E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Brühl / Cáceres Ein Tag in Barcelona
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0011-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0011-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniel Brühl wurde 1978 in Barcelona als Daniel César Martín Brühl González geboren. Bekannt wurde er durch die Hauptrolle in Good Bye, Lenin! (2003), für die er zahlreiche Auszeichnungen erhielt.
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Als Kind bin ich oft in die Tram gestiegen, die vorm Café Mirablau ihre Endstation hat und von dort wieder herunterfährt. Doch manches Mal bin ich auch zu Fuß hinuntergelaufen, und das mache ich immer noch gern. So wie jetzt. Ich pfriemele das Kopfhörerkabel auseinander, stecke mir die Stöpsel in die Ohren, drücke auf »Play« und kämpfe dann mit starren Beinen dagegen an, die abschüssige Serpentinenstraße zu rasch bergab getrieben zu werden. An Ecken, wo ich mich unbeobachtet fühle, singe ich mit:
»Con una canción sencilla/
Tres notas y una bandera/
Tan blanca como el corazón /
Que late en tu cuerpo de niña /
Y quiero que vengas commigo /
A cualquier otra parte …«
»Ein einfacher Song /
Drei Noten und eine Fahne /
So weiß wie das Herz /
Das in deinem Kinderkörper schlägt /
Und ich möcht, dass du mit mir /
irgendwo anders hinkommst …«
Eine Hymne der barcelonesischen Band Dorian, ein Popsong wie eine eisgekühlte Zitronenlimoflasche, die man sich am Strand bei gleißendem Sonnenlicht an die Stirn hält.
An den herrschaftlichen, zum Teil atemberaubend schön verzierten Villen rausche ich vorbei und spiele ein imaginäres Monopoly. »Die hätt? ich gern! Ooohh, du bist auf meine Schlossallee gekommen, das tut mir wahnsinnig leid, aber dann musst du mir jetzt ’ne Million zahlen und mir deinen Bahnhof Sants geben. Oder nee! Lieber den anderen: ›Estació de França!‹«
Dort, am schönen, alten Jugendstil-Bahnhof am anderen Ende der Stadt, ganz in der Nähe der Barceloneta, bin ich mit meiner Mutter nach gefühlten drei Jahren Zugfahrt angekommen, wenn mein Vater erst später Urlaub machen und wir deswegen nicht mit dem Auto fahren konnten. Das kam schon mal vor, er arbeitete als Regisseur beim Westdeutschen Rundfunk und war deshalb zu den »normalen« Ferienzeiten nicht immer abkömmlich. Köln, Paris, Montpellier, Portbou und Estació de França, das war dann unsere Tour.
Die Strecke durch Südfrankreich bis zu den Pyrenäen habe ich geliebt. Ich habe die Nase an die Scheibe des Schlafabteils gepresst, die okzitanische Abendluft eingesogen und über die hübschen Dörfer, die dunkelgelben Lichter der Straßenlaternen und die Platanenalleen gestaunt.
»Auf der anderen Seite ist es nicht so schön, warum nur?«, fragte ich meine Mutter, wenn wir noch in Frankreich waren; und womöglich stieß ich ihr damit ins Herz. Schließlich ist meine Mutter ja im spanischen Teil Kataloniens groß geworden, in Lleida, nahe der Pyrenäen, und dann in Barcelona. Aber die Frage war nur logisch: Wenn man nach Barcelona hineinfuhr, sah man unmittelbar vor der Ankunft die hässlichste Seite überhaupt. Armenviertel, die jeder Beschreibung spotteten, dunkle Mietskasernen, finstere, unglückliche Gestalten.
Ein Freund berichtete mal halb belustigt, halb angewidert von Ärschen, die aus den Fenstern hingen, weil es in den Häusern keine Toiletten gab. Auch aus den Zügen selbst erinnere ich mich noch an so manche Menschen vom unteren Ende der Leiter: spanische Emigranten mit aschfahlen Gesichtern, die nach langen Monaten in der Schweiz, Deutschland oder Frankreich endlich wieder nach Hause zurückkehrten, mit vollen Koffern und ein paar dünnen Bündeln aus Mark- und Franken-Scheinen – für die Daheimgebliebenen ein unglaublicher Reichtum.
Deswegen also, sagte meine Mutter, sei es hier nicht so schön: »Weil’s ein anderes Land ist. Ärmer. Aber auch sehr schön. Wenn du älter bist, wird es dir besser gefallen, dann wirst du es verstehen, wirst sehen«, sagte meine Mutter, und sie behielt recht.
Wie so oft.
Überhaupt gibt es so einiges, was ich erst jetzt begreife. Welch klangvollen Namen dieser Bahnhof in den Ohren vieler Katalanen hat, davon wusste ich lange Zeit nichts.
Estació de França, Frankreichbahnhof, hieß das weiße, monumentale Gebäude mit seinen schweren Eisenstreben im Innern ja deshalb, weil man von dort ins Nachbarland fahren konnte. Ins freie Europa. Zum Beispiel, um die Zeitungen und Bücher zu kaufen, die vom Diktator Francisco Franco verboten worden waren, der von 1939 bis 1975 das Land in eiserner Faust gefangen hielt. »Subversiv«, so lautete das Stigma, das solche Medien trugen, die man nur jenseits der Pyrenäen erwerben konnte. Manche gingen in Frankreich auch bloß ins Kino, um die Filme zu sehen, die von den Sittenwächtern des verknöcherten, nationalkatholischen Spaniens zensiert worden waren. Eine ganze Generation von Katalanen machte sich in den Siebzigern auf, um Marlon Brando und Maria Schneider in »Der letzte Tango in Paris« zu sehen, der für die damaligen spanischen Verhältnisse viel zu erotisch war. Und wenn sie nach Barcelona zurückkehrten, stiegen sie an der Estació de França aus. So wie wir, Jahre später.
An bestimmte Düfte kann ich mich seit jener Zeit sehr genau erinnern. Der beißende Geruch des spanischen Reinigungsmittels Lejía etwa, der einem bis heute in fast jeder Gaststätte entgegenweht, wenn man gerade in sein Steak sticht. Oder die Colonia Nenuco, ein Kölnisch Wasser, das den Kindern von ihren Kindergärtnerinnen und sonntags von den Eltern in die Haare gerieben wird. Meine Eltern waren da nicht so scharf drauf, weder auf den Geruch nach Lejía noch auf Nenuco. Aber manchmal, wenn beide noch in Köln zu tun hatten, blieb ich eine Zeit bei meiner Tante Juani in der tollen Wohnung in der Carrer del Roselló in Eixample, und da war beides unumgänglich.
Meine Tante Juani, die Schwester meiner Mutter, war eine hinreißend aussehende Frau. Meine Mutter hütet noch Urlaubsfotos aus Mallorca, auf denen sie aussieht wie ein blonder Filmstar. Wie die junge Brigitte Bardot. Ihr Mann, mein Onkel Juan, war ein kräftiger katalanischer Klotz von Mann, der mir mit seinen Bärenpranken immer in die Wange kniff und mich »Pescadilla« nannte, kleines Fischchen, weil ich als Kind so spradellig und mager war.
Juan Juani
Beim Frühstück lachten mich deshalb auch immer zwei biquinis, eine Tortilla, Croissants und drei Äpfel an. Wie ein Mastschweinchen fühlte ich mich, und das, obwohl ich alles, was ich nicht vertilgen konnte, heimlich weggeschmissen habe.
Ansonsten waren die Tage ein Traum. Meine drei smarten, gutaussehenden Lieblingsvettern Carlos, Tito und Javi haben immer etwas Aufregendes mit mir unternommen.
Tito ist mit mir die Avinguda Diagonal auf seinem schicken Montesa-Motorrad entlanggepest, und wir haben den süßen Mädchen der Zona Alta, dem »hohen«, weil »besseren« Viertel, hinterhergepfiffen. Zu der Zeit war ich so um die neun und fühlte mich zum ersten Mal wie ein Mann, weil Tito mich vorne sitzen ließ und ich mir vorstellen konnte, ich würde selber das Motorrad lenken! Carlos, den wir auch Charly nannten, war mehr so der Athlet – ein Kraftpaket mit amtlichem Tableta-de-Chocolate-Bauch, wie die Spanier den Sixpack nennen: Schokotafel. Er hat mir gezeigt, wie man Liegestütze macht und beim Armekreuzen mit den Daumen den Bizeps vergrößert, wie man beim Armdrücken pfuschen kann und, vor allem, wie man sich die Schuhe zubindet – die bis heute mit Abstand wichtigste Lektion.
Javi, der Geschäftsmann, hat mir immer von seinen neuen, großen Plänen erzählt, wie er »millones y millones de pesetas« verdienen will, Millionen und Abermillionen Peseten. Fasziniert von seinen tollen Geschichten, kam ich mir vor wie ein Schiffsjunge, der den Abenteuern seines Kapitäns lauscht, was aber vielleicht auch daran gelegen haben könnte, dass ich hin und wieder mit ihm Schiffsknoten über Murmeln gestülpt habe, um daraus Schlüsselanhänger zu machen – eine dieser genialen Ideen, die ihm meines Wissens keine Millionen eingebracht haben.
Mich interessierte sowieso etwas anderes: Abends durfte man bei Tante Juani und Onkel Juan Coca-Cola trinken, »Der Weiße Hai« gucken und bis um eins aufbleiben. Zu Hause undenkbar, und somit ein Traum!
Der Song ist vorbei. Aaah, wie gut es riecht hier oben, kein Smog, keine Vespa-Schwärme, nur die alte, von Touristen bevölkerte Tramvia Blau, die sich die Kurven hochschleppt. Ich gehe immer schneller und berausche mich an den immer schöneren, immer herrschaftlicheren Villen mit ihren Gittertoren.
Sie entstanden, als den betuchteren Barcelonesen die Stadt zu eng wurde. Vor anderthalb Jahrhunderten lag diese Gegend noch jenseits der Stadtgrenzen. Nicht wenige Villen wurden als Landresidenzen errichtet, waren konzipiert als verspielte Urlaubshäuser, in denen man das Wochenende verbrachte. Heutzutage sind die allermeisten Familien längst ausgezogen und die Gebäude an Unternehmen verkauft. Entsprechend seelenlos muten die Fassaden nun an. Manchmal sieht man noch Gärtner eine Hecke schneiden, nur noch ganz selten mal ein dickes Kind wie den Jungen, der gerade im Schatten einer Palme seinen morgendlichen Cacaolat schlürft. Ay, Cacaolat! Das ist der süßeste Kakao überhaupt, der wird dem kleinen Moppel im rosa Marken-Polohemd bestimmt nicht guttun. Oder spricht da bloß der Neid aus mir? Er scheint meine Gedanken erraten zu haben und macht ein Furzgeräusch, als ich an ihm vorbeigehe.
Ja ja, mein Dicker, hier oben ist die Welt in Ordnung, hier haben die Leute Kohle, hier tut dir keiner was. Wie gern würd ich dich mit ins rebellische...