Buch, Deutsch, 417 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 517 g
Die Situation irregulärer Migranten in Deutschland und Frankreich
Buch, Deutsch, 417 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 517 g
ISBN: 978-3-593-39497-8
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Soziale Fragen & Probleme
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Migrations- & Minderheitenpolitik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Rechtssoziologie
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtssoziologie, Rechtspsychologie, Rechtslinguistik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziologie von Migranten und Minderheiten
Weitere Infos & Material
Inhalt
Dank 9
Einleitung: "Irregulärer" Aufenthalt, Menschenrechte und Nationalstaat 13
Zwischen Bedrohung und Opfer, Kriminalität und sozialer Bewegung - Forschungsstand 19
Sans-papiers und "Illegale" - Begriffe zwischen Euphemismus und Kriminalisierung 25
Methodische Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung "irregulärer" Migration 26
I Sichtbarkeit und Geschichte 43
Zur geringen Sichtbarkeit "irregulärer" Migrantinnen und Migranten (Deutschland) 44
Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus seit 1973 (Bundesrepublik Deutschland) 64
Öffentlichkeit und Zugang zu Sans-papiers (Frankreich) 79
Sans-papiers seit 1974 (Frankreich) 93
Definition und Sichtbarkeit "irregulärer" Migration 105
II Medizinische Versorgung und Unterkunftsmöglichkeiten für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus 110
Medizinische Versorgung zwischen gesetzlichen Regelungen und Handlungsoptionen (Deutschland) 118
Gesetzliche Regelungen und Handlungsoptionen von Sans-papiers bei Krankheit (Frankreich) 136
Wohnsituation zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräumen (Deutschland) 154
Wohnsituation zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräumen (Frankreich) 167
Ähnlichkeiten und Unterschiede beim Zugang zu sozialen Rechten in Deutschland und Frankreich 180
III Kontakte und Legalisierungsmöglichkeiten 185
Vorsichtige Kontakte mit beratenden Stellen und Behörden (Deutschland) 200
Zentrale Bedeutung der beratenden Stellen und Behörden (Frankreich) 211
Individuelle Legalisierungsmöglichkeiten (Deutschland) 220
Territoriale und individuelle Legalisierungsmöglichkeiten (Frankreich) 232
Ähnlichkeiten und Unterschiede bei Kontakten und Legalisierungen in Deutschland und Frankreich 254
IV Deutschland und Frankreich im Vergleich 259
Die Rechte "irregulärer" Migrantinnen und Migranten 268
Zweierlei Logiken im Umgang mit "irregulärer" Migration? 271
Zum gesellschaftlichen Kontext im Umgang mit Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus 276
Deutschland und Frankreich im Spiegel ihres Umgangs mit Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus 295
V "Irreguläre" Migration im internationalen Kontext 302
Nationale Souveränität und transnationale Rechte 314
Stratifizierte Rechte "irregulärer" Migrantinnen und Migranten 342
Schluss: "Irreguläre" Migrantinnen und Migranten im Kampf um Inklusion - der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich 348
"Irregularisierung" als Prozess 349
Zur Subjektposition sowie der sozialen und ökonomischen Situation "irregulärer" Migrantinnen und Migranten 357
Thesen zur Situation "irregulärer" Migrantinnen und Migranten in Deutschland und Frankreich 372
Ausblick 380
Quellen und Literatur 386
Interviews 386
Literatur 390
Transkriptionszeichen und Abkürzungen 413
Transkriptionszeichen 413
Abkürzungen 414
Als Sans-papiers und "Illegale" können Menschen nur gelten, weil es nationalstaatliche Grenzen und Limitierungen der Einwanderung gibt. Einerseits bringen restriktive Regelungen von Einreise und Aufenthalt diese Personengruppe erst hervor, zugleich ist sie das Objekt nationalstaatlicher Kontrollpolitik. Ihre Existenz verweist auf den Versuch staatlicher Exklusion, diese wird allerdings faktisch nicht immer erfolgreich durchgesetzt. An Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus verdichten sich Widersprüche in demokratischen Nationalstaaten. Im Spannungsfeld von politischen und ökonomischen Interessen, Souveränität, historischen Entwicklungen sowie Menschen- und Grundrechten wird definiert, was "irreguläre" Migration ausmacht und wie mit ihr umzugehen ist: Die Menschen werden abgeschoben, legalisiert, geduldet und prekarisiert.
Die vorliegende Arbeit fragt nach dem unterschiedlichen nationalstaatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Rechten von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland und Frankreich. Dafür wurden auch Erzählungen dieser Menschen über ihre Möglichkeiten im "Aufnahmeland" aufgenommen. Diese sind geprägt von verschiedenen Faktoren wie dem Arbeitsmarkt, Netzwerken und einer unterstützenden Struktur. Ich konzentriere mich auf die Frage nach dem Zugang zu medizinischer Versorgung, Wohnraum und nach den (behördlichen) Kontakt- und Legalisierungsmöglichkeiten.
Mein Buch versteht sich als Beitrag zur vergleichenden Untersuchung nationalspezifischer Migrationspolitik. Diese zeigt einen zentralen Widerspruch, angelegt in der Verbindung von Rechten mit dem staatsbürgerlichen Status. Die im Zuge der Aufklärung entstandene Vorstellung einer universalen Dimension von Rechten verknüpfte zwar die Nation mit der Idee der Menschenrechte. Dies kann aber nicht verdecken, dass durch staatliche Vergabe von Aufenthaltsrechten politische sowie in der Konsequenz soziale Ausschlüsse geregelt werden. Wie weitgehend die Rechtlosigkeit von Menschen ohne nationalstaatliche Protektion sein kann, zeigt die Erfahrung von Staatenlosen und Minderheiten in zwei Weltkriegen. An ihnen sah man, wie wenig Staaten bereit waren, jenen Schutz zu gewähren, die aus dem internationalen Staatengefüge herausgefallen waren. Die Situation hat sich seitdem zwar verändert, insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 versuchte hierfür eine Lösung anzubieten. So wurden Rechte universal formuliert. Zugleich findet sich hier die paradox erscheinende Aussage, jeder Mensch hätte das Recht auf eine Staatsbürgerschaft (§ 15). Gérard Noiriel vertritt die These, dass sich zwischen 1789 und 1948 eine Nationalisierung des Sozialen vollzogen hat. Diese hätte einen fundamentalen Bruch in der sozialen Organisation der europäischen Staaten bedeutet (vgl. Noiriel 1994: 307). Die Gewährung sozialer Rechte sei einhergegangen mit einer verstärkten Identifizierung von In- und Ausländern und habe somit zu verfeinerten Kontrollmechanismen geführt. Daneben ist erkennbar, dass die sozialen Rechte tendenziell als Teil der Menschenrechte weitgehend anerkannt und insofern theoretisch universalisiert wurden. Gleichzeitig zeigt das Recht auf eine Staatsbürgerschaft auch, dass der nationalstaatlichen Zugehörigkeit innerhalb der Menschenrechte eine zentrale Stellung zukommt - obwohl diese gerade auch für jene gelten sollen, denen nationalstaatlicher Schutz versagt wird. Die Rechte von "irregulären" Migrantinnen und Migranten können als Spiegel betrachtet werden, in dem sich zentrale Probleme zeitgenössischer Demokratien reflektieren, vor allem der Widerspruch zwischen dem Universellen und dem Nationalen (vgl. Noiriel 1994: 305).
Wie können Menschen, die ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland und Frankreich leben, ihren Alltag organisieren sowie soziale Rechte und Legalisierungsmöglichkeiten wahrnehmen? Sie sind trotz der gut bewachten Außengrenzen der Europäischen Union (EU) dorthin gelangt und halten sich trotz starker Kontrollen in einem Land auf, das sie ausweisen möchte. Daher ist es für sie besonders schwierig, ihre Rechte geltend zu machen.
Besonders deutlich wird der Widerspruch zwischen universalen Rechten einerseits und nationalstaatlich gewünschter Kontrolle andererseits, wenn sich europäische Staaten über die Abschottung gegenüber "irregulärer" Migration beraten. Dies gilt insbesondere für die geplante Harmonisierung von Grenzkontrollen, die an die Ränder des Schengen-Raumes verschoben sind. Aber auch der innerstaatlich geregelte Zugang zu spezifischen sozialen Rechten sowie Legalisierungsmöglichkeiten wird nicht nur je nach Arbeitsmarktsituation, politischen oder anderweitigen Überlegungen und Konfigurationen unterschiedlich zwischen verschiedenen Akteuren ausgehandelt. Auch diese Aushandlung findet im Spannungsfeld von nationalen Interessen und universalen Rechten statt. Der Umgang mit "irregulären" Migrantinnen und Migranten bewegt sich allerdings nie einfach zwischen diesen Extremen, sondern ist durch vielfältige historisch-gesellschaftliche Bedingungen beeinflusst. Die alleinige Existenz von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatuts zeigt nicht nur die Grenzen territorialer Kontrolle und damit verbunden staatlicher Souveränität auf. Ihre Lebenssituation ist darüber hinaus aufschlussreich für das Verständnis des Verhältnisses von Rechten und Aufenthaltsstatus, da diese Menschen aufgrund ihrer rechtlichen und damit auch sozialen Situation besonders darauf angewiesen sind, durch internationale menschenrechtliche Normen geschützt zu werden. Deren Implementierung unterliegt allerdings zentral dem Nationalstaat. Anders ausgedrückt: Einerseits sind zeitgenössische Demokratien hochgradig bürokratisiert und formulieren mehr oder weniger starke Kriterien der staatlichen Zugehörigkeit und deren Abstufungen. Hierüber definieren sich Rechte und Pflichten der auf dem Territorium aufhältigen Personen. Staaten sind in ihrem Funktionieren davon abhängig, ihre eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von solchen, die es nicht sind, unterscheiden zu können. Diejenigen, denen keine staatsbürgerlichen Rechte des Landes, in dem sie sich aufhalten, zukommen, werden erneut unterschieden: in Personen, die aus staatlicher Sicht partielle Rechte haben, und Personen, die sich aus staatlicher Perspektive rechtswidrig auf dem Territorium befinden. Dieser Ausschluss begründet nicht nur staatliche Souveränität - die raison d'être von Staaten -, sondern ermöglicht und verstärkt auch die Etablierung von sozialen und damit auch nationalen Rechten. Andererseits kann diese Schließung nicht völlig nach willkürlichen, beispielsweise arbeitsmarktorientierten Kriterien funktionieren. Denn solange Menschenrechte nicht nur im Gründungsmythos demokratischer Staaten, sondern auch über internationale Verträge und Abkommen bindend sind und es soziale Bewegungen zu ihrer Durchsetzung gibt, bedeutet der Umgang mit Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus ein Problem für demokratische Staaten. Dies gilt umso mehr, da die gänzliche Schließung von Grenzen nie vollständig möglich ist, insbesondere bei gleichzeitiger globalisierungs- und anderweitig bedingter freier Zirkulation von Waren. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten gilt es, "irreguläre" Migrantinnen und Migranten zu schützen, obwohl diese prinzipiell ausgeschlossen sind. Gleichzeitig aber bedeutet die staatliche Politik gegenüber "irregulären" Migrantinnen und Migranten immer auch eine Auseinandersetzung mit gescheiterter Kontrolle nach Innen und Außen.
Ziel ist zu zeigen, wie unterschiedlich Deutschland und Frankreich darauf reagieren, dass innere und äußere Grenzen immer partiell porös sind. Auf welche Weise damit umgegangen wird und welche Konsequenzen dies für die betreffenden Personen in den jeweiligen Ländern hat, werde ich untersuchen: Welche Konfigurationen im Zugang zu (öffentlichen) Leistungen von Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel zeigen sich im Spannungsfeld zwischen der Organisierung des Alltagslebens, gesetzlichen Regelungen sowie Unterstützungsmöglichkeiten, vor dem Hintergrund unterschiedlicher aktueller und geschichtlich entwickelter (Il-)Legalisierungs-Praktiken in Deutschland und Frankreich? Welche Aussagen lassen sich hierdurch über die jeweiligen Inklusions- und Exklusionspraktiken treffen?