene Beobachtung signalisiert den Beobachteten das Interesse des Beobachters, welches Kinder häufig positiv im Sinne einer besonderen Zuwendung konnotieren (vgl. Bensel & Haug-Schnabel, 2009, S. 21). Sie kann aber auch dazu führen, dass die beobachtete Person ihr Verhalten verfälscht, um positiv aufzufallen. Nicht selten lenken Kamera oder protokollierender Beobachter die Kinder zu Beginn der Beobachtungssituation von ihren Aktivitäten ab. Aus performanztheoretischer Perspektive kann die offene Beobachtung als öffentliche Inszenierung...