E-Book, Deutsch, Band 76, 97 Seiten
Reihe: FILM-KONZEPTE
Brombach / Wahl / Wedel Jeanine Meerapfel
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-68930-074-6
Verlag: Richard Boorberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 76, 97 Seiten
Reihe: FILM-KONZEPTE
ISBN: 978-3-68930-074-6
Verlag: Richard Boorberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ilka Brombach, Dr. phil., Studium Filmwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin. Promotion, DFG-Projekt 'Die Politik des Ästhetischen im westeuropäischen Kino'. 2014-2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, DFG-Projekt zur Geschichte der Filmhochschule. 2020-2023 wissenschaftlich-kuratorische Leiterin, Filmmuseum Potsdam; seit 2021 Vertret. Professorin für Filmforschung und Filmbildung im Museum, Filmuniversität; Leiterin Filmfestival 'moving history'. Chris Wahl, geb. 1974, ist seit Juni 2013 Heisenberg-Professor für das audiovisuelle Kulturerbe an der HFF 'Konrad Wolf', wo er sich um den Aufbau eines Forschungszentrums 'Filmerbe' bemüht. Schwerpunkte seiner Arbeit waren bislang Film und verbale Sprache bzw. audiovisuelle Übersetzung (polyglotter Film, Synchronisation, Untertitelung, Sprachversionen), deutsche Filmgeschichte sowie Medienästhetik und Filmstil (Zeitlupe und Mehrfachbelichtung. Michael Wedel, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der FU Berlin sowie der Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität von Amsterdam. 2001-2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Filmgeschichte an der HFF 'Konrad Wolf'. Promotion 2005 mit einer Arbeit zur Geschichte des Musikfilms in Deutschland. 2005-2009 Assistenz-Professor für Geschichte und Theorie der Medien und Kultur am Institut für Medienwissenschaft der Universität von Amsterdam. Seit 2009 Professor im Studiengang Medienwissenschaft an der HFF 'Konrad Wolf'. Seit 2011 Wedel zudem wissenschaftlicher Leiter des HFF-Instituts Filmmuseum Potsdam. Lea Wohl von Haselberg lehrt an der Filmuniversität Babelsberg und forscht zu deutsch-jüdischen Themen und Erinnerungskultur. Sie leitet das DFG-Projekt 'Jewish Film Heritage' und ist Programmdirektorin des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Dokumentarfilme
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Filmgeschichte
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Einzelne Filmschauspieler, Filmregisseure, Drehbuchautoren
Weitere Infos & Material
Lea Wohl von Haselberg
Einleitung: Kino der Liebe und Erinnerung
Die 1943 in Buenos Aires geborene Regisseurin und Autorin Jeanine Meerapfel wurde in den Jahren um ihren 80. Geburtstag mit mehreren Retrospektiven und Werkschauen gewürdigt, doch liegen bisher kaum zusammenhängende Publikationen vor. Dabei verlangt ihr Werk durch- aus eine solche Zusammenschau. Als eine der wenigen Frauen im Umfeld des Neuen Deutschen Films realisierte sie Spiel- und Dokumentarfilme, die, getragen von einem politischen Verständnis von Filmschaffen, transnationale Perspektiven in das Kino der Bundesrepublik einschrieben.
Fast alle ihre Filme sind Koproduktionen und von Mehrsprachigkeit geprägt, die Bezüge zu ihrem Geburtsland Argentinien offenkundig: Das Land ist Drehort, die Weite der argentinischen Pampa füllt das Bild, immer wieder scheinen Bezüge zur argentinischen Geschichte auf, werden die argentinische Gesellschaft und Kultur thematisiert. Argentinien ist präsent durch Musik und Lyrik: Gedichte liefern eine poetische Reflektion der Welt – für die Regisseurin wie ihre Figuren und Protagonist:innen – und in fast allen Filmen ist Tango zu hören. Ihre Filme können als warm, poetisch und nicht-distanziert beschrieben werden,1 einige als melodramatisch. Im Zentrum stehen weibliche Figuren und Protagonistinnen, für die das Leben in der Gegenwart immer eine Auseinandersetzung mit einer fortwirkenden Vergangenheit bedeutet, zu der sie einen Zugang finden und sich verhalten müssen. Gleichzeitig entwickelt Meerapfel über das Ausloten von Nähe und Distanz einen kritischen Blick auf (West-)Deutschland, der singulär ist. Ihre Filme lassen sich also über wiederkehrende Themen, Motive und filmische Verfahren recht eindeutig als das Werk einer Autorin lesen. Tatsächlich aber ist die Wahrnehmung ihres filmischen Werks in aufschlussreicher Weise zersplittert: Im argentinischen Kino wird sie als eine der produktivsten Regisseurinnen2 und wichtigen jüdischen Filmemacherinnen ihrer Generation gesehen,3 als Teil eines marginalisierten, weiblichen Kulturschaffens wurden ihre Filme als Verhandlungen eines anderen Deutschlands verstanden.4 Doch in Deutschland blieb ihr filmisches Werk eher randständig, obwohl ihr Wirken über ihre Arbeit als Regisseurin hinausging: Sie vermittelte Film in unterschiedlichen Institutionen wie Volkshochschulen und Goethe-Instituten und lehrte ab 1990 als Professorin für Dokumentar- und Spielfilmregie an der neugegründeten Kunsthochschule für Medien in Köln, wo sie angehende Filmschaffende prägte. Von 2015 bis 2024 stand sie als Präsidentin der Akademie der Künste vor, nachdem sie zuvor bereits stellvertretende Direktorin der Sektion Film und Medienkunst war. In der Position der Präsidentin der AdK war sie die erste Frau und die erste Jüdin seit Max Liebermann, der bis 1933 als Präsident (und dann Ehrenpräsident) der Preußischen Akademie der Künste amtiert hatte. Doch beides sind Zuschreibungen, gegen die sie sich immer wieder gewehrt hat: Weder wollte sie »Frauenfilme« machen oder als Frau zur AdK-Präsidentin gewählt werden, noch wollte sie sich als jüdische Filmemacherin identifizieren (lassen). Es kann also nicht darum gehen, Meerapfels Filmschaffen auf die Adjektive weiblich, jüdisch, migrantisch festzuschreiben und damit den Blick auf sie zu verengen oder ihm einen Wert vorrangig wegen dieser marginalisierten Perspektiven zuzusprechen. Sie stellen vielmehr Zugänge zu ihren Filmen neben anderen dar, Möglichkeiten, ihr Werk zu deuten und vielleicht auch dessen mitunter divergierende Rezeption nachzuvollziehen.
Als Meerapfels Film DIE VERLIEBTEN 1987 auf der Berlinale Premiere feierte, wurde er von einem vernehmbaren Teil des Publikums feindselig aufgenommen und die Uraufführung durch laute Buhrufe gesprengt. Liv Ullmann hingegen, die den Film während der Berlinale in einer Einzelvorführung sah, weil sie für Meerapfels nächstes Projekt LA AMIGA (1988) gewonnen werden sollte, war zu Tränen gerührt.5 Der Film, der eine tragisch endende Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit sowie der gegenwärtigen Migrationsgeschichte der sogenannten Gastarbeiter:innen in Westdeutschland erzählt,, war gründlich miss- oder doch zumindest sehr unterschiedlich verstanden worden. Vielleicht verzieh man der Regisseurin auch die Form des Melodrams nicht – ein Frauenfilm im Frauengenre. Regisseurinnen war der rote Teppich in den 1980er Jahren in Deutschland nicht ausgerollt worden, und die Berlinale war für solche »Schlachtfeste« berüchtigt, die auch andere Filmemacherinnen erleben mussten.6
Dabei steht DIE VERLIEBTEN wie auch die anderen Filme Jeanine Meerapfels für ein grenzüberschreitendes Kino: Es ist transnational und mehrsprachig, erzählt von Exil, Flucht und Migration, den (Un)Zugehörigkeiten und dem Dazwischen, das diese Erfahrungen auch generationenübergreifend erzeugen. Ob jüdische Erfahrung im postnationalsozialistischen Deutschland mit der der sogenannten Gastarbeiter:innen in Beziehung gesetzt wird oder die Spannung zwischen den Kindern von jüdischen Opfern und von Nazitätern, die Tür an Tür leben, auf das schwierige Zusammenleben von Opfern und Tätern der ehemaligen Militärdiktatur in der argentinischen Gesellschaft verweist, stets werden in diesen Bezügen Ähnlichkeiten und Unterschiede untersucht. Vergangenheit und Erinnerungen sind präsent in der Gegenwart und ihre Einschreibungen in Landschaften und Gefühlslandschaften werden sichtbar gemacht. Dabei ist Erinnerung ebenso multiperspektivisch wie omnipräsent und vermag Menschen sowohl zu trennen als auch zu verbinden. Der Versuch, trotz unterschiedlicher (Familien-)Geschichten, Erinnerungen und geografischer Bezüge in Beziehung zu treten und daran auch zu scheitern, ist ein wiederkehrendes Thema. LA AMIGA stellt die Freundschaft von zwei Frauen ins Zentrum, AMIGOMÍO (1995) die Beziehung zwischen einem Vater und seinem kleinen Sohn auf der Flucht. Daneben sind es aber immer wieder romantische Liebesbeziehungen, die aus weiblicher Perspektive ausgelotet werden. Meerapfel nimmt ihre weiblichen Hauptfiguren nicht jenseits, sondern in ihren komplizierten Liebesbeziehungen zu Männern ernst und zeichnet ihre Suche nach Eigenständigkeit und Liebe oder Eigenständigkeit in der Liebe nach. Dass diese Sehnsucht nach Unabhängigkeit und romantischer Liebe vielfach auch Scheitern muss, verweist darauf, dass es eben auch ein politisches Kino ist – ein politisches Kino der Erinnerung und der Liebe. Hier zeigt sich die künstlerische Herkunft von Meerapfel als Autorenfilmerin: Ihre Filme sind von ihren Anfängen im Journalismus geprägt, aber auch von den Jahren, in denen sie Film an der Hochschule für Gestaltung in Ulm studierte, von der Nähe zum Neuen Deutschen Film, mit dem sie nicht zuletzt dadurch immer wieder assoziiert wird. Die Haltung der Aufklärerin scheint immer wieder durch, aber Meerapfel scheut vor Gefühlen und Nähe nicht zurück – eine Kombination, die ihrem Werk unverkennbare Züge verleiht.
Jeanine Meerapfel hatte oft das Gefühl, ihre Filme würden in ihrem Geburtsland Argentinien und in ihrer Muttersprache besser verstanden und warmherziger vom Publikum aufgenommen. Und tatsächlich ist die kritische Reibung an Deutschland ein zentrales Moment ihrer Filme, ohne dass sie dabei in Eindeutigkeit verfallen würde. Ihre Protagonist:innen, die häufig als Angehörige einer zweiten Generation gezeigt werden, als Kinder von sogenannten Gastarbeiter:innen, exilierten jüdischen Flüchtlingen oder von in den Nationalsozialismus verstrickten deutschen Vätern, können in ihren Auseinandersetzungen mit Geschichte in Deutschland weder auf Antworten noch auf ein Zuhause hoffen. Deutschland ist vielfach ein kalter Ort – zumindest auf den ersten Blick. Die Wärme und Herzlichkeit sehen wir in ihren Filmen anderswo, in Griechenland, Montenegro, Argentinien, aber eine Idealisierung erlauben die dortigen politischen wie sozioökonomischen Verhältnisse dann doch nicht. Und es gibt ja auch noch das andere Deutschland, das kritisch mit sich ringt, das Berlin der Wahlverwandtschaften, der Künstler:innen und Intellektuellen und vor allem der Migrant:innen, die kommen und gehen und mit ihnen ihre Geschichten und Perspektiven.
Die vorliegende erste Publikation zu Jeanine Meerapfels Werk versammelt Beiträge, die sehr unterschiedliche Perspektiven auf ihre Filme eröffnen: Johannes Praetorius-Rhein untersucht Nähe- und Distanz-Verhältnisse in den dokumentarischen Arbeiten IM LAND MEINER ELTERN (1981) und DIE KÜMMELTÜRKIN GEHT (1985). Claudia Sandberg stellt den Spielfilm DER DEUTSCHE FREUND ins Zentrum ihrer Betrachtungen, untersucht die Verschränkungen deutscher und argentinischer Geschichte darin und bringt eine Perspektive auf die argentinische Rezeption ein, während Bettina Henzler Strategien der Vermittlung in Meerapfels Filmschaffen anhand der Filme DESEMBARCOS (1989) und MOSCONI – ODER WEM GEHÖRT DIE WELT (2008) analysiert. Der letzte Beitrag der Herausgeberin Lea Wohl von Haselberg versteht Meerapfels Werk als filmische Erinnerungsarbeit...