E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Brooks Born Scared
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-423-43280-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-43280-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kevin Brooks, geboren 1959, wuchs in einem kleinen Ort namens Pinhoe in Südengland auf. Nach seinem Studium verdiente er sein Geld mit Gelegenheitsjobs. Seit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans >Martyn Pig< widmet er sich ganz dem Schreiben. Für seine Arbeiten wurde er mit renommierten Preisen ausgezeichnet, u.a. mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis sowie der Carnegie Medal für >Bunker Diary<. Er schreibt auch Thriller für Erwachsene.
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8 Ein blutroter Albtraum
Ich war sechs, als Mum mich zu einer Kinderpsychologin brachte. Ich glaube nicht, dass sie es wirklich wollte – einerseits wusste sie, dass es mir Angst machen würde, andererseits bedeutete es, sich selbst einzugestehen, dass mein Problem eher psychisch als körperlich bedingt war, und das wollte sie noch immer nicht akzeptieren. Doch tief im Innern wusste sie Bescheid und ihr war auch klar, dass sie irgendwas unternehmen musste. Also fragte sie unseren Arzt, ob er jemanden empfehlen könne, und nachdem er sich umgehört hatte, gab er ihr eine Adresse und Mum machte einen Termin bei der Frau.
Wir schafften es bis in das Wartezimmer.
Aber als die Psychologin (oder Therapeutin oder wie immer sie sich nannte) aus ihrem Sprechzimmer trat und Mum und mich hereinrief, konnte ich mich einfach nicht rühren. Ihr Anblick erschreckte mich so sehr, dass ich in eine Art Schockstarre fiel – ich saß gelähmt auf dem Stuhl, die Muskeln blockierten, meine Augen standen hervor und die Kehle wurde mir so eng, dass ich kaum noch Luft bekam. Auch die Psychologin erstarrte einen Moment lang und ich sah es ihr an, dass sie erschrocken war über meine Reaktion. Doch sie fing sich ziemlich schnell wieder, zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, trat auf Mum und mich zu und blieb vor uns stehen. Ich wollte sie nicht ansehen, aber ich konnte nicht anders. Sie war schon ziemlich alt, allerdings nicht uralt oder so. Sie hatte eher lange weiße Haare, die zu einem Zopf nach hinten gebunden waren, und sie trug eine große Kette mit golden leuchtenden Scheiben. Vor allem aber hatte sie ein erbsengroßes Muttermal oder so was an der Oberlippe, einen hart wirkenden dunkelbraunen Fleck, und wie ich so dasaß und sie hilflos anstarrte, stellte ich mir plötzlich vor, er würde pulsieren, puckern und rot werden, und dann sah ich, wie er auf einmal aufbrach und eine fette gelbe Fliege herauskrabbelte …
»Hallo, Elliot«, sagte die Psychologin. »Ich bin …«
Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich war bereits aufgesprungen, rannte zur Tür und schrie mir im Laufen die Lunge aus dem Hals.
Etwa ein halbes Jahr später vereinbarten Mum und unser Arzt einen Termin mit einem anderen Psychologen, der zu uns nach Hause kommen sollte, doch auch das funktionierte nicht. In der Nacht vor dem Termin geriet ich allein bei der Vorstellung so sehr in Panik, dass ich physisch krank wurde. Erbrechen, Durchfall, kalter Schweiß und hohes Fieber …
Der Hausbesuch wurde abgesagt.
»Wie wär’s, wenn ich mal mit ihm rede?«, fragte unser Arzt meine Mum. »Ich könnte ihn fragen, wie er alles empfindet, wieso er solche Angst hat vor allem. Ich könnte das Gespräch aufzeichnen, es einem Kinderpsychologen geben und hören, was er meint.«
»Würde sich darauf denn jemand einlassen?«, fragte Mum.
»Fragen kostet ja nichts, oder?«
ARZT: Wie fühlst du dich genau, wenn du dich vor etwas fürchtest, Elliot?
ICH: Ich habe Angst.
ARZT: Weißt du, wieso?
ICH: Wie meinen Sie das?
ARZT: Ich wüsste gern, du solche Angst hast. Was ist es, das dir Angst macht?
ICH: Kommt drauf an.
ARZT: Worauf?
ICH: Unterschiedliche Dinge machen mir auf unterschiedliche Art Angst.
ARZT: Hast du ein Beispiel?
ICH: Woran denken Sie?
ARZT: Autos von mir aus. Du hast doch auch Angst vor Autos, oder?
ICH: Ja.
ARZT: Wieso?
ICH: Weil sie mich töten können.
ARZT: Kannst du das ein bisschen weiter ausführen?
ICH: Wenn ich in einem Auto sitze, habe ich nur einen Gedanken: Was ist, wenn irgendwas mit dem Auto schiefgeht? Wenn es von der Straße abkommt oder wenn irgendwas mit dem Fahrer passiert, er die Kontrolle verliert und gegen eine Mauer fährt, oder wenn irgendwas mit einem anderen Auto oder Fahrer ist und der Wagen gerät außer Kontrolle und kracht in uns rein … deshalb habe ich Angst vor Autos.
ARZT: Weil du glaubst, sie könnten dich töten?
ICH: Sie mich töten.
ARZT: Das heißt, es ist eine Angst, die auf einem möglichen Ereignis in der Zukunft basiert, einer möglichen künftigen Realität?
ICH: Keine Ahnung, was das heißt.
ARZT: Es heißt, dass du Angst hast vor etwas, das passieren . Es ist zwar extrem unwahrscheinlich, dass es passiert, aber die Möglichkeit besteht natürlich immer.
ICH: Richtig.
ARZT: Und wie ist es bei Dingen, vor denen du Angst hast, die aber keine offensichtliche Gefahr darstellen? Nehmen wir Farben. Was ist zum Beispiel an der Farbe Rot, das dir solche Angst macht? Ist es die Farbe selbst?
ICH: Nein, eigentlich nicht.
ARZT: Was dann? Erinnert dich die Farbe Rot an etwas Schlimmes?
ICH: Blut.
ARZT: Blut?
ICH: Ja.
ARZT: Rot erinnert dich an Blut?
ICH: Ja.
ARZT: Und das macht dir Angst?
ICH: Ja.
ARZT: Wieso?
ICH: Keine Ahnung … ist einfach so. Wenn ich was Rotes sehe, füllt das Rot meinen Kopf irgendwie mit Blut.
ARZT: Bist du deshalb als kleines Kind vor dem Weihnachtsmann weggelaufen?
Das war vor acht Jahren gewesen, als ich fünf war. Ich war mit Mum in der Stadt und klammerte mich an ihre Hand, während wir uns durch die Massen der Weihnachtseinkäufer schoben. Es war so laut und chaotisch, dass ich sowieso schon Panik hatte, doch das war gar nichts verglichen mit dem extremen Horror, als plötzlich direkt vor mir ein buckliger Weihnachtsmann aufkreuzte.
Ich weiß nicht, woher er kam – wahrscheinlich gehörte er zu einem Weihnachtsmarkt oder so –, und ich weiß auch nicht, was er da verdammt noch mal trieb. Jedenfalls war ich, als er aus der Menge heraus auf mich zuschoss – vornübergebeugt, sodass sein Kopf auf gleicher Höhe mit meinem war, und mit ausgestreckten Armen –, derart schockiert und in Panik, dass ich mir tatsächlich in die Hose machte. Er war grässlich. Sein Gesicht ganz schorfig und von geplatzten Adern übersät, die Augen ohne klare Richtung, die Zähne eine Reihe verfaulter schwarzer Stummel. Sein schmuddeliger Weihnachtsmann-Bart hatte gelbe Nikotinspuren und braune Brandflecken, dazu Ketchup-Spritzer und wer weiß was alles. Und unter dem Kunstbart waren deutlich dichte schwarze Bartstoppeln zu sehen.
Obwohl er alles trug, was ein Weihnachtsmann braucht – rote Mütze, roter Mantel, rote Hose –, wirkte er beim besten Willen nicht so, wie er sollte. Zunächst einmal war er nicht wirklich alt – Mitte zwanzig höchstens –, und dick oder fröhlich war er auch nicht, sondern einfach nur schrecklich. Ein blutroter Albtraum. Und dazu roch er auch noch übel, wie verfaultes Obst … verfaultes Obst mit Zigarettenrauch vermischt.
Er muss sofort gesehen haben, wie verängstigt ich war, doch als ich vor ihm zurückwich und verzweifelt versuchte, mich hinter Mums Beinen zu verstecken, grinste er bloß und kam hinter mir her, als wäre das Ganze ein lustiges Spiel.
»Keine Angst, Junge«, sagte er ekelhaft keuchend und krächzig. »Ist doch nur der Weihnachtsmann … hey, komm schon, ich tu dir doch nichts …«
Das Ganze passierte so schnell, dass Mum wohl erst gar nicht wusste, was los war, doch als dieser monströse Weihnachtsmann um ihre Beine griff und nach mir tatschte, was er wohl für einen lustiges Spaß hielt, und ich mich daraufhin von Mum losriss und in die Menge davonrannte, war sie plötzlich voll da. Kaum dass sich der teuflische Weihnachtsmann leise fluchend aufgerichtet hatte, um mir zu folgen, schlug sie nach ihm, trat ihm in die Eier und schoss hinter mir her, während er sich vor Schmerz krümmte und zu Boden sank.
ICH: Ich hätte auch Angst gehabt, wenn seine Sachen eine andere Farbe gehabt hätten – egal welche.
ARZT: Glaubst du, du hättest dich weniger gefürchtet, wenn er nicht ganz in Rot gekleidet gewesen wäre?
ICH: Ja, aber ich wär trotzdem vor ihm weggerannt.
ARZT: Was ist mit all den roten Dingen, die du täglich siehst? Ich meine, der Homer-Simpson-Becher da drüben auf deinem Schreibtisch zum Beispiel, der mit den ganzen Stiften drin … der ist doch auch teilweise rot.
ICH: rot ist okay. Rot macht mich nur fertig, wenn es ein ganzer riesiger Flatschen ist. Wenn jemand einen roten Mantel trägt oder so. Und es passiert auch nicht immer.
ARZT: Was heißt das?
ICH: Manchmal sehe ich die Farben, die mir Angst machen, und es passiert gar nichts, und manchmal stören sie mich nur ein bisschen. Aber an Angstfarben-Tagen … da ist es richtig schlimm.
ARZT: Welche anderen Farben machen dir Angst?
ICH: Schwarz, Blau … manchmal auch Lila.
ARZT: Füllen sie deinen Kopf auch mit beängstigenden Dingen, wie es das Rot tut?
ICH: Ja.
ARZT: Womit füllt Schwarz deinen Kopf?
ICH: Mit Tod, Finsternis, Nacht, Nichts.
ARZT: Und Blau?
ICH: Mit...