Bucher | Der Fehler, der mein Leben veränderte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Bucher Der Fehler, der mein Leben veränderte

Von Bauchlandungen, Rückschlägen und zweiten Chancen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-97966-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Von Bauchlandungen, Rückschlägen und zweiten Chancen

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-492-97966-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In unserer Leistungsgesellschaft ist Scheitern ein Tabu. Aber jeder Mensch macht Fehler. Und deshalb will die Journalistin Gina Bucher in ihrem neuen Buch ergründen, wie andere damit umgehen. Was passiert in einem, sobald man erkennt, dass man einen Fehler mit ernsthaften Konsequenzen begangen hat? Wie betrachtet man sich danach morgens im Spiegel? Wie denkt man später über einen solchen Fehler nach, über Schuld und vielleicht auch über Reue? Wie reagiert das Umfeld darauf? Wie begegnet man den Konsequenzen? Und natürlich: Wie hat man sich durch diesen Fehler verändert? Diese Fragen hat Gina Bucher Menschen gestellt, die in ihrem Leben kleinere oder auch größere Fehler gemacht haben. Ohne zu urteilen lässt sie sie ihre Geschichten erzählen und gibt uns einen intimen Einblick in eine Welt abseits von Erfolg und Ruhm.

Gina Bucher studierte Publizistik und arbeitet als Redakteurin und freie Journalistin. Sie ist Herausgeberin verschiedener Bücher im Kunstbereich. Gina Bucher lebt in Zürich.
Bucher Der Fehler, der mein Leben veränderte jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


»Was passiert ist, hat alles verändert.«

Wie eine Ärztin über ihre Arbeit denkt, nachdem sie einen Behandlungsfehler entschuldigte

Knapp an der Stadtgrenze einer größeren deutschen Stadt, hier wohnt Ava Keller in einem Doppelhäuschen, das zu einem einzigen umfunktioniert wurde. Der Mann außer Haus, der Sohn mit einer Spielzeugpistole zu den diesjährigen Karnevalhits im hellen Wohnzimmer herumfuchtelnd. Draußen im Garten stochern fünf Hühner mit ihren Schnäbeln in der winterharten Wiese – Ava Keller lacht und sagt, dass sie gerne auch Schafe halten würde, ein kleiner Bauernhof in der Stadt, warum nicht? Sie brüht Tee auf, Pfefferminztee, und legt Limettenschnitze daneben. An der Wand hinter ihr hängen Fotos mit vielen lachenden Gesichtern.

Auch wenn das Leben von Ava Keller wieder in Ordnung ist, hadert sie immer noch mit ihrem Fehler an einer Patientin, der ihr vor sechzehn Jahren passierte. Sie erzählt sachlich, wie das geschah, und dennoch hat sie mehrfach Tränen in den Augen, die sie sich heimlich wegwischt. Unmittelbar nach dem Studium arbeitete sie als Ärztin im Praktikum in einer Uniklinik einer größeren Stadt in Norddeutschland, auf einer Station, auf der ausschließlich Chemotherapien an Krebspatienten verabreicht wurden. Schon nach drei Monaten führte sie Therapien selbst aus, weil sie alleine – lediglich mit einer noch unerfahreneren Kollegin – auf der Station war. Beide noch nicht als Ärztinnen anerkannt, aber die Arbeit war eben trotzdem zu tun – wie das im Berufsalltag halt so ist. Nicht zum ersten Mal also verabreichte Ava Keller während jenes Freitagsdiensts vor sechzehn Jahren eine Chemotherapie an eine ältere Patientin.

Diese Chemotherapien werden üblicherweise über die Venen gegeben, aber es gibt auch Therapien, die in das Gehirnwasser hineingegeben werden. Dafür wird ein Stich hinten zwischen den Wirbeln gemacht, um eine Spritze ins Rückenmark zu setzen. Das habe ich getan, und das hat auch alles gut funktioniert. Die Spritzen, die wir verabreichten, wurden jeweils in einem anderen Raum für alle Patienten zurechtgelegt. Bei der zweiten Spritze an jenem Freitag merkte ich plötzlich, dass etwas nicht stimmte: dass die erste Spritze, die ich bereits gegeben hatte, für die Vene bestimmt war und nicht fürs Gehirnwasser.

Zuerst konnte ich überhaupt nicht einschätzen, wie schlimm das ist: Welche Konsequenzen hatte dieser Fehler für die Patientin? Ich suchte sofort meinen Kollegen vom Nachtdienst, der zum Glück noch da war. Er war deutlich erfahrener und alarmierte alle: den Neurologen, den Chef der Klinik, den Oberarzt. Sie verlegten die Patientin sofort auf die neurochirurgische Intensivstation, wo sie ihr das Gehirnwasser spülten. Niemand wusste, ob das klappen würde. Die Frau war ungefähr 73 Jahre alt und nicht sterbenskrank. Sie wäre normal wieder gesund geworden. Das weiß man natürlich bei solchen Tumoren nie, aber ihre Chancen standen vor diesem Ereignis sicher nicht schlecht.

Danach habe ich sie dort ein paarmal besucht. Auch noch, als sie wieder auf eine normale Station verlegt wurde. Ich hatte mich entschuldigt, hatte ihr gesagt: Ich habe etwas falsch gemacht. Wir sehen zu, dass wir das wieder hinkriegen. Ich hatte ihr erklärt, dass ich die Chemotherapie verwechselt hatte, dass ich die Spritze für die Vene ins Gehirn gespritzt hatte. Niemand wusste, was passieren wird. Zu Beginn ging es ihr noch gut, dann aber begannen nach und nach die Lähmungen, die dieses Medikament verursachte. Das war das Bittere: In der ersten Woche, als nichts passierte, hoffte ich noch. Doch als die Fingerspitzen, dann die Hände taub wurden, die Zehenspitzen und dann die Füße, wusste ich, dass das nichts Gutes verhieß. Die Nerven sind außen am sensibelsten, sodass also Lähmungen peripher passieren, von außen zum Zentrum des Körpers, auch wenn der Schaden am Rücken passierte. Woche für Woche wurden die Lähmungen mehr.

Meine Besuche bei ihr wurden immer schrecklicher. Weil sie natürlich durchaus merkte, wie bitter ich meinen Fehler bereute. Was sie überforderte, da ich ja – nicht direkt, aber insgeheim – eine Art Absolution von ihr einforderte. Das war nicht gut für uns. Weder für sie noch für mich. Deswegen hörte ich mit den Besuchen irgendwann auf. Weil ich es nicht aushalten konnte, da reinzugehen und zu sehen, wie es ihr von Tag zu Tag schlechter ging, wofür ich verantwortlich war. Und weil ich umgekehrt gemerkt habe, dass ihr meine Besuche auch nichts bringen. Im Gegenteil, ich konnte ihr damit lediglich zeigen, wie sehr ich mich quälte. Sie konnte mir aber keine Absolution erteilen, weil das, was da mit ihr passierte, so viel schlimmer wog, dass das in keiner Relation zu meinem Befinden stand.

Auch mit ihrer Tochter hatte ich danach direkt gesprochen. Sie war insofern vorgeschädigt, als dass sie nun zwei querschnittsgelähmte Elternteile zu Hause hatte, zwei Pflegefälle, beide durch medizinische Fehler. Ihre Mutter war zuletzt bis zum Hals gelähmt. Sie konnte die Arme nicht mehr bewegen und wurde zum Schwerstpflegefall. Sie hatte eine sehr geringe Lebensqualität.

Der Chef der Klinik rief mich direkt danach an: »Frau Keller, das tut mir sehr leid, dass Ihnen das schon so früh passieren muss.« Darüber war ich zuerst sehr irritiert. Aber im Prinzip hatte er nicht unrecht: Jedem passieren Fehler, das ist so. Und natürlich haben auch wir Ärzte eine Fehlerrate. Nur wird sie uns nicht zugestanden. Die Erwartungshaltung an die Ärzte ist nach wie vor riesig: Einerseits sind wir nicht mehr die Götter in Weiß – zum Glück! –, trotzdem erwarten die Patienten, dass man arbeitet wie ein Gott. Nämlich fehlerfrei. Obwohl jeder weiß, dass kein Mensch hundertprozentig richtig arbeitet.

Das funktioniert nicht. Denn Fehler werden stets unterschiedlich bewertet. Wenn ich davon erzähle, versteht das jeder: Spritzen verwechselt, beide lagen nebeneinander, beide sahen gleich aus. Das bleibt ein Fehler, keine Frage. Aber da denkt jeder, gerade die Kollegen: Zum Glück ist mir das nicht passiert. Und auch: Das kann einfach jedem passieren. Doch wenn es einen selbst oder einen Angehörigen trifft, dann sieht man das plötzlich ganz anders. Das verstehe ich auch. Wenn mir als Patientin jemand etwas Falsches geben würde, dann hätte ich dafür auch kein Verständnis. Patienten brauchen ein Grundvertrauen zu ihrem Arzt oder ihrer Ärztin. Diesen Widerspruch finde ich sehr schwierig auszuhalten.

Das wusste offenbar auch mein damaliger Chef. Worüber er seufzte, war der Zeitpunkt: So jung, wie ich war, hatte ich noch keinen Ausgleich, den ich dagegensetzen konnte. Würde mir jetzt wieder ein solcher Fehler unterlaufen, wäre das immer noch sehr furchtbar. Ich könnte aber immerhin eine Liste machen mit Menschen, die ich gerettet habe. Doch wenn man jung ist, hat man noch keine Plus-Seite: Ich konnte meinen Fehler mit nichts aufwiegen. Hatte ich doch mit der Motivation studiert und angefangen zu arbeiten, Menschen zu helfen. Wenn man dann genau das Gegenteil tut und sich dafür sogar vor anderen Menschen und vor Gericht verantworten muss, ist das harter Tobak. Das war genau das Gegenteil von dem, was ich wollte.

Dieser Fehler passierte kurz vor dem Wochenende: Alles ging sowieso drunter und drüber auf der Station, alle wollten nach Hause. Zum Glück vermittelte mir meine Kollegin, die an jenem Tag mit mir arbeitete, eine Psycho-Akut-Intervention. Sie kannte jemanden auf der Abteilung für Psychosomatik und sprach mit ihrem ehemaligen Chef, sodass ich gleich am nächsten Tag eine Stunde bei ihm bekommen habe. Die ersten zwei Wochen war ich arbeitsunfähig, zwei Jahre lang besuchte ich einen Psychotherapeuten und diskutierte mit ihm die Schuldfrage: Wie komme ich mit der Schuld zurecht, wie kann ich damit leben?

Ich schämte mich vor mir selbst so wahnsinnig. Da hat mir die Psychotherapie sehr geholfen. Denn da ist keiner, vor dem man sich irgendwie schämen muss. Deswegen ist es mir ja auch so schwergefallen, meinen Freunden und vor allem meiner Familie davon zu berichten. Während ich bei der Psychotherapie jemandem Professionellen gegenübersitze, der dafür Geld kriegt. Wie der mich beurteilt, ist mir eigentlich völlig wurscht, weil ich ihn so ja nicht kenne. Ich erwarte von ihm keine Gegenliebe in irgendeiner Form. Das hat mir gutgetan.

Die Scham ist immer noch da. Deswegen möchte ich auch öffentlich keine Namen nennen. Weil ich mich immer noch dafür schäme, dass ich jemanden derart stark geschädigt habe. Obwohl sich diese Scham- und Schuldgefühle relativiert haben. Ich weiß, dass ich zwar einen Fehler gemacht habe, aber dass auch andere Fehler machen. Dass es leider zum Leben dazugehört, Fehler zu machen. Und dass das in meinem Fall maximale Konsequenzen hatte. Die Frage ist auch: Wer will das hören? Und das andere ist immer auch die Angst. Wenn man versucht, die eigene Seite darzustellen, wie man das selber erlebt hat, stellt man sich selber ja auch ein Stück weit als Opfer dar.

Mein Leid steht in keiner Relation zu dem Schaden, den ich angerichtet habe. Anders gesagt: Wenn ich die Patientin wäre, der das geschehen ist, würde ich zu mir selbst sagen: »Du blöde Kuh! Stellst dich hin und sagst: Ha, ha, war die falsche Spritze.« Natürlich habe ich als Täterin auch ein Bedürfnis zu sagen, dass das für mich eine schwierige Situation ist und dass ich extrem darunter gelitten habe oder noch immer leide – dass sich mein ganzes Leben dadurch verändert hat. Und dass ich eigentlich glaube, dass das ein durchaus verzeihbarer Fehler war, der aber leider schreckliche Konsequenzen hatte. Doch würde ich das als Patientin auch so sehen? Die Patientin bleibt immer das Opfer.

Zuerst lief ein zivilrechtliches Verfahren wegen...


Bucher, Gina
Gina Bucher studierte Publizistik und arbeitet als Redakteurin und freie Journalistin. Sie ist Herausgeberin verschiedener Bücher im Kunstbereich. Gina Bucher lebt in Zürich.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.