Briggs Siegel der Nacht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-10462-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mercy Thompson 6 - Roman
E-Book, Deutsch, Band 6, 400 Seiten
Reihe: Mercy-Thompson-Reihe
ISBN: 978-3-641-10462-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mercy Thompson ist stolze Besitzerin einer Autowerkstatt. Und sie hat das außergewöhnliche Talent, sich in einen Kojoten zu verwandeln - eine Gabe, die sie von ihrem verstorbenen Vater geerbt hat, zu dem sie niemals Kontakt hatte. Doch als sich in den Tiefen des Columbia River das Böse regt, bleibt Mercy nur eine Möglichkeit, um ihr Leben zu retten: Sie muss die Familie ihres Vaters finden ...
Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Fantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Mit ihrer Mystery-Saga um die Gestaltwandlerin Mercy Thompson stürmt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Nach mehreren Umzügen lebt die Autorin heute in Washington State.
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Im Licht der Straßenlampen konnte ich erkennen, dass das Gras in Stefans Vorgarten von der Sommerhitze zu einem hellen Gelb getrocknet worden war. Der Rasen war gemäht worden, aber nur mit Blick auf die Länge, nicht auf die Ästhetik. Nach der Länge der gemähten Reste zu schließen, hatte der Rasen so lange frei wachsen dürfen, bis die Stadt verlangt hatte, ihn endlich zu mähen. Das restliche Gras war inzwischen so trocken, dass es wahrscheinlich nie wieder gemäht werden musste, wenn nicht bald jemand anfing zu gießen.
Ich fuhr mit dem Golf vors Haus und parkte. Als ich Stefans Haus das letzte Mal gesehen hatte, hatte es sich perfekt in die schicke Nachbarschaft eingefügt. Die Verwahrlosung des Vorgartens hatte noch nicht auf das Haus übergegriffen, aber ich machte mir Sorgen um seine Bewohner.
Stefan war belastbar, klug, und … einfach Stefan – dazu in der Lage, mit einem tauben Jungen in Zeichensprache über Pokemon zu sprechen und scheußliche Bösewichte zu besiegen, während er in einem Käfig gefangen saß, um dann in seinem VW-Bus davonzufahren, um auch am nächsten Tag wieder gegen das Böse anzutreten. Er war wie Supermann, aber mit Reißzähnen und etwas eigenwilligen Moralvorstellungen.
Ich stieg aus und ging auf die vordere Veranda zu. In der Einfahrt sah Scooby-Doo mich durch eine Staubschicht auf Stefans sonst so sorgfältig gepflegtem Bus erwartungsvoll an. Ich hatte Stefan das riesige Stofftier geschenkt, weil es so gut zur Mystery-Machine-Lackierung passte.
Ich hatte seit Monaten nichts mehr von Stefan gehört, um genau zu sein seit Weihnachten. Ich war ziemlich beschäftigt gewesen und für einen Tag entführt zu werden (was sich für alle anderen als ein Monat herausstellte, weil Feenköniginnen so etwas anscheinend können), war nur ein Teil des Ganzen. Aber im letzten Monat hatte ich ihn einmal pro Woche angerufen und jedes Mal war nur sein Anrufbeantworter angesprungen. Letzte Nacht hatte ich ihn vier Mal angerufen, um ihn zu einem Schundfilm-Abend einzuladen. Uns fehlte noch jemand, nachdem Adam – mein Gefährte, Verlobter und Alpha des Columbia Basin Rudels – geschäftlich unterwegs war.
Adam besaß eine Securityfirma, die bis vor kurzem hauptsächlich für die Regierung gearbeitet hatte. Seitdem die Werwölfe – und Adam – in die Öffentlichkeit getreten waren, erlebte sein Geschäft auch in anderen Bereichen einen Boom. Anscheinend hielt die Welt Werwölfe für herausragende Securityleute. Er suchte bereits nach jemandem, der die ganzen Reisen übernehmen konnte, aber bis jetzt hatte er den Richtigen dafür noch nicht gefunden.
Nachdem Adam nicht da war, konnte ich den anderen Leuten in meinem Leben mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich hatte entschieden, dass Stefan genug Zeit gehabt hatte, sich die Wunden zu lecken, aber so wie es aussah, kam ich ein paar Monate zu spät.
Ich klopfte an die Tür. Als das keinerlei Reaktion auslöste, klopfte ich nochmal den universellen Geheimcode Ta-tatatamtam-tamtam. Ich war bereits zu wildem Hämmern übergegangen, als der Riegel endlich zurückgezogen wurde und die Tür aufschwang.
Ich brauchte eine Weile, bis ich Rachel erkannte. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie ausgesehen wie ein Model, das als desillusioniertes Gothik-Mädchen oder weggelaufener Teenager posierte. Jetzt wirkte sie eher wie eine Cracksüchtige. Sie hatte ungefähr fünfzehn Kilo verloren, die sie nie zu viel gehabt hatte. Ihre Haare hingen in fettigen, ungekämmten Strähnen über ihre Schultern. Verblasste Mascara-Spuren zogen sich über ihre Wangen, so dass sie wunderbar in Die Nacht der lebenden Toten gepasst hätte. Sie hatte Verletzungen am Hals und sie bewegte sich als täte ihr alles weh. Ich versuchte, mir mein Entsetzen darüber nicht anmerken zu lassen, dass ihr die letzten zwei Finger an der rechten Hand fehlten. Die Wunde war verheilt, aber die Narben waren noch rot und auffällig.
Marsilia, die Herrin der Vampire im Tri-Cities-Gebiet, hatte Stefan, ihren treuen Ritter, benutzt, um Verräter zu vertreiben. Ein Teil ihres Planes hatte es erfordert, seine Menagerie zu entführen – die Menschen, die er sich hielt, um sich von ihnen zu nähren – und ihn glauben zu lassen, sie wären tot, indem sie seine Blutsbande zu ihm brach. Sie schien zu denken, dass es auch nötig gewesen war, sie zu foltern, aber ich traute keinem Vampir – außer Stefan – zu, dass er tatsächlich die Wahrheit sagte. Marsilia hatte nicht erwartet, dass Stefan noch Einwände gegen diese Instrumentalisierung von ihm und seiner Menagerie erheben würde, wenn er erfuhr, dass sie es nur getan hatte, um sich selbst zu schützen. Er war schließlich ihr loyaler Krieger. Doch sie hatte offenbar unterschätzt, wie schwer es Stefan fiel, ihren Verrat zu verarbeiten. So wie es aussah, erholte er sich nicht besonders gut davon.
»Du verschwindest besser wieder, Mercy«, erklärte mir Rachel ausdruckslos. »Es ist nicht sicher.«
Ich stemmte eine Hand gegen die Tür, bevor sie sie wieder schließen konnte. »Ist Stefan da?«
Sie keuchte ein wenig. »Er wird nicht helfen. Das tut er nicht.«
Wenigstens klang das nicht so, als wäre Stefan die Gefahr, vor der sie mich gewarnt hatte. Sie hatte den Kopf gedreht, als ich die Tür gestoppt hatte, und ich sah, dass jemand an ihrem Hals gekaut hatte. Menschliche Zähne, so wie es aussah, keine Reißzähne, aber die Krusten verliefen an den Sehnen zwischen ihrem Schlüsselbein und ihrem Kinn entlang und sahen furchtbar aus.
Ich rammte die Tür auf und trat weit genug vor, um den Schorf zu berühren. Rachel wich zurück, sowohl vor der Tür als auch vor mir.
»Wer hat das getan?«, fragte ich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Stefan zuließ, dass sie wieder jemand verletzte. »Einer von Marsilias Vampiren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ford.«
Für einen Moment hatte ich keine Ahnung, von wem sie sprach. Dann erinnerte ich mich an den großen Mann, der mich das letzte Mal, als ich Stefans Haus betreten hatte, rausgeworfen hatte. Er war halb in einen Vampir verwandelt und überwiegend verrückt – und war schon so gewesen, bevor Marsilia ihn in die Finger bekommen hatte. Ein wirklich scheußlicher, furchterregender Kerl – und ich ging davon aus, dass er schon beängstigend gewesen war, bevor er überhaupt jemals einen Vampir gesehen hatte.
»Wo ist Stefan?«
Ich habe keinen Nerv für Dramen, die damit enden, dass Leute verletzt werden. Es war Stefans Aufgabe, sich um seine Leute zu kümmern, auch wenn die meisten Vampire ihre Menagerie nur als praktischen Snack sahen und viele der Menschen langsam und scheußlich über einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten hinweg starben.
Stefan war anders gewesen. Ich wusste, dass Naomi, die Frau, die ihm den Haushalt führte, seit dreißig Jahren oder mehr bei ihm war. Stefan war vorsichtig. Er hatte versucht zu beweisen, dass Leben möglich war ohne zu töten. So wie Rachel jetzt aussah, bemühte er sich nicht mehr allzu sehr.
»Du kannst nicht reinkommen«, sagte sie. »Du musst gehen. Wir sollen ihn nicht stören, und Ford…«
Der Boden im Flur war dreckig und meine Nase witterte verschwitzte Körper, Schimmel und den sauren Geruch alter Angst. Das gesamte Haus stank für meine empfindliche Kojotennase wie eine Mülldeponie. Für den normalen menschlichen Geruchssinn roch es wahrscheinlich genauso.
»Und wie ich ihn stören werde«, erklärte ich ihr grimmig. Irgendjemand musste es offensichtlich tun. »Wo ist er?«
Als klar wurde, dass sie mir nicht antworten konnte oder wollte, ging ich tiefer ins Haus und schrie seinen Namen, wobei ich den Kopf in den Nacken legte, damit der Schall auch über die Treppe nach oben drang. »Stefan! Schaff deinen Hintern hier runter. Ich habe ein oder zwei Hühnchen mit dir zu rupfen. Stefan! Du hattest jetzt genug Zeit, um dich in Selbstmitleid zu suhlen. Entweder du bringst Marsilia um – und dabei werde ich dir helfen – oder du kommst drüber weg.«
Rachel hatte angefangen, an meiner Kleidung zu zupfen, um mich wieder aus dem Haus zu ziehen. »Er kann nicht nach draußen«, sagte sie drängend. »Stefan zwingt ihn dazu, drinnen zu bleiben. Mercy, du musst wieder rausgehen.«
Ich bin zäh und stark und sie zitterte vor Müdigkeit und, wahrscheinlich, Eisenmangel. Ich hatte keinerlei Problem damit, dort stehen zu bleiben.
»Stefan!«, brüllte ich wieder.
Dann passierten sehr schnell eine Menge Dinge, so dass ich später darüber nachdenken musste, um sie in die richtige Reihenfolge zu bringen.
Rachel sog die Luft ein und erstarrte, während sie plötzlich meinen Arm umklammerte, statt an mir zu ziehen. Aber sie verlor den Halt, als jemand mich von hinten packte und mich auf das Klavier warf, das an einer Wand zwischen Flur und Wohnzimmer stand. Es machte so einen Lärm, dass das Geräusch meines Aufpralls und der Schmerz in meinem Rücken sich zu einer einzigen Empfindung verbanden. Die Übung unzähliger Karatestunden verhinderte, dass ich mich verspannte, und so rollte ich einfach vom Klavier herunter. Nicht witzig. Mein Gesicht knallte auf den Fliesenboden. Dann landete ein schlaffer Haufen neben mir und plötzlich schaute ich Ford ins Gesicht, dem großen, furchterregenden Kerl, der sich unverständlicherweise neben mich geworfen zu haben schien. Aus einem seiner Mundwinkel tropfte Blut.
Er sah anders aus als das letzte Mal, schmaler und dreckiger. Seine Kleidung war mit Schweiß, altem Blut und Sexgerüchen vollgesogen. Aber seine Augen waren weit aufgerissen und überrascht wie die eines Kindes.
Dann blockierten ein verblichenes purpurnes T-Shirt über dreckigen Jeans und lange, verknotete Haare meinen Blick...