Bruhns | Meines Vaters Land | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Bruhns Meines Vaters Land

Geschichte einer deutschen Familie
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0164-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte einer deutschen Familie

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0164-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am 26. August 1944 wird der Abwehroffizier Hans Georg Klamroth wegen Hochverrats hingerichtet. Jahrzehnte später sieht seine jüngste Tochter in einer Fernsehdokumentation über den 20. Juli Bilder ihres Vaters aufgenommen während des Prozesses im Volksgerichtshof. Ein Anblick, der Wibke Bruhns nicht mehr loslässt. Wer war dieser Mann, den sie kaum kannte, der fremde Vater, der ihr plötzlich so nah ist. Die lange Suche nach seiner, ja auch ihrer eigenen Geschichte führt sie zurück in die Vergangenheit: Die Klamroths sind eine angesehene großbürgerliche Kaufmannsfamilie und muten wie ein Halberstädter Pendant zu den Buddenbrooks an. Unzählige Fotos, Briefe und Tagebücher sind der Fundus für ein einzigartiges Familienepos.

Wibke Bruhns wurde 1938 in Halberstadt geboren und starb am 20. Juni 2019 in Hamburg. Als erste Frau präsentierte sie 1971 die »heute«-Nachrichten, später ging sie als Stern-Korrespondentin nach Israel und in die USA und wurde Kulturchefin des ORB. Ihr Buch Meines Vaters Land wurde ein großer Bestseller.
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PROLOG


ICH HABE EIN FOTO VON MEINEM VATER GEFUNDEN. Es gibt Hunderte – in Alben, in Umschlägen, verstreut zwischen Tagebüchern, Zeugnissen, Briefen. Hans Georg als Kind, als ernsthafter Halbwüchsiger, in Uniform im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, als Ehemann, als Kaufmann, als Vater mit uns Kindern. Dies hier war weggesperrt in einer der Miniaturen, die auf dem Nachttisch meiner Mutter standen.

Nach ihrem Tod hatte ich die drei Bildchen mitgenommen: meine dänische Großmutter Dagmar mit dem unvermeidlichen Blumenhut, Hans Georg in Jagdmontur sitzend auf der Terrassentreppe in Halberstadt, vor sich den erlegten Bock, und meine Mutter Else als kleines Mädchen im weißen Spitzenkleidchen, mit Lackschuhen und schiefen Strümpfen. Alle drei – die zauberhafte alte Dame, der zufriedene Jäger, das skeptische Kind – lächeln mich an seit 15 Jahren auf meinem Schreibtisch, verhalten eher, distanziert aus den kostbaren kleinen Rahmen, derentwegen ich sie da hingestellt habe, und weil sie zu Elses Schlafzimmer gehörten.

Jetzt war sie verrutscht, die Kleinkind-Else, und als ich den Rahmen öffnete, um sie zurück an ihren Platz zu bringen, kam mir Hans Georg entgegen. Verborgen hinter ihrem Kinderportrait hatte Else ihn, einen todtraurigen Mann um die 30 – so verloren guckt er auf keinem Foto außer auf den letzten vor dem Volksgerichtshof. Ich habe das Else-Kind erst mal hinter ihm versteckt, aber lange halte ich das nicht aus, dieses hoffnungslose Gesicht. Vielleicht hatte auch Else ihn deshalb zugedeckt mit ihrer Erinnerung an die ganz frühe Kindheit. Ihr Foto muß um 1900 aufgenommen worden sein, da ist sie kaum zwei – behütet, umsorgt, geliebt. Alles schien möglich damals, nichts war vorhersehbar von dem, was dann wirklich kam.

Warum überhaupt hat sie dieses verlorene Gesicht ihres damals noch jungen Mannes zurechtgeschnitten für das Oval in dem kleinen, festlichen Rahmen? Die beiden haben viel gelacht zu der Zeit, als dieses Bild von Hans Georg entstand. Sie waren berühmt im Freundeskreis für Schlagfertigkeit und Witz. Und wann hat sie die Fotos gewechselt – nach seinem Tod in Plötzensee? Oder schon vorher, als die jahrelange Trennung im Krieg sie einander entfremdete, als jeder an seinem Platz funktionierte, aber die Gemeinsamkeit verschlissen war? Als Hans Georg Else betrog?

Ich lese seit Monaten in fremden Leben herum, in Briefen, Tagebüchern, in Schriftlichem aus mehr als 100 Jahren, das ich zusammengetragen habe aus den Katakomben der weitverzweigten Sippe. Es gibt sie schon so lange, die Klamroths, und immer haben sie sich als Klan verstanden, auch heute noch, obwohl das Zentrum ihres Bürgerstolzes – Halberstadt – im Krieg für sie verlorengegangen ist. Es ist nicht wirklich fremd, was ich da lese. Ich weiß, wer die Leute sind. Aber ich kenne sie nicht. Hans Georg hatte schon in den 30er Jahren eine 16-mm-Kamera und nahm die Feste der Sippe auf: Reitjagden durch den Harz, Boccia im Garten und die großen, damals noch kleinen Kinder auf der Schaukel. Als ich neulich die digitalisierte Fassung der Filme bekam, habe ich jeden erkannt, der dort zu sehen ist, obwohl ich vielen nie oder höchstens als Kleinkind begegnet bin.

Ich sehe Fräcke – mein Gott, was trug man Frack! – und die aufwendig gestylten Damen und frage mich, warum Else so geschmacklos angezogen war, wo sie doch Suli Woolnough hatte, die Schneiderin, deren Eleganz in Halberstadt ein Exotikum war. Prächtig kostümierte Aufführungen bei Polterabenden und zu Großmutter Gertruds 60. Geburtstag haben sie veranstaltet, es tritt auf »Benno Nachtigall«, die familieneigene Balladen- und Moritaten-Band, in meinem Schrank lagern die Bänkellieder und Schüttelverse. Fremde Leben.

Ich finde Bilder von Hans Georg am Klavier – er hat immer gesungen, alle haben sie gesungen in dieser Familie, mehrstimmig, dauernd, und sie haben Instrumente gespielt, der ganze Klan. Er singt also, der Vater – Kantaten, Gassenhauer, den ganzen Zupfgeigenhansl rauf und runter, nicht zu vergessen die vielen Familienlieder. Aber ich kenne seine Stimme nicht. Nie gehört, behaupte ich, obwohl das nicht sein kann, er wird schon mal was gesagt haben zu mir, dem kleinen Mädchen. Er hat mir bestimmt auch was vorgesungen, wenn er – mal – nach Hause kam aus dem Krieg.

Ich weiß auch nicht, wie der Mann, der mein Vater war, geredet hat. Das wäre wichtig jetzt, wo ich versuche, ihn mir zurechtzulegen. Zappelt er mit den Händen, wie ich, ist er laut, impulsiv? Wenn er schreibt, und er schreibt viel, klingt er überlegt. Er verschreibt sich nie, auch mit der Maschine nicht. Er muß sich nicht korrigieren, weder im Satzbau, noch in der Orthographie, schon gar nicht in seinen Gedanken. Sehr aufgeräumt, das Ganze. Und die Schrift erst – klein gestochen leserlich sowohl in Sütterlin als auch in Latein. Er schreibt wie sein Vater – überhaupt mein Großvater, ob es sonst noch jemand gibt, vor dem er so viel Respekt hatte? Allein wie sie Fotoalben anlegen, alle beide – weiße Tinte, akkurate Randlinien um jedes Bild gezogen, minutiös beschriftet.

Und dann Else: Chaos im Kopf und in der Schrift, überbordend, ausladend, durcheinander. Riesige Buchstaben, auf- und absteigende Zeilen, durchgestrichen, drübergeschrieben. Wenn sie Formulare mit der Hand ausfüllt, tobt ihre Schrift wie ein gefangener Hund im Käfig. Es gibt ein großes Haushaltsheft – Etatplanung und Kostenübersichten für die Jahre 1938 bis 1943. Da haben sie beide abwechselnd Buch geführt – Hans Georg in schnurgeraden Zahlenkolonnen, kein Rechenfehler, nie ein Zweifel. Else trabt durch die Spalten, setzt zügig Fragezeichen, Fußnoten – lange Jahre nach dem Krieg hat sie noch mit solchen Abrechnungen gekämpft. Sie haben nie gestimmt, Else war immer verzweifelt, sie wäre so gern ordentlich gewesen.

In ihren Briefen – auch sie hat viel geschrieben – wirbelt sie von einem Thema ins nächste, beutelt die Grammatik und die Interpunktion, die Seiten sind übersät mit zweifelhaften Korrekturen. Sie lacht und weint ohne Übergang, moralische Aufrüstung für die aushäusigen Töchter mischt sich mit Schilderungen ihrer vielfältigen Beschäftigung als Managerin des großen Hauses mit vielen Gästen. Der Kampf mit 20 Zentnern Erbsen und widerspenstigen Weckgläsern führt sie direkt zu der Feststellung, daß Gottes Ratschluß selten überzeuge, irgend jemand »zum Donnerwetter« den Silberschrankschlüssel vermüllt habe und daß außerdem sie, Else, sich mit Hegel doch gern »über das eine und andere mal auseinandergesetzt« hätte.

Sie haben gelacht über diese scheinbare Unvereinbarkeit, jeder über den anderen und beide miteinander. Dabei war Else später, als ich sie als Mensch wahrgenommen habe und nicht mehr als Mutter, eher pathetisch, hochgradig sentimental, vor allem traurig. Sie wäre gern viel eher gestorben, fast 90 war sie 1987 und hatte schon 25 Jahre vorher, nachdem die Sorge um ihre fünf Kinder sich überlebt hatte, keine Lust mehr. Früher, lange vor meiner Zeit oder vielleicht auch noch in meinen ersten Kindertagen, müssen beide – Else und Hans Georg – ein Genuß gewesen sein. Freunde von damals haben mir vorgeschwärmt von beider Witz, ihrer Zugewandtheit, ihrer Fähigkeit, Menschen um sich zu scharen und sie zu halten.

Kinder, behaupte ich, interessieren sich für ihre Eltern nur als Ressource. Das Verhältnis ist Ich-bezogen: Wie weit werde ich beschützt, versorgt, gefördert. Wer die Eltern sind, was sie fühlen, ob sie glücklich sind, geht an Kindern vorbei. Der Mensch, den Freunde erkannt, geliebt, begleitet haben – das Kind kennt ihn nicht. Bis nach dem Tod der Eltern – vielleicht –, wenn Nachfrage nicht mehr Indiskretion und Grenzüberschreitung bedeutet. Kinder, auch meine Kinder, werden bei aller Zärtlichkeit auf Distanz gehalten, suchen ihrerseits die Distanz. Die Verstörung der Eltern ist immer eine Bedrohung. Eltern muten sie ihren Kindern nicht zu, und was erwachsene Kinder dem Freund erlauben, die Belastung mit dessen persönlichem Scheitern etwa, bei Eltern fürchten sie sich davor.

In meiner Psychoanalyse, Anfang der 90er Jahre, kam ich an die Eltern nicht wirklich heran. Ich war und bin auch heute nicht bereit, meiner Mutter kindliche oder auch spätere Probleme anzulasten – sie war nervig, natürlich, sie war überfordert und ich in Folge ziemlich allein. Hätte sie das ändern können? Für den Vater hatte ich mir eine unverfängliche Position gesucht: Ich habe ihn nicht gekannt, folglich ging er mich nichts an. Er hat mir nie gefehlt – Millionen Töchter meiner Generation sind aufgewachsen ohne Väter. Ich hielt ihn mir vom Hals. Ich wollte nichts über ihn wissen. Er war eine offene Wunde im Leben meiner Mutter, und ich habe ihn erfahren als ihren Verlust. Sie hat darüber geschwiegen. Heute weiß ich, daß viele der 20. Juli-Witwen gegenüber ihren Kindern geschwiegen haben. Es war ein Schweigen, wo Fragen sich verbot. Die Zumutung wurde von beiden Seiten vermieden.

1979 bereitete ich unseren Umzug nach Jerusalem vor. Ich fuhr mit dem Auto da runter, von Ancona nach Haifa mit dem Schiff, schon die Einfuhr-Formalitäten im Hafen ließen keinen Zweifel offen: Hier bin ich in einem orientalischen Land. Ich fand ein Haus auf dem Mount Scopus in der Nähe der Hebräischen Universität mit weitem Blick über die karstige Wüste, weit unten ein arabisches Dorf. Die englische Schule für die Kinder war vor 100 Jahren ein anglikanisches Missionskrankenhaus gewesen. Als ich zum ersten Mal durch den weitläufigen Garten ging, vorbei an Oleanderhecken und Feigenbäumen, stand für...


Bruhns, Wibke
Wibke Bruhns wurde 1938 in Halberstadt geboren und starb am 20. Juni 2019 in Hamburg. Als erste Frau präsentierte sie 1971 die 'heute'-Nachrichten, später ging sie als Stern-Korrespondentin nach Israel und in die USA und wurde Kulturchefin des ORB. Ihr Buch Meines Vaters Land wurde ein großer Bestseller.

Wibke Bruhns wurde 1938 in Halberstadt geboren. Als erste Frau präsentierte sie 1971 die »heute«-Nachrichten, später ging sie als Stern-Korrespondentin nach Israel und in die USA und wurde Kulturchefin des ORB. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin.



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