Brückner | Die Quints | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Brückner Die Quints


14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-1010-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-1010-7
Verlag: Ullstein HC
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'Aus den pommerschen Quints ist nach der Flucht doch nichts Rechtes mehr geworden.' Dieser Satz, bei der Einweihung des Burg-Hotels Eyckel im Fränkischen Anfang der siebziger Jahre geäußert, könnte als Leitgedanke vor diesem dritten und letzten Teil der 'Poeninchen'-Romane stehen. Mehr über Christine Brückner erfahren Sie über die Stiftung Brückner-Kühner unter http://www.brueckner-kuehner.de/.

Christine Brückner (1921 - 1996) zählt zu den renommiertesten Schriftstellerinnen Deutschlands. Sie verfasste Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Besonders mit der Poenichen-Trilogie wurde sie einem großen Publikum bekannt.
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1


›Ich geh kaputt, gehst du mit?‹

Sponti der achtziger Jahre

Maximiliane lehnte sich fest gegen die Sandsteinmauer. Ihr Bedürfnis, sich anzulehnen, hatte sich verstärkt. Sie suchte Halt, besaß seit langem niemanden mehr, an den sie sich anlehnen konnte. Hatte sie überhaupt jemals wieder einen Halt gehabt, seit sie sich als Kind gegen das Knie des Großvaters, des alten Quindt, gedrückt hatte? Niemand fragte sie danach, auch sie sich nicht. Man hatte nie mehr gesehen, daß sie einen Baumstamm umarmte, wohl aber, daß sie sich mit dem Rücken an den Stamm eines Baumes lehnte. Joachim, ihr ältester Sohn, hatte einmal gesagt: »Der Baum fällt nicht um, du mußt ihn nicht abstützen!« Daraufhin hatte sie den Kopf in den Nacken gelegt, in die Krone des Baumes geblickt und gefragt: »Bist du sicher?« Sie hatten sich in dem schönen Einverständnis, das zwischen ihnen herrschte, zugelacht, und Maximiliane hatte gefragt: »Versprichst du mir das?« Woraufhin ihr Sohn den Baum prüfend betrachtet hatte, von Bäumen verstand er etwas. »Das verspreche ich dir!« Vertraute Spiele. ›Bist du sicher?‹ – ›Versprichst du mir das?‹

Um mit ihrer Tochter Viktoria zu reden, mußte Maximiliane einen anderen Ton finden. Mutter und Tochter hatten sich auf den höchsten Punkt des Burg-Hotels Eyckel, den Burgfried, zurückgezogen; man hatte, im Zug der nostalgischen Welle, die mittelalterlichen Bezeichnungen beibehalten, als der vom Verfall bedrohte Eyckel in ein Hotel umgebaut worden war. Hier würde niemand sie stören, hier würden sie miteinander reden können. Vorerst schwiegen allerdings beide. Maximiliane in einem Trachtenkleid, blau in blau, der Ausschnitt nicht mehr so tief, die Ellenbogen von den Ärmeln bedeckt, immer noch ein erfreulicher Anblick. Viktoria mit hochgezogenen Knien auf der breiten Brüstung in drei Meter Entfernung, ein Stoffbündel, einen unförmigen Beutel neben sich. Maximiliane unterdrückte das Bedürfnis, die junge Frau in die Arme zu nehmen, weil sie fürchtete, zurückgewiesen zu werden. Sie wartete ab. Diese abwartende Haltung hatte sie sich gegenüber ihren Kindern angewöhnt. Viktoria kaute an ihren Fingernägeln. Alles vererbt sich. Maximiliane hat diese Gewohnheit abgelegt, niemandem ist es aufgefallen. Aber man erinnert sich vielleicht noch: Auf einem der drei bemoosten Säulenstümpfe der ehemaligen Vorhalle von Poenichen, das heute im polnischen Pomorze liegt und Peniczyn heißt, im Dickicht des ehemaligen Parks hat sie zum letzten Mal an ihren Nägeln gekaut. Danach nie wieder. Seit jener Reise ins ehemalige Hinterpommern hat sie sich verändert. Sie lebt im festen Angestelltenverhältnis im Burg-Hotel Eyckel, dem ehemaligen Stammsitz der Quindts; kein Wort wäre so oft zu benutzen wie das Wort ehemalig, aber es wird nicht von ihr benutzt.

Eigentümer des Hotels ist nach wie vor die Brauerei Brandes, der Name Quindt taucht weder in der adligen noch in der bürgerlichen Fassung im Prospekt auf, trotzdem kennen ihn die Stammgäste. Als ›guten Geist des Hauses‹ hat Herr Brandes Maximiliane Quint, geborene von Quindt, bei der Einweihung des Hotels engagiert.

Seit sechs Uhr früh auf den Beinen, ist Maximiliane jetzt, am späten Nachmittag, ermüdet. »Bist du gekommen, um mir mitzuteilen, daß wieder etwas kaputtgegangen ist?« fragt sie schließlich die Tochter.

»Um dir zu sagen, daß ich es versucht habe«, antwortet Viktoria. »Du hast früher immer gesagt: ›Ich kann es ja mal versuchen‹, und du hast es dann geschafft. Ich habe es auch versucht und habe es nicht geschafft. Das ist der Sachverhalt, und das ist der Unterschied zwischen dir und mir. Ich bin ausgestiegen.«

»Warst du nicht gerade erst eingestiegen?«

»Deinetwegen habe ich das getan!«

»Ich habe dich nie beeinflußt. Du gehst deinen Weg, allerdings im Zickzack.«

»Willst du wissen, wie ich überhaupt in den Scheißladen hineingeraten konnte?«

Maximiliane blickt ihrer Tochter abwartend ins Gesicht, mit Schonung hat sie nicht zu rechnen; diese Tochter, die man von klein auf geschont hatte, weil sie dünnhäutig war, schont niemanden, noch immer sieht sie aus wie ein altgewordenes Hippiemädchen, ein Aprilkind, auf das viele Tränen gefallen sind. Irgendwas muß sie bei der Erziehung falsch gemacht haben, aber dasselbe hat sie auch bei ihren anderen Kindern schon gedacht.

Viktoria sagt, nachdem sie wieder eine Weile geschwiegen hat: »Bei eurem Familientag, als ihr diese Absteige für die Reichen eingeweiht habt und du uns mit deinem kategorischen ›Komm!‹ hierher beordert hattest, da stand ich zufällig neben jemandem, der nicht wußte, daß ich zum Clan gehöre. Er hat gesagt: ›Aus den pommerschen Quints ist nach der Flucht doch nichts Rechtes mehr geworden, aus keinem.‹«

»Hat er das so gesagt?«

»Willst du wissen, wer?«

»Nein! Ich weiß ja nicht einmal genau, was das ist: etwas Rechtes.«

»Ich auch nicht! Aber irgendwie hast du mir plötzlich leid getan. Am selben Abend habe ich das Angebot in der Industrie angenommen. Die Leute meinen doch alle nur Stellung und Besitz, sonst zählt doch nichts.«

»Von mir hast du das nie gehört.«

»Du hast zu uns gesagt: ›Stehlen ist besser als betteln …‹«

»Habe ich das gesagt?«

Viktoria zeigt ins Tal, wo man am Ufer der Pegnitz ein paar Dächer erkennen kann. »Unten im Dorf, als wir Äpfel geklaut hatten.«

»Damals ist nicht heute, Tora!«

»Ich stehle ja auch nicht. Aber ich will nicht mitmachen. Ich will nur weg.«

»Weißt du denn auch, wohin?«

»Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht.«

»Ich weiß nicht, wo das steht, Tora, aber es ist nicht von dir.«

»Von Nietzsche oder Sokrates. Ich weiß es nicht. Sokrates wäre besser! Er lebte in freiwilliger Armut. Diogenes und seine Schüler lebten wie Bettler.«

»Wo gebettelt wird, muß es auch jemanden geben, bei dem etwas zu erbetteln ist.«

»Du stehst auf der falschen Seite!«

»Das Leben hat nicht nur zwei Seiten, Tora, es ist sehr vielseitig.«

Als ihre Tochter nicht antwortet, fährt sie fort: »Die Stelle in diesem Werk, ich weiß nicht mehr, wie es hieß, entsprach doch genau deiner Ausbildung?«

»Ich wollte für das Wohlergehen der Betriebsangehörigen arbeiten. Aber der Besitzer meinte das Wohlergehen seines Betriebes!«

»Deckt sich das nicht? Wenn es dem Betrieb ›wohlergeht‹, wie du es nennst, geht es doch auch den Betriebsangehörigen gut. Und umgekehrt. Das ist in diesem Betrieb hier genauso, nur daß es auch noch den Gästen wohlergehen soll.«

Es lag nicht in Viktorias Absicht, über das Wohlergehen des Hotels zu reden. »Du stehst auf der falschen Seite!«

»Das hast du schon einmal gesagt.«

»Du begreifst es nur nicht! Du denkst immer noch in alten Schablonen!«

Hätte Maximiliane sagen sollen, daß ihre Tochter die alten Schablonen gegen neue ausgetauscht hatte?

Sie sagt es nicht, sondern wechselt das Thema.

»Was ist mit deinem Freund?«

»Manfred? Er ist nicht mehr mein Freund. In der ersten Firma hat er seinen eigenen Posten wegsaniert. Das passiert ihm nicht ein zweites Mal. Als er nichts fand, habe ich ihm die Hälfte meiner Stelle abgetreten. Er hat der Betriebsleitung bewiesen, daß er tüchtiger ist als ich. Er hat bereitwillig eingesehen, daß die Firma im Sinne der Arbeitsplatzerhaltung Rüstungsaufträge annehmen mußte. Ich habe das nicht eingesehen. Die Firma hat mir gekündigt, und Manfred hat mir auch gekündigt. Ich bin fünf Jahre älter als er. Solche Verhältnisse haben den Vorzug, daß man sich nicht scheiden lassen muß. Unsere Abmachungen waren jederzeit kündbar. Eine dokumentenfreie Partnerschaft, du kannst es auch eine unlizensierte Beziehungskiste nennen. Er wollte mir übrigens eine Analyse bezahlen. Er hält mich für verkorkst.«

»Hat er verkorkst gesagt?«

»Er hat noch ganz andere Ausdrücke benutzt. Bei einer Analyse wären alle Fehler, die du bei meiner Aufzucht gemacht hast, herausgekommen. Er hat sich bei einem Psychoanalytiker einen Kostenvoranschlag machen lassen, mit Altersangabe und Background des Patienten. Genau den Betrag habe ich bei mir.« Sie stößt mit dem Fuß gegen den Beutel.

»In bar?«

»Geld kann gar nicht bar genug sein, das hast du doch immer behauptet.«

Maximiliane versucht, sich zusammenzunehmen, umspannt mit der rechten Hand den linken Ellenbogen, mit der linken Hand den rechten, hält sich an sich selber fest, um nicht wieder in Versuchung zu geraten, ihr Kind in die Arme zu nehmen; sie würde sich sträuben, sie ließ sich nicht anfassen, schon gar nicht von ihrer Mutter.

»Der Satz stammte vom alten Quindt«, sagt sie und, auf den Beutel zeigend: »Ist das alles, was du besitzt?«

»Man muß Ballast abwerfen, das stammt von dir, das kann ja nicht vom alten Quindt stammen. Ein paar Klamotten, mehr braucht man doch nicht.«

Viktoria blickt hinunter auf den Parkplatz, sie taxiert die Wagen. »Ich wundere mich, daß du es hier aushältst.«

»Ich wundere mich auch, aber ich bin sechzig. Irgendwo muß ich doch bleiben.«

»Früher hast du gesagt: ›Wer kein Zuhause hat, kann überall hin.‹«

»Früher.«

»Das sind doch alles Mittelklasse-Wagen und drüber.«

»Von hier oben sehen sie alle klein aus, Tora. Es kommt auf den nötigen Abstand an.«

»Wodurch sind diese Individuen, die hier absteigen, denn reich geworden?«

»Vermutlich durch Arbeit.« Maximilianes Antwort klingt wenig überzeugend.

»Glaubst du etwa, daß sie glücklich sind?«

»Einige. Geld macht ja nicht unglücklich und Armut nicht...


Brückner, Christine
Christine Brückner (1921 - 1996) zählt zu den renommiertesten Schriftstellerinnen Deutschlands. Sie verfasste Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Besonders mit der Poenichen-Trilogie wurde sie einem großen Publikum bekannt.

Christine Brückner, am 10.12.1921 in einem waldeckischen Pfarrhaus geboren, am 21.12.1996 in Kassel gestorben. Nach Abitur, Kriegseinsatz, Studium, häufigem Berufs- und Ortswechsel wurde sie in Kassel seßhaft. 1954 erhielt sie für ihren ersten Roman einen ersten Preis und war seitdem eine hauptberufliche Schriftstellerin, schrieb Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Von 1980-1984 war sie Vizepräsidentin des deutschen PEN; 1982 wurde sie mit der Goethe-Plakette des Landes Hessen ausgezeichnet, 1990 mit dem Hessischen Verdienstorden, 1991 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Christine Brückner war Ehrenbürgerin der Stadt Kassel und stiftete 1984, zusammen mit ihrem Ehemann Otto Heinrich Kühner, den 'Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor'.

Christine Brückners Gesamtwerk ist im Ullstein Verlag erschienen.



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