E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: dtv- extra
Brooks The Road of the Dead
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-423-41055-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: dtv- extra
ISBN: 978-3-423-41055-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kevin Brooks, geboren 1959, wuchs in einem kleinen Ort namens Pinhoe in Südengland auf. Nach seinem Studium verdiente er sein Geld mit Gelegenheitsjobs. Seit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans >Martyn Pig< widmet er sich ganz dem Schreiben. Für seine Arbeiten wurde er mit renommierten Preisen ausgezeichnet, u.a. mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis sowie der Carnegie Medal für >Bunker Diary<. Er schreibt auch Thriller für Erwachsene.
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Drei
Die Straßen um Paddington Station herum waren total verstopft. Bis ich aus dem Taxi gestiegen war, eine Fahrkarte gekauft und mich auf der Suche nach dem richtigen Bahnsteig durch die Bahnhofshalle geschlängelt hatte, war es fast fünf nach halb zwölf. Ich stieg ein, als der Schaffner gerade sämtliche Türen schloss. Der Zug war gut besetzt, aber nicht überfüllt. Ich wartete, während sich die anderen Fahrgäste sortierten – sich Plätze suchten, ihr Gepäck verstauten, ziellos auf und ab liefen–, und als der Zug den Bahnsteig verlassen hatte, fing ich an, nach Cole zu suchen.
Der Zug war lang, und während ich gemächlich durch die Waggons lief, begann ich plötzlich über Dad nachzudenken.
Einmal hatte er mir erzählt, das Erste, woran er sich erinnern könne, sei, wie er neben einem Wassertrog stand und einem Pferd beim Trinken zuschaute. Das war es. Das war seine allererste Erinnerung – wie er auf eigenen Füßen im hohen Gras einer Wiese stand und einem Pferd beim Trinken aus einem Trog zusah. Das hat mir immer gefallen. Ich dachte, es muss wirklich schön sein, so was im Kopf zu haben.
Dad hat uns immer gern Geschichten aus seiner Kindheit erzählt. Ich glaube, mit dem Erzählen kamen für ihn die guten Erinnerungen zurück. Er war geboren und aufgewachsen in einem Wohnwagen aus Aluminium – oder Caravan, wie er ihn nannte–, in dem er mit seinen Eltern und zwei größeren Brüdern wohnte. »Es war der schönste Caravan auf dem ganzen Platz«, erzählte er uns stolz. »Schicke kleine Kotflügel, eine dreifach verstärkte Tür, ein Schornstein aus Chrom mit so einer Kappe obendrauf…« Jedes Mal fing er dann an zu lachen und erinnerte sich an immer mehr Details – die Paraffinlampe, die an der Decke hing, den bemalten Herd, den soliden Esstisch aus Eiche, den Nippes seiner Mutter…
Manchmal erinnerte er sich auch an Dinge, über die es nichts zu lächeln gab, zum Beispiel an die Nacht, als eine Gruppe von Einheimischen den Wohnwagen anzündete, während Dad und seine Familie schliefen, oder wie sein Vater, wenn er betrunken war, ihn manchmal mit einem breiten Ledergürtel schlug, der mit Metallringen besetzt war. Ich fragte mich oft, ob darin der Grund lag, dass Dad ein Bare-Knuckle-Boxer geworden war, jemand, der in Wettkämpfen mit der bloßen Faust zuschlägt – nur um es seinem Vater oder den Einheimischen oder irgendwem sonst heimzuzahlen, der ihm als Kind Schmerzen zugefügt hatte. Aber ich wusste, dass ich wahrscheinlich falsch lag. Es war viel einfacher. Wie Dad immer sagte: Zigeuner sind zum Kämpfen geboren, das steckt ihnen im Blut.
Schließlich fand ich Cole im allerletzten Wagen des Zuges. Er saß allein an einem Tischplatz und starrte mit leerem Blick durchs Fenster. Er sah mich nicht an, als ich durch den Waggon auf ihn zukam, aber ich wusste, dass er meine Anwesenheit bemerkt hatte. Ich spürte, wie er mich beobachtete. Er ignorierte mich weiter, bis ich durch den ganzen Waggon durch war und direkt neben ihm stehen blieb. Aber selbst da sagte er nichts, sondern wandte nur den Kopf und warf mir einen langen, trägen Blick zu.
»Alles okay?«, sagte ich lächelnd.
Er antwortete nicht.
Ich nickte zu dem leeren Platz gegenüber von ihm. »Sitzt da jemand?«
Sein Gesicht blieb leer, seine Augen mürrisch und hart. Ich wusste, was er empfand. Es war das Gleiche wie damals, als wir noch klein waren und ich ihm überallhin folgte – ich war ständig im Weg, ging ihm auf die Nerven, ließ ihn nicht einen Moment allein. Er wollte nicht, dass ich wie eine Klette an ihm hing, denn meistens hatte er nichts Gutes im Sinn gehabt und wollte mich nicht mit reinziehen. Er konnte sich zwar nie überwinden, so etwas auszusprechen, aber er war immer besorgt um mich und hatte schreckliche Angst, mir könnte etwas zustoßen.
Als ich mich jetzt ihm gegenüber hinsetzte, wusste ich, dass er genau dies empfand. Er wollte mich nicht dabeihaben, weil er wusste, er würde sich Ärger einhandeln. An sich kümmerte ihn das nicht weiter, aber wenn ich dabei war, war das etwas anderes.
»Scheiße«, sagte er schließlich.
Ich lächelte ihn wieder an.
Er schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster.
Ich zuckte die Schultern und blickte mich in dem Waggon um. Er war etwa halb voll. Die anderen Fahrgäste waren alle ziemlich still – sie lasen Bücher oder Zeitschriften, unterhielten sich mit leiser Stimme oder starrten stumm aus dem Fenster. Ich überlegte, wo sie wohl hinfuhren und was sie tun würden, wenn sie ankämen… und dann überlegte ich, ob sie sich wohl die gleichen Fragen über mich stellten.
»Wir müssen bald in Reading sein«, sagte Cole zu mir. »Da kannst du aussteigen.«
»Ich steig nicht aus.«
Er sah mich an. »Das ist kein Vorschlag, Rube, du tust, was ich sage. Du steigst in Reading aus.«
»Ja? Und was willst du machen, wenn ich nicht aussteige? Mich vom Sitz zerren und wegtragen? Mich raus auf den Bahnsteig werfen?«
»Wenn’s sein muss.«
»Ich fang an zu schreien, wenn du das machst. Dann glauben die Leute, du willst mich entführen. Die Schaffner halten den Zug an und rufen die Polizei, dann wirst du eingesperrt.« Ich lächelte ihm ins Gesicht. »Das willst du doch nicht, oder?«
Er holte tief Luft und seufzte. »Weiß Mum Bescheid, dass du hier bist?«
»Natürlich weiß sie Bescheid. Ich lass sie doch nicht einfach allein, ohne ihr was zu sagen, oder?«
»Hat sie gesagt, du sollst mir folgen?«
»Nein.«
»Aber sie hat nicht versucht, dich davon abzuhalten.«
»Sie macht sich Sorgen um dich. Sie weiß, wie du bist.«
»Ja? Und wie bin ich?«
»Du erinnerst sie an Dad.«
»Was soll das heißen?«
»Du weißt genau, was das heißt. Sie will nicht, dass du so endest wie er.«
»Na ja…«
»Ach komm, Cole«, sagte ich strahlend. »Das klappt schon. Ich kann dir helfen.«
»Ich brauch keine Hilfe.«
»Ich seh zu, dass du keinen Ärger kriegst.«
»Ich krieg sowieso keinen. Ich will mich doch nur umschauen und ein paar Fragen stellen.«
»Was denn für Fragen?«
Er seufzte wieder. »Weiß ich noch nicht.«
»Ich bin gut im Fragenausdenken.«
Er verdrehte die Augen. »Allerdings.«
»Und wenn es ums Denken geht«, fügte ich hinzu, »sind zwei Köpfe sowieso besser als einer.« Ich grinste ihn an. »Vor allem, wenn einer davon deiner ist.«
Er sah mich böse an. Es reichte ihm, er gab auf. Er schüttelte wieder den Kopf und fasste in seine Tasche nach Zigaretten.
»Du darfst hier drinnen nicht rauchen«, erklärte ich ihm und deutete auf das Zeichen am Fenster.
Er sah das Schild an, sah mich an, dann schob er die Zigaretten zurück in die Tasche.
»Scheiße«, sagte er.
Danach ließen wir eine Weile locker. Cole saß nur da und schaute aus dem Fenster und ich saß da und teilte sein Schweigen. Meine Empfindungen waren jetzt bei ihm und ich spürte, dass Dad in seinem Herzen war. Es war ein gutes Gefühl, gut und stark, es machte, dass ich mich sicher fühlte. Aber genauso spürte ich dieses Fehlen, das Mum vorher erwähnt hatte. Diese Leere, das, was weder Dad noch Cole zu haben schienen – ihnen fehlte die Angst um sich selbst, um das eigene Leben. Ich wusste, es war eine notwendige Leere, so eine Art kaltblütige Entschlossenheit, die man manchmal braucht, um in der Welt zurechtzukommen. Aber ich wusste auch, was passieren konnte, wenn diese Leere alles beherrschte, und es machte mir Angst, genau das in Cole zu spüren.
Ich empfand auch mit, wie er über Rachel nachdachte. Er war sich nicht bewusst, dass er über sie nachdachte, denn er hatte die letzten drei Tage über nichts anderes nachgedacht und seine Gedanken funktionierten inzwischen schon automatisch. Wie Atmen. Wie Laufen. Wie Leben. Als er jetzt über sie nachdachte, dachte er mit etwas, das er gar nicht spürte. Er dachte mit dem Innersten seiner Sinne. Es dachte ihn. Suchte die Dunkelheit ab, versuchte sie zu finden, versuchte ihr Bild in sein Gedächtnis zu rufen – ihre Augen, ihr Haar, die Art, wie sie einmal gelacht und die Welt zum Leuchten gebracht hatte…
Aber es half nichts. Alles war zu weit weg. Die Bilder kamen nicht mehr zurück. Das Einzige, was er jetzt vor Augen hatte, war der nackte Leichnam eines Mädchens, das er nicht kannte.
Er sah Rachel nicht mehr vor sich.
Ich überlegte, ob es das war, was ihn antrieb.
Als der Zug durch Exeter und weiter Richtung Plymouth fuhr, veränderte sich die Landschaft allmählich. Die braune Erde wurde rot, aus Ziegelstein wurde Granit und das Sonnenlicht schien seine Helligkeit zu verlieren. Traurig wirkende Berge tauchten in der Ferne auf, warfen kalte graue Schatten über die am Fenster vorbeigleitenden Wiesen und ließen alles düster und leer erscheinen.
»Das hier ist echt weit weg von unserer Canleigh Street«, sagte ich zu Cole.
»So verschieden ist es auch wieder nicht«, murmelte er. »Bloß eine andere Gegend.«
»Findest du?«
Er wandte sich vom Fenster ab und reckte seinen Nacken. »Wie spät ist es?«
Ich schaute auf meine Uhr. »Halb drei. In einer halben Stunde müssten wir in Plymouth sein.«
Cole reckte sich wieder. »Ich hab nachgedacht…«
»Ja?«
Er sah mich an. »Über Rachel.« Er rieb sich die Augen. »Das Mädchen, bei dem sie war – Abbie Gorman. Weißt du irgendwas über sie?«
»Ich...