E-Book, Deutsch, Band 1, 605 Seiten
Reihe: Rain & Lark
E-Book, Deutsch, Band 1, 605 Seiten
Reihe: Rain & Lark
ISBN: 978-3-7325-4831-6
Verlag: ONE
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Rain ist ein Ghost. Sie lebt außerhalb des Systems. Seit ihrer Geburt ist sie auf der Flucht vor den Gesegneten, einer perfekten Weiterentwicklung der Menschen, die mit eiserner Hand regieren und das Volk unterdrücken. Rain weigert sich jedoch, sich ein Leben lang zu verstecken, und begeht einen fatalen Fehler. Sie bricht die wichtigste Regel der Ghosts: Vertraue niemandem!
Autoren/Hrsg.
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1.
DAS LÄUTEN DER SCHULGLOCKE schallte über den Hof und riss Rain aus ihren Gedanken. Es war so weit. Sie reckte ihren Kopf, um besser sehen zu können, und sie ließen nicht lange auf sich warten. Schon nach wenigen Minuten strömten Schüler in der Mitte des asphaltgrauen Schulhofs zusammen und erfüllten den tristen Platz mit Leben. Rains Herzschlag beschleunigte sich, während ihre Augen jeder Bewegung folgten. Auf den ersten Blick sahen alle gleich aus. Wie graue, ineinanderfließende Puzzleteile, die sich in Grüppchen zusammenfanden. Wie Rain sie beneidete. Um ihr normales geregeltes Leben, um ihre grauen groben Schuluniformen. Die Art, wie sie lachen konnten und sich über Lehrer aufregten. Sie wirkten so ausgelassen. Im Gegensatz zu ihnen fühlte sich Rain wie ein Hase auf einem weiten Feld, ständig in der Angst, dass ein Falke auf ihn aufmerksam werden würde. Ihr Blick huschte in Alarmbereitschaft zum Himmel empor, zuckte die Hauswände entlang. Nur war der Falke, den sie fürchtete, aus Metall und in der Regel gut bewaffnet. Die Kinder auf dem Schulhof mussten nicht weglaufen und lebten nicht in der ständigen Angst, von den Sentinal entdeckt zu werden. Die Sentinal, sie waren die ausführende Hand der Gesegneten, eine Polizeiarmee, die im ganzen Land mit brutaler Kompromisslosigkeit für Ordnung sorgte. Sie hatten ein Leben – ein einfaches, aber sicheres Leben hier im Industriezirkel des Landes Hope. Rain zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und wagte sich ein paar Schritte näher an den Hof heran. Der Maschendrahtzaun, der sie von den anderen trennte, war nur noch wenige Zentimeter entfernt. Ein Surren ging von dem dünnen Metall aus und brachte die Luft zum Vibrieren. Rain passte auf, ihn nicht zu berühren, wohl wissend, dass das einen Alarm auslösen würde. Innerhalb weniger Minuten würde es hier von Drohnen nur so wimmeln. Also sah sie den Schülern einfach zu. »Hey, Lark. Kommst du nachher vorbei?«, fragte ein aschblondes Mädchen. Keines der Mädchen trug das Haar länger als schulterlang, und wie es sich in der Schule gehörte, war es auch bei diesem Mädchen zu einem strengen Zopf zurückgebunden. »Nuts hat die alte Spielekonsole repariert.« »Tut mir leid, Hail. Ich schaffe es nicht. Meine Eltern machen heute eine Doppelschicht, und ich muss auf meine Schwester aufpassen.« Die meisten Jungen trugen die Haare kurz rasiert, ebenso Lark, wenngleich seine etwas länger waren als üblich. Keine Absicht, vermutete Rain, denn sonst gab es keine Hinweise, die auf ein rebellisches Wesen hindeuteten. »Oh, schon wieder eine Doppelschicht?« Hails Augen weiteten sich, bevor sich der Ausdruck von Mitleid in ihr Gesicht schlich. »Sie kürzen Stellen, und meine Eltern fürchten, dass die Zweien zuerst fliegen«, erklärte Lark. Er zuckte die Schultern, vermutlich, um sich lässig zu geben, aber er sah angespannt aus. Auf seiner Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet, die durch schwarze Smogspuren noch betont wurden. »Das habe ich auch schon gehört. Oh Lark! Es tut mir so leid, dass dein Vater keine Eins ist. Wenn wir irgendetwas tun können …« Sie begleitete den Jungen bis zum Tor, das den einzigen Zugang zum Schulgelände darstellte. Eine unsichtbare Schranke scannte die Passierenden und überprüfte ihre Identität. Drohnen waren nicht zu sehen, doch Rain war sich sicher, dass sie nicht weit entfernt sein konnten. Wächterdrohnen. Sogenannte WatchBots. Die Falken von Hope. Den Schülern zuzusehen, erfüllte Rain immer wieder mit einer tiefen Sehnsucht. Seit sie den Wald hinter sich gelassen hatten, beschäftigte sie dieser Wunsch. Der Wunsch nach dem, was für sie unerreichbar war, hinterließ Spuren in ihrem Herzen. Jeder Schlag begann zu schmerzen, als sie sich einmal mehr ins Bewusstsein rief, dass sie nie eine Schule besuchen würde. Sie würde nie durch die unsichtbare Schranke treten. Sie würde nie dort stehen mit grauer Schuluniform und strengem Zopf und sich mit den Mitschülern verabreden. Sie war anders. Sie war ein Ghost. Kein wirklicher Geist, sondern jemand, der im System keinen Platz hatte. Sie war nicht registriert, und wer keine Nummer hatte, existierte nicht. Es war verboten, nicht zu existieren. Ein lautes Aufsummen ließ die Schüler innehalten, als sich zwei Projektoren einschalteten. Die Luft über den Maschinen begann zu zittern, und ein bläuliches Bild wurde über die Köpfe der Kinder projiziert. Rain wich instinktiv zurück, als das Hologramm einer Frau erschien. Ihr dichtes, kohleschwarzes Haar fiel in vollendeten Wellen auf ihre Schultern und umspielte ein Gesicht, in dem Zerbrechlichkeit und Stärke perfekt harmonierten. Sie sah unnatürlich schön aus. »Liebe Schüler von Grey«, begann sie und lächelte liebevoll wie eine Mutter auf ihre Kinder hinab. »Ich bin stolz auf das, was ihr heute geleistet habt. Ich bin sicher, ihr seid fleißig und arbeitet hart daran, ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Hope kann sich glücklich schätzen, Bürger wie euch zu haben.« Sie machte eine Pause, um ihre strahlend weißen Zähne zu enthüllen. Rain konnte sich nicht von der Sprecherin abwenden. Wie konnte ein Mensch nur so wunderschön aussehen? Ihre Haut war makellos. Keine Unebenheit, keine Falte war zu erkennen. Ihre erdbraune Farbe ließ die großen himmelblauen Augen nur umso prägnanter hervorstechen. Bei ihrem Anblick schämte Rain sich für ihr unordentliches Haar und die Kruste aus Dreck und Staub auf ihrer Haut. »Die Rote Seuche hat weitere Opfer aus allen zehn Zirkeln von Hope gefordert. Wir, die Gesegneten, tun alles, was in unserer Macht steht, um euch Menschen im Kampf gegen diese grausame Krankheit zu unterstützen. Wir sind voller Hoffnung und Zuversicht, dass unsere Forscher von White Pearl diese Plage in den Griff bekommen werden, wie sie einst den Krebs, die Demenz und andere Schwächen besiegten.« Die Sprecherin war Amygdala, die Gesegnete, die das zweifelhafte Glück hatte, der amtierende Earl von Grey zu sein. Es gab immer einen Gesegneten, der für den Zirkel zuständig war und somit den Titel »Earl« trug. Auch wenn Amygdala bei ihrer Ernennung, wie alle anderen vor ihr, von einer großen Ehre gesprochen hatte, zweifelte Rain an dieser Ehre. Es war schon auffällig, wie oft die Earls von Grey wechselten. Die Gesegnete hielt inne, um den Schülern die Möglichkeit zu geben zu applaudieren. Und sie wurde nicht enttäuscht. In Grey gab es nur vereinzelt Opfer der Roten Seuche, die vor allem in den Grenzgebieten von Hope vorkam. Trotzdem war die Angst vor der Erkrankung allgegenwärtig, denn sie konnte jeden treffen. Zumindest, wenn man ein Mensch war. »Tapfere Wissenschaftler sind aufgebrochen, um Erkrankte in den Epidemie-Gebieten zu untersuchen. Stets in der Hoffnung, den Durchbruch in der Bekämpfung der Roten Seuche zu finden. Es ist wichtig, dass auch ihr euren Teil dazu beitragt.« Nach einer dramatischen Pause fuhr sie fort. »Haltet eure Augen offen und meldet potentielle Ghosts, denn sie verbreiten die Seuche.« Rain erstarrte. Ein saurer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, doch sie schluckte ihn herunter. Da Ghosts nicht an den regelmäßigen medizinischen Kontrollen teilnahmen, wusste sie nicht, ob sie krank war. War sie wirklich eine Gefahr für andere? Oder war das bloß eine Masche, die Angst vor ihresgleichen zu schüren? »Ich bin sicher, ihr werdet Hope nicht enttäuschen. Ich bin sicher, ihr werdet uns stolz machen und eure Aufgabe voller Hingabe erfüllen.« Amygdala sah auf die eifrig klatschenden Schüler hinab, wie ein stolzer Hirte auf seine kostbare Schafherde. »Nun. Gibt es etwas, was ich für euch tun kann?« Die Earls hatten einerseits die Aufgabe, für Ordnung in ihrem Zirkel zu sorgen, andererseits vertraten sie die Interessen ihres Zirkels im Regierungssitz Aventin. Viel holten sie für Grey allerdings nicht raus. Hail, das Mädchen, mit den aschblonden Haaren, warf einen Blick auf ihre Mitschüler und trat vor. Sie streckte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und berührte mit ihnen erst ihr Herz und dann die Stirn, eine sehr höfliche Art der Begrüßung. Für ein einfaches »Hallo« hätte ein Berühren der Stirn gereicht, aber sie wollte der Gesegneten ihre Loyalität unter Beweis stellen. Rain verdrehte die Augen, da sie es für übertrieben hielt. Schleimerin! »Wir sind sehr dankbar für das, was du für uns tust«, stammelte Hail und klammerte sich mit den Händen am Saum ihrer Uniform fest. »Im Moment leiden wieder viele Bewohner in Grey an dem Smog der Fabriken.« Der Smog verseuchte seit einiger Zeit ganze Stadtteile. Die Bewohner brauchten teure Schutzkleidung und Filtermasken, um sich zu schützen. Andernfalls riskierten sie, sich die Schleimhäute zu verätzen. Eine unbedeutende Angelegenheit für die Gesegneten, die alle Hände voll zu tun hatten, die Rote Seuche in den Griff zu bekommen, die Grenzen ihres Landes zu verteidigen und etwas gegen die Rebellen und Ghosts zu unternehmen. »Ich weiß, was ihr erdulden müsst. Ich fühle mit euch und verspreche, dass wir uns auch darum kümmern werden.« Das Hologramm warf dem Mädchen ein aufmunterndes Lächeln zu. »Bist du eine G-Eins?« Hail drückte den Rücken durch und reckte das Kinn. Ihr Gesicht glühte, und sie schien vor Stolz beinahe zu platzen, wodurch sie an einen aufgeplusterten Vogel erinnerte. Rain musterte sie genauer. Um eine Eins zu sein, mussten Intelligenz und körperliche Verfassung überdurchschnittlich hoch sein. Mit den Voraussetzungen würde sie es nicht schwer haben, eine gute Arbeit zu finden. Vielleicht sogar...