Brinkley | Unverschämtes Glück | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten, eBook

Brinkley Unverschämtes Glück


1. Auflage, neue Ausgabe 2019
ISBN: 978-3-0369-9430-7
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 336 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9430-7
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwei Studenten erscheinen auf einer Party, um dort Frauen zu treffen, werden aber mit der unangenehmen Wahrheit ihrer eigentlichen Wünsche konfrontiert. Ein kleiner Junge, dessen Vater vermisst wird, verbringt in rasender Wut über einen schlechten Haarschnitt die Nacht auf den Straßen von Brooklyn. Und bei einer Capoeira-Veranstaltung kämpfen zwei Brüder mit ihrer schmerzhaften Familiengeschichte. Mit scharfem Blick fängt Jamel Brinkley das Innenleben von Menschen ein, die Momente des Glücks und familiäre Geborgenheit suchen und dabei die Wucht des echten Lebens zu spüren bekommen.

Jamel Brinkley ist ein amerikanischer Schriftsteller. Seine Kurzgeschichten erschienen u. a. in , und . Er ist Absolvent des Iowa Writers' Workshop und war Fellow an der Stanford University in Kalifornien. ist sein erstes Buch und wurde vielfach ausgezeichnet.

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Wie prickelnd

Das war damals. Wir standen am Rand der Tanzfläche im Schalldruck der vibrierenden Boxen, Claudius Van Clyde und ich, und wir waren schon bei der dritten Flasche von irgend so einem Wunderbräu. Auf die Musik achteten wir gar nicht. Schon seit wir bei der Party aufgeschlagen waren, lag ich meinem Freund mit tragischem Zeug über meinen Vater in den Ohren. Irgendwann um Mitternacht ließ er das mechanische Nicken und stieß das Kinn Richtung Treppe. »Schau mal die beiden da«, sagte er. Hinter den wogenden Köpfen der Tänzer und Möchtegernverführer sah ich die zwei Mädchen, die er anscheinend meinte. Sie fassten sich gegenseitig abwechselnd an die Taille und rissen die Hände zurück, als hätten sie sich die Finger verbrannt. Nach ein paar kurzen Runden dieses Spiels zogen sie lachend ab. Wir schlängelten uns hinterher, fort vom Set-up des DJs vor den nachtgeschleckten Erkerfenstern rüber in die Küche, wo wir die Lage sondierten. Eine der Frauen war schlaksig und obenrum eher schmal, aber um die Hüften wohlgerundet. Sie trug ein weißes Tanktop, das im gedimmten Licht ihr Gesicht und die lackierten Fingernägel aufleuchten ließ. Um ihren Kopf bauschte sich ein manierlicher Afro, und sie war etwas heller braun als ihre Freundin mit dem Buzzcut, die war der absolute Hammer.

Die Party stieg Ende September 1995 wenige Wochen vor Jom Kippur bei irgendwelchen Harvard-Absolventen. Claudius hatte nachmittags nach dem Footballspiel ein paar Typen davon reden hören, Achtsemester, die oben am blau patinierten Baker-Field-Löwen abhingen und rauchten. Er hatte mich abends aus meiner Wohnheimbude geschleift. Wir schlichen zu den Uni-Toren hinaus und nahmen die U-Bahn nach Brooklyn, entschlossen, die Party zu crashen. Die war erklärtermaßen für Singles, als Erstes mussten alle gleich mal ihren Namen auf einen Sticker schreiben und sich den ankleben. Die lange Frau mit dem Afro, Iris, trug ihren am Oberarm wie einen Dienststreifen. Ihre Freundin hatte ihren ziemlich clever platziert, praktisch und zugleich so, dass er alle Gaffer verhöhnte. »Hallo«, verkündete ihr Arsch, »ich heiße Sybil.«

»Edgy«, sagte Claudius zu mir, und wir grinsten uns blöde vielsagend an. Der wesentliche Unterschied zwischen einer privaten Party in Brooklyn und einer Collegeparty an der Upper West Side war der, dass auf dem Campus alles bloß Trockenübung blieb. Du hattest die Wahl: dilettieren oder ranschmeißen, an der Bar hängen oder blankziehen, aber es stand nie wirklich viel auf dem Spiel, es gab keine verschärften Konsequenzen. Keine Klinge, der du dich entgegenwerfen, keine Klippe, von der du springen, keine Gefahr, der du trotzen musstest. Du konntest gedisst werden, du konntest zum Zug kommen. Du konntest dir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit billig die Kante geben. Aber irgendwann zu später Stunde landetest du doch in deinem schmalen Wohnheimbett, geborgen zwischen Leichtbetonwänden und extralangen, von irgendjemandes Mom besorgten Laken.

Wir pirschten uns an die Girls ran und zeigten, statt zu sprechen, auf unsere Sticker. Die Lange mit dem Afro stellte sich als Iris vor, näselnd und mit nachdrücklich betontem I. Ganz im Sinne dieser Äußerung schien sie von beiden die Intensivere und Irrsinnigere zu sein. Sie knisterte förmlich. Wir fragten die zwei, woher sie stammten. Iris’ Familie kam überwiegend aus Belize. Sybil war Dominikanerin. Claudius und ich legten Wert auf so was.

»Amüsiert ihr euch?«, fragte ich. Iris antwortete nicht. Sie war mit ihrer Aufmerksamkeit überall und nirgends. Das Haus, in dem die Party stattfand, war alt – die Holzdielen gaben nach, ihr Ächzen bloß überlagert von der Musik und den mit den Lachsalven an- und abschwellenden Gesprächen. Erstarb mal der Lärm, hörte man das Holz knarren, dann wieder klirrende Gläser, quietschendes Plastik, ein deutliches Grundbrummen. Iris schien auf all das kalibriert, auf jedes Detail des Hauses und seine diversen heimlichen Sphären. Jetzt starrte sie durch die Glastüren in den Hof, wo brennende Fackeln die Raucher unter ihren Wolken ausleuchteten.

Ich tippte ihr auf die Schulter, und sie drehte sich um.

»Ach, du wieder.« Sie wechselte mit ihrer Freundin einen ratlosen Blick.

»Yep, die sind immer noch da«, sagte Sybil.

»Amüsiert ihr euch?«, fragte ich erneut.

Iris ließ sich Zeit mit der Antwort: »Wir prickeln.« Im Wohnzimmer wechselte der DJ den Track. »Was ist das gleich wieder?«, sagte sie. »Das kenn ich.«

»Echt jetzt?«, meinte ein Typ, der in der Nähe stand. Er hatte spärlichen Bartwuchs und in den Fäusten zwei rote schäumende Bierbecher. Vielleicht war er ein Harvard-Mann. »Keine Ahnung, was? Das ist ›Brooklyn Zoo‹ von Ol’ Dirty Bastard.«

Claudius und die Mädels nickten kennerisch, aber für mich hörte sich das an wie eine Fremdsprache.

»Wieso heißt der so?«, fragte ich.

Der Typ lachte über meine Ignoranz. »Weil«, sagte er, »sein Style keinen Daddy hat.«

Die Mädels wandten sich einander zu und legten eine Art Stampftanz hin. »Verdammt!«, rief Iris. »Der Song prickelt!«

Sie lebten ganz im Wortsinn das volle Programm: schillernd und vielversprechend überschäumend. Ihre Gesichter wurden zu Fratzen, Nasenflügel und Münder geweitet im Tanz. Iris hielt die Arme eng am Körper, Sybil pumpte mit den Ellbogen. Claudius deutete mit einem Kopfnicken auf Sybil und raunte: »Die nehm ich.«

»Moment mal.«

»Schon vergeben«, sagte er.

Wir zogen beide eher üppige, kurvige Frauen vor – teils, vermute ich, weil schwarze Typen das angeblich tun. Die Vorliebe ist gleichsam Bestätigung einer schwarzen Herkunft, unsere Art, uns Authentizität zu bescheinigen. Nun würde mir Iris zufallen, Prophetin des Prickelns. Na gut, halb so wild. Sollte er doch. Das Ganze war sowieso seine Idee. Ohne ihn wären wir gar nicht da. Er wusste, dass ich dringend Ablenkung brauchte.

Ein paar Wochen zuvor hatte ich vor Beginn meines zweiten Studienjahrs an einem Augustvormittag in Philadelphia mit meinem Vater Leo am Küchentisch gesessen und mich zum ersten Mal überhaupt mit ihm betrunken. Er hatte mich vor wilden Frauen gewarnt, zornigen, leidenschaftlichen Frauen. Er sagte, die würden mich fertigmachen. »Aber es sind andererseits die besten Frauen«, sagte er, »die besten im Bett, zwischen den Schenkeln ein Dschungel und wild, das muss man ein Mal erlebt haben.«

Ich glaubte zu wissen, was für Frauen er meinte, ich wusste jedenfalls mit Sicherheit, dass er von meiner Mutter Doreen sprach, aber scheiß drauf. Sie hatte uns verlassen, ihn verlassen, schon vor ein paar Jahren, und neulich hatte sie verkündet, sie werde wieder heiraten. Ich sah tagtäglich, wie das meinen Vater mitnahm. Er war den ganzen Sommer durchs Haus getigert und von Woche zu Woche kleiner und verzweifelter geworden. Er suchte, als verberge sich die Antwort auf die Frage, wie sein Leben nur hatte so schiefgehen können, in einem der Zimmer. Völlig fertig musterte mich mein Vater an jenem Vormittag unter schweren Lidern und langen mediterranen Wimpern. Von seinem eigenen Vater hatte er die schlechten Zähne geerbt, und schon vor seinem sechzigsten Geburtstag hatte er sich etliche rausreißen lassen. Er hatte eine Teilprothese, die er aber jetzt bei unserem Gelage nicht trug. Seine untere Gesichtspartie war eingedellt wie Fallobst.

»Die besten«, wiederholte er. »Und deshalb …« Sein italienischer Akzent schlug umso stärker durch, je mehr er trank. Aus dem Zahnlückengrinsen guckte die Zunge vor. »Und deshalb muss ein Mann das wenigstens ein Mal erleben, Ben«, sagte er. »Ein Mal.« Er hielt einen abgekauten Fingernagel vor seine hohe Nasenwurzel und kramte etwas aus seiner Hosentasche hervor. Ein Kondom in Silberfolie. »Hebs auf für ein Teufelsweib, una pazza. Lass dich ficken, dass dir Hören und Sehen vergeht, ein Mal und nie wieder. Und dann heirate ein nettes, langweiliges, fettes Mädchen mit Händen und Schenkeln wie saure Milch. Mach dir ein langweiliges Leben. Nur so wirst du glücklich.« Er überreichte mir das Kondom.

Der Ritus kam zur falschen Zeit – ich war ja schon hinausgezogen in die Welt. Aber er glaubte dran, so wie er glaubte, es gebe eine unfehlbare Methode, glücklich zu werden. Und da ich sein Jünger war und an diesem Vormittag selbst ziemlich betrunken, glaubte ich es auch.

Claudius und ich schoben uns hinter die Chicks und tanzten gleich dort in der Küche mit ihnen. Iris bewegte sich gut, aber aggressiv. Sie fuhr herum, hakte ihre Finger in meine Gürtelschlaufen und rammte ihr Becken an meins. Sie rieb und wand sich eine Weile, zog sich dann wieder zurück, bleckte die perfekten Zähne und zeigte mir die Krallen. Sie war ein Wildkätzchen, das nach einem Ball sprang.

Ich beugte mich vor und fragte, ob sie auch in Harvard gewesen sei. Ich gab mir Mühe, älter zu klingen, als wäre ich mit dem Studium schon fertig und ein ganzer Mann.

»Wir sind Hawks«, näselte Iris. Sie breitete die Arme aus und deutete Flügelschläge an. Claudius hatte eine Theorie über näselnde Frauen, die mir gefiel. Ihm zufolge schoben Frauen, die so sprachen, die ihre Stimme von Lunge und Bauch abschnitten, eine Penetranz vor, die Männer vom Fleischlichen ablenken sollte.

»Hawks?«, wiederholte ich.

»Hunter College, ’94. Hey, warum besorgst du mir und meinem Girl nicht mal einen prickelnden Whiskey?«

»Und damit meinst du Whiskey mit …?

»Magie.«

»Wo kriegt man so was?«

Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Mann«, greinte sie, »Whiskey eben. Los jetzt,...


Strätling, Uda
Uda Strätling, Übersetzerin von AutorInnen wie Aldous Huxley, Teju Cole und Marilynne Robinson, hat für Kein & Aber gemeinsam mit Matthias Göritz die Romane von Max Porter übersetzt.

Brinkley, Jamel
Jamel Brinkley ist ein amerikanischer Schriftsteller. Seine Kurzgeschichten erschienen u. a. in The Best American Short Stories 2018, A Public Space und Tin House. Er ist Absolvent des Iowa Writers’ Workshop und war Fellow an der Stanford University in Kalifornien. Unverschämtes Glück ist sein erstes Buch und wurde vielfach ausgezeichnet.

Jamel Brinkley ist ein amerikanischer Schriftsteller. Seine Kurzgeschichten erschienen u. a. in , und . Er ist Absolvent des Iowa Writers’ Workshop und war Fellow an der Stanford University in Kalifornien. ist sein erstes Buch und wurde vielfach ausgezeichnet.

Uda Strätling, Übersetzerin von AutorInnen wie Aldous Huxley, Teju Cole und Marilynne Robinson, hat für Kein & Aber gemeinsam mit Matthias Göritz die Romane von Max Porter übersetzt.



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