E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Brinx/Kömmerling / Brinx / Kömmerling Neumond
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-522-62044-4
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-522-62044-4
Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anja Kömmerling und Thomas Brinx erzählen Geschichten wie das Leben - mit Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen, gerne über Menschen, die anders sind und nicht ganz ins System passen. Bis heute in über 40 Büchern, Märchenfilmen, Krimis und Komödien für Kino und Fernsehen. Ihr Thienemann-Jugendbuch »Neumond« wurde mit der Segeberger Feder ausgezeichnet.
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1
Jonas band sich die Küchenschürze um und klopfte auf die zwanzig Chicken Wings, die ordentlich nebeneinander eingeschweißt in einer Schachtel lagen. Natürlich hatte er sich geärgert. Zwanzig, das ging nicht auf. Sie waren drei, also gab es einen zu wenig. Oder zwei zu viel. Jonas hatte alle Schachteln aus dem Kühlregal genommen und die Wings durchgezählt. Möglich doch, dass sich der Verpacker verzählt hatte. Tatsächlich fand er eine mit neunzehn und gab sie artig an der Kasse ab. »Entschuldigung, da sind nur neunzehn drin. Steht aber zwanzig drauf.«
Die Kassiererin starrte ihn ungläubig an. »Gut, gut, du kriegst die billiger.«
»Nein, ich will die nicht. Ich brauche einundzwanzig, weil man das durch drei teilen kann!«
Die Kassiererin grinste ihn an. »Tut mir leid, ein Hühnerflügelchen hab ich nicht zu bieten!«
Also zwanzig.
Jonas goss Öl in die Pfanne und schaltete die Platte ein. BimBim saß zu seinen Füßen. Sie hatte ihre Pfoten ganz eng an den strubbeligen Körper gestellt, den Unterbiss nach vorne geschoben, wedelte leicht mit dem Schwanz und starrte ihn aus ihren Glupschaugen an.
»Die sind nicht für dich. Ausnahmsweise ist mal was nicht für dich. Okay?«
Es klingelte. Jonas strich BimBim, die sofort aufgehört hatte zu wedeln, über den Kopf und ging Richtung Tür. Sein Vater kam aus dem Studierzimmer und ihm zuvor. Er trug seine Jeans, die Jeans, die er immer trug, wenn neue, junge Schauspielschülerinnen zu Besuch kamen, um etwas von ihm zu lernen. Deutliche Aussprache, Stimme aus dem Bauch holen, Atemtechniken. »Schon gut, Jonas, ist für mich.«
Jonas verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn an.
Sein Vater war Professor an der Schauspielschule. Er sah gut aus für sein Alter, er war beliebt, vor allem bei den Schülerinnen. Bei den jungen Schülerinnen, die er bereitwillig nach Hause einlud, um sie voranzubringen. Alles natürlich im Dienste des verehrten Berufes.
Er öffnete die schwere Wohnungstür, zupfte sich das Halstuch zurecht, empfing die blonde, eingeschüchterte Schülerin mit einem kräftigen Handschlag und führte sie in sein Studierzimmer, indem er ihr sanft die Hand auf den Rücken legte. Ein Hauch von einer Berührung, einstudiert, dominant. »Kommen Sie, Martha, wir sollten keine Zeit verlieren.«
Bevor er die Tür schloss, zwinkerte er Jonas noch einmal zu.
»Hätte ich gar nicht gedacht, dass Sie schon einen so alten Sohn haben«, fiepste Martha aus dem Zimmer, weil sie auch mal was sagen wollte.
»Sechzehn, ja, das geht schnell!«, antwortete der Vater mit seinem tiefen Bass. Dann war die Tür zu und Jonas roch das heiße Öl.
»Mist!«
Er rannte in die Küche und riss die Pfanne von der Platte. Noch mal von vorne. Es durfte nicht zu heiß sein, sonst klebte die Hühnerhaut direkt an der Pfanne fest.
»Mmmmmh, mmmmh!«, brummte sein Vater tief aus dem Bauch.
»Mmmmmh, mmmmh!«, zirpte Martha.
BimBim hatte sich nicht von der Stelle bewegt und ließ ihren unendlich traurigen Blick auf Jonas ruhen. Sie war eisern. Hartnäckig. Nicht einen Zentimeter von dem abzubringen, was sie wollte. Jonas wedelte mit der Ölflasche in ihre Richtung. »Da kannst du noch so gucken. Heute bleibe ich hart.«
»Ffffft, ffffft!«, ließ sein Vater die Luft raus.
»Hihihi!«, kicherte Martha.
Wie oft schon hatte Jonas diese Wohnung verdammt. Ein Altbau, hohe Decken und vier riesige Zimmer, alle mit schweren alten Türen. Trotzdem hörte man alles. Als wären die Wände aus Papier, das den Ton wie eine Membran noch verstärkte und dahin weiterleitete, wo er nicht hingehörte.
BimBim jaulte kurz, sprang mit einem Satz auf die Küchenplatte, schnappte sich die Schachtel mit den zwanzig Wings, sprang wieder runter und sauste aus der Küche.
»Hey, bist du verrückt geworden, bleib stehen, komm sofort her!«
Natürlich wusste Jonas, dass BimBim auf diese Kommandos nicht hören würde. Sie konnte gar nicht hören, wenn sie eine derartig fette Beute zwischen den Kiefern trug. Diese kleine, verfilzte Promenadenmischung mit dem Unterbiss würde den Teufel tun und jetzt stehen bleiben. Sie raste im Zickzack durch die Wohnung und suchte dringend einen Unterschlupf, irgendeinen Ort, an dem Jonas nicht an sie herankam und sie in aller Ruhe die Verpackung von den Wings reißen konnte. Jonas rannte hinterher.
»Wenn ich dich erwische, weißt du was, dann ... dann ...!«
BimBim sprang an der Tür zum Studierzimmer hoch auf die Klinke. Sie hatte genau den richtigen Ort gefunden. Hier wollte Jonas nun wirklich nicht stören. Er blieb stehen.
»Huch!«, sagte Martha, als BimBim hereinstürmte. Sie hatte ihr Kleid ausgezogen und Jonas’ Vater war im Begriff ihre Stimme durch Erotik aus dem Bauch nach oben zu holen.
»Ich brauche die Wings!«, presste Jonas hervor, der nicht anders konnte, als das zu sehen.
Seufzend zog sein Vater BimBim unter dem alten Ledersessel vor, in dem er thronte, wenn seine Schülerinnen ihm eine Szene vorspielten, hob sie samt Wings am Kragen hoch und reichte sie Jonas raus. Dann schloss er die Tür und drehte den Schlüssel um.
BimBim rührte sich nicht in Jonas’ Arm und hielt verbissen an den Wings fest. Jonas starrte die Tür an. Es war verboten, was sein Vater da tat. Seit ungefähr einem Jahr tat. Seit die Mutter, Schauspielerin mit Leib und Seele, eine Rolle in einer Daily Soap bekommen hatte und Tag für Tag in Berlin drehte. Es gab ein paar Wochenenden, da tauchte sie auf. Brachte Geschenke mit und wurde von ihrem Mann liebevoll in Empfang genommen. »Endlich, da kommt die Gemahlin. Meine Güte, wie lange soll das noch gehen?«
Sie küssten sich innig, die Mutter fuhr sich durch die langen, dicken Haare und ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen. »Bis zum bitteren Ende!«, seufzte sie und streckte die Hand nach Jonas aus. »Wo ist mein wohlerzogener Liebling?«
»Oh ja, oh ja!«, stöhnte Martha hinter der Tür und ihre Stimme kam tief aus dem Bauch heraus.
Jonas drehte sich um, ging in die Küche, knallte die Tür zu und riss BimBim wütend die Wings aus dem Maul. Er legte einen nach dem anderen in die Pfanne und BimBim pinkelte unter den Tisch.
Jonas seufzte, zählte bis achtzehn und warf BimBim die restlichen zwei Wings vor die Pfoten. War eh die falsche Zahl gewesen!
»Es ist verboten!«, hatte Jonas einmal zu seinem Vater gesagt, nachdem eine Schülerin gegangen war.
Der hatte ihm die Hand wie einen Hauch auf den Rücken gelegt und ihn ins Studierzimmer geführt. »Nichts ist verboten, mein Junge.«
»Mama würde es verboten finden!«, hatte Jonas erwidert und sich nicht in den Ledersessel gesetzt, den sein Vater ihm anbot.
»Ich liebe deine Mutter, das weißt du. Das hier hat nichts mit ihr zu tun. Es steht für sich und muss dich in keiner Weise beunruhigen.«
Aber es beunruhigte ihn. Er wollte nicht, dass seine Eltern sich verloren. Von Anfang an war er in diesem unendlichen Chaos aufgewachsen. Weder sein Vater noch seine Mutter hatten irgendeinen Sinn für Ordnung oder Regeln. Das Haus war immer voller Leute. Laute Leute. Leute, die sich gerne selber reden hörten. Schöne Leute, verrückte Leute, ohne Sinn und Verstand, die sich mit Jonas’ schillernden Eltern die Nächte um die Ohren schlugen.
Jonas war trotzdem um acht ins Bett gegangen. Nachdem er die Küche aufgeräumt hatte. Er musste doch in die Schule. Jonas hatte gelüftet. Er hatte seine Hefte in Klarsichtfolie eingebunden und seine Stifte gespitzt und nach Farben sortiert. Dabei hatte er die Leute durch die Papierwände laut lachen hören, wenn die Korken bis an die Decke knallten. Er hatte im Bett gelegen und sich Wattebäusche in die Ohren gesteckt. Er hatte geübt. Geübt mit seinem sechsten Zeh zu wackeln, und nur mit dem. Monatelang, bis es klappte. Und er war immer pünktlich in die Schule gekommen, hatte sich die Zähne geputzt und die Hände gewaschen, sich den letzten Joghurt aus dem Kühlschrank geholt und beim Frühstück eine Einkaufsliste gemacht. Seine Eltern waren gerade erst ins Bett gegangen. Auf der Couch im Wohnzimmer schliefen zwei Männer Arm in Arm. Überall lagen Flaschen, umgekippte Gläser, Kleidungsstücke.
»Habe zehn Euro mitgenommen zum Einkaufen«, hatte er in seiner geraden, gestochenen Schrift auf einen Zettel geschrieben, die Kaffeemaschine so vorbereitet, dass seine Mutter nur noch auf den Knopf zu drücken brauchte, und die Wohnungstür abgeschlossen.
Das Einzige, was immer gleich war und auf das Jonas sich unbedingt verlassen konnte, war die Liebe seiner Eltern zueinander. Es beunruhigte ihn, dass sein Vater das aufs Spiel setzte.
Jonas drehte die Chicken Wings um. Achtzehn. Sechs für Yannik, sechs für Chang und sechs für ihn selbst. Er rührte die Sauce an, möglichst scharf, so wie sie es alle drei gerne mochten, und füllte sie in eine Tupperdose, von denen er fünf im Sonderangebot erstanden hatte. Die fertigen Wings kamen in die größte. Ordentlich gestapelt, wie sie es gewohnt waren.
Er zog die Schürze aus, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie in ihre Schublade. Dann öffnete er das Fenster, um den Bratgeruch rauszulassen, wischte BimBims Pipi unterm Tisch weg, sammelte die zwei mickrigen Knochen auf, die sie übrig gelassen hatte und wusch sich die Hände. Er schnitt ein Baguette in Scheiben und legte alles in einen Korb, den er mit einem Küchenhandtuch zudeckte.
Dann schaute er sich um. Nur nichts vergessen. »Wir können los, BimBim!«
Die Hündin wedelte mit dem Schwanz und folgte dem Korb in Jonas’ Hand zur Tür.
»Mmmmmh, mmmmh!«, brummte sein Vater tief aus dem Bauch.
»Mmmmmh, mmmmh!«, konterte Martha ebenso. Alles im Dienst der...