E-Book, Deutsch, 704 Seiten
Buckingham Die Klinge des Waldes
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22731-9
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 704 Seiten
ISBN: 978-3-641-22731-9
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Thronerbinnen des Waldkönigreichs Strata führen Flora und ihre ältere Schwester Amora ein behütetes Leben. Doch dann trifft Flora aus Liebe zu ihrer Schwester eine fatale Entscheidung, mit schrecklichen Konsequenzen. Sie wird von ihrem eigenen Vater verbannt und sieht sich plötzlich mit der wirklichen Welt, außerhalb des Palastes, konfrontiert. Von ihrer letzten Vertrauten verraten, ist Flora dem Tode nahe und endgültig auf sich gestellt. Doch sie ist nicht bereit aufzugeben. Flora kämpft und überlebt. Aus dem naiven Mädchen wird eine starke junge Frau, die bereit ist zu kämpfen, um die zu retten, die sie liebt …
Royce Buckingham, geboren 1966, begann während seines Jurastudiums an der University of Oregon mit dem Verfassen von Fantasy-Kurzgeschichten. Sein erster Roman »Dämliche Dämonen« begeisterte weltweit die Leser*innen und war insbesondere in Deutschland ein riesiger Erfolg. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt Royce Buckingham in Bellingham, Washington. Er arbeitet zurzeit an seinem nächsten Roman.
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Kapitel 2
Könige und Königinnen
»Bist du zornig, Vater?«, fragte Flora.
»Nein«, antwortete König Leonard Evangelin.
Mit siebenunddreißig Jahren war ihr königlicher Vater körperlich immer noch kräftig, nun aber eher sehnig als muskulös. Obwohl er früher ein schwergewichtiger Mann gewesen war, klagte Floras Mutter, dass sein Appetit in letzter Zeit vor Sorge gelitten habe. Das Herrschen hatte den Großkater, wie seine Waldkrieger ihn nannten, altern lassen. Sie respektierten ihn, denn er war ein zuverlässiger, entschiedener und gerechter Mann. Aber nun saß er rastlos vor seiner Tochter auf dem Thron in der Lichtungshalle wie ein Kater, der sich bereit machte, sich auf jemanden zu stürzen oder zu fliehen oder einfach frustriert zu miauen.
Natürlich ist er zornig, dachte Flora. Er hat gerade den Befehl gegeben, einen Jungen von einem Baum zu werfen!
»Ich muss dir lediglich eine Frage stellen«, fuhr er fort. »Man hat einen Jungen aus dem gemeinen Volk unbekleidet im Zimmer deiner Schwester gefunden, wo sein unteres Glied steif wie ein Ast hervorragte. Amora sagt, eine deiner Dienerinnen habe ihn dort hingebracht. Die kleine Egmont. Das Mädchen bestreitet es. Was hast du dazu zu sagen?«
»Er ist tot, nicht wahr?«
Der Großkater knurrte. Es war nicht die Antwort, die er hören wollte. »Er ist verurteilt worden. Er gehört der Vergangenheit an. Es ist passiert. Und zu Recht, wie es mein Gesetzesgeber bestätigt hat.« Er deutete auf den Mann in Amtsrobe an seiner Seite, Benavere Schuster, der zurücknickte. »Jetzt erklär mir, wie ein nackter Grundling im Zimmer einer Prinzessin auftauchen konnte.«
»Ich habe ihn nicht dort hingebracht.«
»Natürlich nicht. Nicht du. Das weiß ich. Du bist mein zarter grüner Zweig. Aber ich wette, du weißt, wer es getan hat … nicht wahr?«
Flora sah, dass er darum kämpfte, vor seinem beträchtlichen Publikum ruhig zu bleiben – vor Amora, Schuster, seiner Lichtungswache, dem irritierenden Meistermönch, der Flora immer auf die Finger schlug, wenn sie im Unterricht uralte Namen falsch aussprach. Und vor meiner Mutter. Es waren nicht sehr viele Menschen, aber sehr wichtige. Auch Eggie war da. Das Fehlen von Enics Familie fiel auf. Ihr königlicher Vater würde sich später persönlich mit ihnen treffen, um das Urteil und die schnelle Bestrafung zu erklären. Allzu schnell – Enic hätte dir sagen können, wer ihn nach oben gebeten hat, wenn du ihn nicht getötet hättest, du verrückter Kater! Die Familie bekam erst Gelegenheit, Beschwerden zu äußern, nachdem das Urteil bereits vollstreckt war. Aber wie sollen sie sich beschweren? Ein Stalljunge hatte nichts im Zimmer einer Prinzessin zu suchen – schon gar nicht nackt. Außerdem würde ihr Vater dafür sorgen, dass Enics Familie alle ausstehenden Löhne bekam, die der Stalljunge verdient hatte. Er ist ein guter, gerechter Mann, dachte Flora, aber auch ein Mann voller Launen. Es war klug, das nicht zu vergessen.
Eggie stand starr und mit steinerner Miene da – steif wie ein Ast. Sie wurde von einer Lichtungswache flankiert, deren riesige Hand auf ihrer Schulter lag. Sie betrachtete Flora mit dem gleichen intensiven Blick, wie wenn sie darüber nachgrübelte, wie man ein Schubkarrenrad reparieren konnte. Oder ein Becken mit stehendem Wasser. Amora saß krumm wie eine gescholtene Hündin vor ihrer königlichen Mutter, die ihr beruhigend den Rücken tätschelte. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, und sie sah Flora mit flehenden Augen an. Die Konsequenzen waren ernst. Ein Junge war tot. Nur ein Junge aus dem niederen Volk, den Göttern sei gedankt, aber trotzdem … Amora sollte sich ihre Unschuld für einen Prinzen aufsparen, der eines Tages kommen würde, nicht für irgendeinen Grundling mit einem steifen Ast. Eggie kam aus dem Volk. Wie Enic. Ihre mögliche Strafe würde sich von der Amoras ebenso gewaltig unterscheiden wie ihrer beider Geburtsrechte.
Flora wünschte, sie könnte so schnell Worte finden wie ihr königlicher Vater. Er hatte sie gelehrt, dass ein guter Herrscher entschlossen sein musste. Aber Impulsivität, Instinkt und Zorn halfen ihr nicht, so wie sie ihm halfen. Sie litt an der Unentschlossenheit, die aus Vorsicht und Nachdenklichkeit geboren war, und jetzt verließ sie auch noch ihre träge Vernunft. Alle schauen her. Sie stand mitten auf der Bühne vor einem gebannten Publikum, das auf ihre nächste Zeile wartete, wie bei einer Wanderschauspielerin in einem Drama. Die Wahrheit ist fast immer die richtige Antwort. Flora öffnete den Mund, um zu sprechen. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss – Schwestern geben einander Rückendeckung. Es war ein weiterer heimlicher Pakt, auf den Amora sie in tiefster Nacht eingeschworen hatte – einer Zeit, zu der Floras Schwester viele ihrer Lebensregeln formulierte. Und wieder hatte Flora alles abgenickt, ob sie es glaubte oder nicht.
»Eggie mag Jungen«, sagte Flora schließlich. Das stimmte durchaus – Eggie war ein Mädchen, und Amora zufolge mochten alle Mädchen Jungen. Und tatsächlich hatte Eggie mit ihnen beiden einmal über Neve, den Küchenjungen, gekichert. Und Eggie hatte Enic wahrscheinlich gekannt, obwohl sie keine Unzucht mit ihm getrieben haben würde, da sie der königlichen Familie in den Türmen diente und er ein Grundling war, der Pferdescheiße schaufelte. »Und ich denke, sie hat den nackten Jungen gekannt. Sie sind schließlich beide Diener«, fügte Flora hinzu. Dann zuckte sie die Achseln, als lade sie das Publikum ein, die Verbindung selbst herzustellen.
Die Stimme ihres königlichen Vaters hob sich um eine Oktave. »Und sie hat einen nackten Jungen, den sie kannte, in das Schlafzimmer einer Prinzessin gebracht?«
»Ich weiß es nicht. Aber wie sollte er sonst dort hingelangt sein?«
Sie beobachtete ihr Publikum. Einige Männer und Frauen nickten. Andere seufzten wissend – vulgäre junge Grundlinge würden auf einem Esstisch rammeln, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu bot, überlegten sie. Warum sollten sie es nicht in einem eleganten königlichen Schlafzimmer tun? Floras Andeutung reichte. Und sie hatte es ohne eine tatsächliche Lüge geschafft.
Ein erleichterter Ausdruck huschte über Amoras Züge, dann erschien der Anflug eines Lächelns auf ihrem Schmollmund. Sie machte eine dezente Handbewegung, zwei zusammengedrückte Finger. Schwestern.
Flora wollte Eggie nicht ansehen, aber ihre Dienerin stand nahebei, direkt neben dem Thron. Ihre Lippen waren zusammengepresst, und ihre Schweinenasenflügel blähten sich. Wenn sie das tut, ist sie besonders hässlich. Aber statt sich zu verteidigen oder zu protestieren, blinzelte sie nur. Ein Zeichen? Wer konnte das wissen?
Flora war erleichtert. Es hätte schlimmer kommen können. Eggie hätte »Lügnerin!« schreien können. Nein, hätte sie nicht, denn Flora hatte nicht gelogen. Außerdem war Flora die Tochter eines Königs.
Und eine Prinzessin kann tun, was immer ihr beliebt.
Königin Evita Evangelin stand auf dem geschwungenen Balkon des Königsturms mit Blick auf die Lichtung, und ihr pechschwarzes Haar fiel ihr wie ein Schleier halb übers Gesicht.
Es ist auch der Königinnenturm, dachte Flora – ihre königliche Mutter war ebenso Herrscherin über Strata wie ihr königlicher Vater. Aber da sie in der Öffentlichkeit niemals stritten, war ihre Doppelherrschaft für das gewöhnliche Volk nicht sichtbar. Flora hörte gelegentlich Geschrei hinter der dicken Tuftortür mit dem goldenen Katzenkopfklopfer, größtenteils von ihrem Vater, aber sie wusste, dass ihre Mutter mit ihrer kühlen Logik ebenso oft gewann, wie sie verlor. Und wenn sie nach einer privaten Beratung wieder auftauchten, benahmen sie sich, als wären sie die ganze Zeit einer Meinung gewesen.
Flora stützte sich mit ihrer Mutter auf das geschwungene hölzerne Geländer, ganze zehn Etagen über dem Boden. Ein langer Sturz für eine Prinzessin. Doch es bestand keine Gefahr, dass das königliche Geländer nachgeben würde – die Zapfenverbindungen waren zwei Generationen zuvor von einem stratanischen Handwerksmeister maßgefertigt worden, als Königin Tetra Evangelin den Turm um vier Etagen hatte erweitern lassen, damit er das höchste Gebäude auf der Lichtung wurde. Königin Tetra mochte die elegante Spiralstruktur lieber als den Festungsklotz ihres Mannes etwas weiter nördlich, der jetzt die Lichtungshalle war – ebenfalls ein hohes Gebäude, aber älter und erbaut, bevor die stratanische Architektur lebende Bäume einbezogen hatte. Tetra hatte ihren Ehemann nicht besonders gemocht, hieß es, und sie hatte den zauberhaften gewundenen Anbau ihres neuen Heims in gleichem Maße befohlen, um die Erinnerung an ihn und das Leben in der Lichtungshalle hinter sich zu lassen, wie um sich in der Waldhauptstadt Strata einen Namen zu machen.
Wie Floras eigener Turm folgte Tetras Meisterwerk einem himmelhohen Tuftorbaum in die Wolken. Der Turm schlang sich um den Baum wie eine Wendeltreppe mit stabilen geschlossenen Plattformen auf jeder Etage. Flora wurde gern in den Turm ihrer Eltern gerufen. Wenn sie auf einen Ausguck stieg, den eine Königin entworfen und gebaut hatte, bot ihr das eine andere Perspektive, die Perspektive einer Königin. Vor...




