E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Budek Tanz am Abgrund
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7517-1505-8
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zum Selbsthass erzogen – meine Jugend an der Ballettschule
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7517-1505-8
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Als Marie von der renommierten Berliner Ballettschule angenommen wird, ist sie überglücklich; das Sportinternat gilt als Kaderschmiede für junge Talente und auch sie strebt eine tänzerische Laufbahn an. Doch der Alltag ist ganz anders als erhofft und die Lehrer gängeln ihre Schützlinge von früh bis spät, insbesondere das Gewicht ist ein brisantes Dauerthema. Marie steht den gnadenlosen Drill bis zum Abschluss durch, droht aber schließlich an dem Erlebten zu zerbrechen. Ein leidenschaftlicher Kampf um Selbstbehauptung beginnt ...
Marie Sophie Budek begann schon im Kleinkindalter mit dem Tanzen, ging mit zehn Jahren an die Staatliche Ballettschule Berlin und wirkte nach ihrem Abschluss in verschiedenen Kompanien und Projekten mit. Nach dem Tod ihres Vaters und unter starkem beruflichen Druck erlitt sie einen totalen Zusammenbruch, aus dem sie dank beruflicher und mentaler Neuorientierung herausfand. Inzwischen ist sie Personaltrainerin, Dozentin und Heiltherapeutin - und tanzt immer noch. Denn trotz aller schlimmen Erfahrungen ist ihre Liebe zum Tanz immer geblieben.
Weitere Infos & Material
1
Und täglich grüßt der Saal
»Beeil dich, du musst dich aufwärmen!«, rief mir Anne zu, die in Richtung Ballettsaal lief.
»Hab irgendwie keine Lust«, antwortete ich. »Es ist Montag und noch viel zu früh.«
»Du kriegst einen Anschiss von Frau Horthy. Die brüllt dich nur wieder an, wenn du deinen Körper vor dem Ballettunterricht nicht aufwärmst.«
Frau Horthy war unsere Lehrerin für Klassischen Tanz. Technisch gehörte sie noch zu den guten Lehrerinnen, aber pädagogisch war sie eine Niete. Sie hatte ein paar Lieblingsschülerinnen, doch ich war keine davon. Und weil das so war, schrie sie mich fast jeden Tag an.
»Wenn du es aus der Hüfte nicht packst, dann mach sie aus dem Knie«, hatte sie mich am Tag zuvor angepfiffen, weil ich die Auswärtsdrehung nicht gekonnt hatte.
So ein Schwachsinn! Das war das absolute Todesurteil für die Kreuzbänder, das wusste doch jeder! Aber nein, Frau Horthy musste korrigieren, sie konnte nicht anders, auch wenn ihre Korrekturen manchmal fragwürdig waren. Mich brachten sie jedenfalls nicht weiter. Einige meiner Mitschüler sahen das genauso, doch niemand wagte es, ihr zu widersprechen.
»Los, mach schon.« Anne war stehen geblieben, um auf mich zu warten. Währenddessen überprüfte sie ihren dunkelbraunen Dutt, kontrollierte, ob auch alles richtig saß.
»Wieso müssen wir uns eigentlich aufwärmen, was soll daran gut sein?« Irgendwie wollte ich meine Freiheit noch eine Weile ausdehnen, bevor der Unterricht begann.
»Marie, du nervst gerade. Ich weiß es auch nicht, wahrscheinlich ist es gesünder. Was weiß ich. Ist doch egal. Wir sollen das nun mal tun.«
»Aber man hätte es uns auch erklären können.«
»Hätte man. Wäre sicher sinnvoll gewesen. Ist aber nicht geschehen. Es sind nur zehn Minuten. Hab dich nicht so.«
Langsam trottete ich von der Garderobe hinüber zu Anne.
»Du hast noch deine Straßenschuhe an. Das geht nicht. Man, wo hast du heute bloß deine Gedanken?«
Herrje. Ja, wo hatte ich sie nur? Wieder zurück zu meinem Schrank, um in die Hausschuhe zu schlüpfen, denn nur in diesen durften wir den Saal betreten, eine Maßnahme, um den Tanzboden nicht zu schädigen, der übers Parkett gelegt war. Die wärmenden Überziehsachen hatte ich schon über mein Trikot gezogen, denn in den Glasgängen war es jetzt im Winter ziemlich kalt und zugig, und auf dem dunklen Steinfußboden konnte man sich ohne kuschelige Puschen schnell eine Erkältung einfangen. Wenn wir Mädchen so eingemummelt in den Saal gingen, sahen wir aus, als hätten wir uns gerade mit Sachen aus einem Altkleidercontainer eingedeckt. Wir hatten eine erkennbare Liebe zu »Schlabberklamotten« im Zwiebellook.
Meine Freundin Anne mit dem schmalen Gesicht und den hohen Wangenknochen hüpfte inzwischen von einem Fuß auf den anderen, ihre Beine steckten dabei in einer weiten und zerschlissenen Pyjamahose.
»Ich bin gleich ein Eiszapfen, wenn du dich nicht sputest. An der Stange wird mein Bein abbrechen.« Sie kicherte.
»Ich komm ja schon.«
Frau Horthy war noch nicht im Saal. Großes Aufatmen. Alle zwölf Mädchen liefen umher, machten gymnastische Übungen, dehnten die Muskeln und mobilisierten die Gelenke. Unmotiviert folgte ich ihnen.
Ich dachte daran, dass ich morgens um 5:45 Uhr aufgestanden war. Meine Mutter hatte mich geweckt, mir ein Frühstück gemacht und mich dann zum Bahnhof Birkenwerder gefahren. Die Fahrt hatte fünfundvierzig Minuten gedauert, bis Greifswalder Straße, ohne geringste Morgendämmerung, nur graue Gesichter und müde Passagiere, die von Station zu Station mehr wurden.
Zum Glück hatte ich die Bahn noch erwischt, sie fuhr nur im Vierzig-Minuten-Takt. Das Trikot hatte ich schon nach dem Aufstehen angezogen, damit ich mit dem Umziehen nicht so viel Zeit verlor.
Auf einmal rannten alle Mädchen zur Stange, ich ihnen hinterher. Frau Horthy hatte den Saal betreten, und man tat gut daran, schnell an seinem Platz zu stehen, um Extra-Aufforderungen zu vermeiden. Die Lehrerin wollte sehen, dass man bereit war, wissbegierig und fleißig. Sie hatte sich, wie üblich ohne Begrüßung, auf einen Stuhl gesetzt, um von ihrem Logenplatz aus alles genauestens beobachten zu können – auch das, was hinten an der Wand im Spiegel zu sehen war.
Die zugeteilten Plätze gaben Auskunft darüber, ob man zu den besonders guten oder weniger herausragenden Schülerinnen gehörte. An der Mittelstange, genau gegenüber der Lehrerin, standen natürlich nur die Besten – oder die Lieblingsschülerinnen, das mussten nicht immer die Besten sein. Links und rechts verliefen die Seitenstangen. Wer dort platziert war, konnte sich aufgrund der U-Form nicht so gut im Spiegel beobachten und nicht entsprechend korrigieren. Hier standen die schwächeren Schülerinnen, für die es sicher ganz nützlich gewesen wäre, sich auch mal intensiver zu betrachten – aber ein Rotationsprinzip war nicht vorgesehen.
Alle wussten von dieser »Stangenverteilung«, sodass schulinterne Zuschauer oder Prüfer kaum unvoreingenommen die jeweiligen Leistungen beurteilten, wenn sie uns an den jeweiligen Positionen sahen. Wer an einer »schwachen« Position stand, konnte keine exzellenten Ergebnisse bringen. Bekanntlich war der erste Eindruck entscheidend.
Ich stellte mich zur Verbeugung an meinen Platz an der Mittelstange – ich zählte demnach aktuell zu den besseren Schülerinnen, was sich aber immer mal wieder änderte –, durfte die Stange allerdings noch nicht berühren. Es war kalt im Saal – dabei war es am Vortag zu heiß gewesen, die Temperaturregulierung in dem alten Gemäuer war eine Katastrophe –, und eine Neonröhre über mir tauchte uns in nicht minder kaltes Licht.
Nun starteten unsere beiden Ballettstunden, insgesamt neunzig Minuten. Wir begannen mit einer réference – Französisch ist die Sprache des Balletts –, einer Verbeugung vor Frau Horthy und dem Korrepetitor am Klavier; meist wurden unsere Übungen von Klaviermusik begleitet. Danach hatte man mit beiden Händen die Stange anzufassen.
»Balance halten«, tönte Frau Horthy laut in den Raum.
Wir nannten sie nur »die Hexe«, ihr Äußeres lud förmlich dazu ein. Mit ihrer kleinen Statur, ihren roten Haaren und der ausgeprägten Nase hätte sie der Hexe in dem Grimm’schen Märchen von Hänsel und Gretel Konkurrenz machen können. Einziger Unterschied: Auf ihren langen Fingernägeln schimmerte ein lachsfarbener Nagellack, und da sie Raucherin war, versuchte sie den Zigarettengeruch mit einem ungemein blumigen Parfüm zu übertönen. Achtung: Ohnmachtsgefahr!
»Freundliche Ausstrahlung, aber ja nicht zu viel grinsen. Fließende Bewegungen. Synchronisiert den eigenen Körper mit dem eigenen Atem, mit dem Atem aller anderen. Spürt die Länge bis in die Zehen und Fingerspitzen. Erfüllt den Raum mit eurer Präsenz.«
War ich vorhin noch völlig unmotiviert gewesen, war ich nun wie verwandelt. Ich wollte Frau Horthy beweisen, dass ich energetisch voll da war und bereit, alles zu leisten, was ich an Kraft aufbringen konnte.
Anschließend begab ich mich mit beiden Händen an die Stange hinter mir, das Holz fühlte sich weich und glatt an, unzählige Ballettschülerinnen hatte hier schon ihre schwitzigen Hände aufgelegt. Ja, wir sollten sie nur leicht auflegen, kein Festkrallen, denn später würden wir unsere Übungen in der Mitte des Saals ausüben, im freien Raum, ohne Möglichkeit, uns festzuhalten.
Mist, die Balance war schwer zu halten. Übers Wochenende hatte meine Mutter meine Schläppchen gewaschen, wodurch sie beim ersten Tragen noch kleiner und enger waren als ohnehin schon. Außerdem waren durch die Nässe die Ledersohlen hart geworden, was zur Folge hatte, dass die Balance wirklich ein Akt war, die Zehen schmerzten und lange kalt blieben.
Die erste Übung an der Stange widmete sich mehr der Fuß- und Beinarbeit. Ich hatte die Grundposition eingenommen, erste Position genannt, bei der die Fersen zueinander zeigten. Die Zehen waren nach außen gedreht, und die Füße bildeten möglichst eine 180-Grad-Linie, so versuchte ich den gesamten Körper zu spüren und unter Kontrolle zu bringen. Füße ausgedreht. Zehen lang. Innenkante hochziehen, Knie durchgestreckt und nach außen gedreht. Po klein und angespannt – und das sollte er auch bleiben, nie locker lassen. Das Gleiche galt für die Beinstreckung. Der Bauch sollte dann flach sein, die Taille schmal, den Rippenbogen hatte man kleinzuhalten. Doch durch die Anspannung und weil ich versuchte, mich ganz lang zu machen, zog ich am Anfang die Schultern leicht hoch und vergaß zu atmen. Auch bei den anderen konnte ich das im Spiegel beobachten. Der gewünschte leichte Ausdruck war noch nicht erreicht, man sah mir die Anstrengung an … und das blieb nicht unbemerkt.
Frau Horthy erhob sich und kam auf mich zu, ich konnte es riechen: Rauch und Parfüm.
»Marie, bist du übers Wochenende dicker geworden?«, fragte sie unüberhörbar. »Es sieht aus, als hättest du eine Wampe. Und dein Po sollte auch straffer sein.« Dabei kniff sie mir mit ihren extravaganten Fingernägeln nicht gerade zimperlich in den Hintern. »Merkst du es denn selbst nicht? Das ist alles faules Fleisch. Da sollte nichts sein außer Muskeln.« Dabei schlug sie wie zur Bestätigung noch mit der flachen Hand auf meine Oberschenkel, damit ich meine Muskeln anspannte. »Nimm dir mal ein Beispiel an Tatjana, die ist für uns alle ein Vorbild.«
Es reichte also ein einzelner Tag, um »faules Fleisch« anzusetzen? Da wir auch samstags Training bei ihr gehabt...