Brentzel Die Machtfrau
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86284-251-3
Verlag: Links, Christoph, Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hilde Benjamin 1902-1989
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Biographien
ISBN: 978-3-86284-251-3
Verlag: Links, Christoph, Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie lassen sich derartige Gegensätze erklären? Was waren die Handlungsmotive dieser außergewöhnlichen Frau an der Macht?
Marianne Brentzel, in Westdeutschland aufgewachsen, hat nach intensiven Recherchen den Lebensweg dieser Symbolfigur stalinistischer Justiz rekonstruiert. Sie zeichnet nicht nur ihre Lebensumstände und inneren Beweggründe nach, sondern entwirft zugleich ein politisches Zeitpanorama.
Autoren/Hrsg.
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Kindheit im Kaiserreich –
Jugend in wirren Zeiten
Von Bernburg nach Berlin
1902–1921
Am 5. Februar 1902 hielt eine Pferdekutsche vor einem gepflegten Mehrfamilienhaus in der Altstadt von Bernburg. Der Kutscher läutete. Ein Herr, hochgewachsen, mit breiten Wangenknochen und dunklem Teint, faßte die Dame fürsorglich am Arm. Die Geburt des ersten Kindes stand unmittelbar bevor. Der Weg zum nahegelegenen Entbindungsheim führte am Fluß entlang, wo sich die riesigen Anlagen der Solvay-Werke erstreckten. Von weitem sah man das berühmte Schloß, überragt von dem gewaltigen Bergfried, dem Eulenspiegel- und dem Blauen Turm. Der Schloßgraben, als Schutz gegen anrückende Feinde erbaut, war nur noch teilweise erhalten. Einst stand dort ein Bärenzwinger mit einem jungen Braunbären aus Rußland. Vielleicht hat die Stadt von dieser Marotte einer Fürstin ihren Namen und ihr Wappentier erhalten.
Bernburg, zwischen Halle und Magdeburg im heutigen Sachsen-Anhalt gelegen, erlebte Anfang des Jahrhunderts einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Durch den Reichtum an Kali- und Steinsalz entstanden die Soda-Werke des Solvay-Unternehmens. Die verträumte Residenzstadt wurde Schritt für Schritt Industriestadt, gegen den Widerstand der alteingesessenen Offiziere, Beamten, kleinen Gewerbetreibenden und Bauern.
Hier kam Helene Marie Hildegard Lange1 am 5. Februar 1902 gegen 22.30 Uhr zur Welt. Der Vater von Hildegard, Walter Moritz Lange, arbeitete als kaufmännischer Angestellter bei den aufblühenden Rohag-Werken, die mit dem Solvay-Konzern verbunden waren. Er interessierte sich für die Wissenschaft und Kultur seiner Zeit, sympathisierte mit den Ideen der Freimaurer. Toleranz und Achtung der Menschenwürde prägten die Atmosphäre im Hause Lange. Die Mutter mit den klangvollen Namen Adele Elsbeth Minette Julie war eine geborene Böhme und stammte aus der Oberschicht des Städtchens. Sie war ein fröhlicher Mensch, humanistisch-liberal denkend wie Walter Lange, hilfsbereit, gesellig und musikalisch.2
Wie meist im Februar war die Saale zugefroren. Hochwasser und Eisgang im Frühjahr zerstörten immer wieder die im Sommer erbaute Brücke. Die Eisenbahnbrücke konnte erst 1935 wieder errichtet werden. Nicht selten war die Innenstadt überflutet.
Am 5. Februar 1902 war ruhiges, klares Winterwetter. In Berlin hieß das »Kaiserwetter«. In Bernburg freuten sich die Menschen ohne monarchistische Gefühle an der sonnigen Landschaft. In der Umgebung von Bernburg wurde hauptsächlich Ackerbau betrieben. Zuckerrüben, Getreide und Kartoffeln gediehen gut. Die kaiserliche Versuchsanstalt für Pflanzenzüchtung hatte hier ihren Sitz.
Bernburg – achtundvierzig Jahre später. Hilde Benjamin, geborene Lange, betritt den Saal. Sie führt den Vorsitz beim 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR. Es ist ein kalter Dezembertag des Jahres 1950. In weißem Herrenhemd, schwarzer Krawatte und schwarzem Jackett sitzt sie erhöht auf der Theaterbühne ihrer Geburtsstadt. Es ist der dritte Prozeß dieser Art innerhalb weniger Monate, bei dem sie den Vorsitz führt. Zehn leitende Angestellte der Solvay-Werke stehen vor Gericht. Nach zügiger Verhandlung verhängt Hilde Benjamin gegen die Angeklagten wegen »Schiebergeschäften« und »Wirtschaftssabotage« hohe Strafen. Unbewegt steht sie da. Über ihr ein Transparent mit der Aufschrift: »Die demokratische Gesetzlichkeit dient dem Fortschritt und dem Schutz der Werktätigen«. Klein, mit straff zurückgekämmtem Haar, der dünne Zopf über dem Kopf ist ordentlich festgeklemmt. Sie verliest das Urteil. Ihre Stimme klingt monoton und geschäftsmäßig: 19 Jahre, 15 Jahre, 2 Jahre Zuchthaus.3
Hat der Name der Firma Assoziationen in ihr freigesetzt? Stände auch der eigene Vater vor Gericht, wäre er in Bernburg geblieben? Unsinnige Gedanken! Das zählt nicht. Als Richterin des neuen Staates tut sie ihre Pflicht, einzig der demokratischen Gerichtsbarkeit verpflichtet.
Eine Frau – leitende Juristin? Deutschland – Anstifter zweier Weltkriege? Das Land geteilt und ein Teil sozialistisch? 1902, in Hilde Langes Geburtsjahr, wäre diese Szene undenkbar gewesen.
Walter Lange – 18744 in Wilhelmshaven als Sohn eines Stabswachtmeisters der kaiserlichen Marine geboren – war kein Mensch irrealer Zukunftsträume. Als Kaufmann hatte er handfeste Ziele. Nach Berlin wollte er versetzt werden, seiner Familie eine sichere Existenz aufbauen. Wahrscheinlich wünschte er sich einen Sohn als »Stammhalter«. Auch der würde Kaufmann lernen und in seine Fußstapfen treten.
Gegen Abend wurde die Geburt eines gesunden Mädchens gemeldet. Die Großmütter beider Seiten wollten bei der Namensgebung berücksichtigt werden: Helene und Marie. Als Neuerung entschied das Ehepaar sich für Hildegard. Hilde würde man das Kind rufen. Das war zeitgemäß und praktisch. Die Familien waren aus Tradition evangelisch. Keine Kirchgänger. Die Mutter praktizierte ein tatkräftiges Christentum, gab regelmäßig Bettlern ein warmes Essen und abgelegte Kleidung. Das Kind wurde am 6. April getauft. Der »Taufschein des Evangelischen Pfarramtes der Martinskirche«5 zu Bernburg würde 1933 noch einmal gebraucht werden, als die Deutschen nachweisen mußten, daß sie Christen, also Arier und nicht Juden waren. Hilde Lange wird nie eine innere Beziehung zum Christentum entwickeln.
Das Kind wuchs heran, wie Kinder in geordneten Verhältnissen heranwachsen, behütet und genährt, geliebt und gefördert. Es hatte dunkle, fragende Augen, glatte, dunkle Haut und breite Wangenknochen, vererbt von den Vorfahren. Slawisch nannten eifrige Forscher diese Gesichtsform, und Rassenfanatiker sprachen verächtlich vom »ostischen« Typ. Das Mädchen war klein und zierlich. Als erwachsene Frau wird sie knapp ein Meter sechzig sein, zierlich wird sie nicht bleiben.
1904 wurde Walter Lange seinem Wunsch entsprechend nach Berlin versetzt. Er war Prokurist und später Direktor der Firma Rohag, einer Tochter des Scheidemandel-Konzerns, der mit den Solvay-Werken verbunden war. Die Rohag befaßte sich mit der Erfassung und Verwertung von Knochen. Die Familie zog in die Ahornstraße nach Steglitz, damals ein ruhiger Villenvorort, kaum anders als die Bernburger Altstadt. Baumbestanden, mit angenehmen Bürgerhäusern, kleinen Parks und Bänken zum Verweilen. Man richtete sich ein, 1905 wurde der Sohn Heinz, 1908 die Tochter Ruth geboren.
Die Familie war nicht sehr wohlhabend und verfügte über nur wenige Dienstkräfte im Haushalt. So mußte Hilde als Älteste früh Verantwortung übernehmen und die Mutter bei der Pflege und Aufsicht der kleinen Geschwister unterstützen. Wahrscheinlich half Hilde ihrer Mutter gern, bekam sie auf diese Weise doch den Dank und die Zuwendung der Eltern, die sonst vor allem den kleineren Geschwistern vorbehalten waren. Wie viele Älteste war auch Hilde in ihrer Familie die »Vernünftige« und mußte sich durch die Übernahme von Verantwortung ihren Anteil an der Elternliebe erst »verdienen«. So lernte das Mädchen früh, durch sein Verhalten das Lob der Erwachsenenwelt einzuheimsen und dadurch sein Selbstwertgefühl zu stärken.
1908 kam Hilde in die Schule. Nach Meinung der Eltern wurde es Zeit, daß die Älteste neue Anregungen bekam. Das Lesen hatte sie sich schon fast selbst beigebracht, sie malte gern, lernte Klavier spielen und liebte ernste Musik. »Mein kluges Mädchen«, sagte der Vater voll Stolz und erklärte ihr anhand von Bildern aus alten Folianten die Welt.
Die ersten Schuljahre wurden eine Enttäuschung für das intelligente Mädchen. Sie langweilte sich, mußte stillsitzen und Deckchen sticken, Buchstaben erkennen, die sie schon längst zu Worten und Sätzen formen konnte, mit den Fingern zählen, obwohl sie das Einmaleins spielend beherrschte.
Die Klassenkameradinnen hielten Abstand. Hilde war klug, wußte einfach alles, mochte die gängigen Mädchenspiele nicht. Die Sprüche im Poesiealbum brachten Hilde Lange nur zum Lachen und reizten ihren Spott. »Marmor, Stein, und Eisen …«, »Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein, und nicht wie die stolze Rose …« So ein Quatsch, mag sie verächtlich gesagt haben. Rosen sind doch viel schöner als Veilchen! Hilde lernte gern und schnell, nachmittags übte sie Klavier, malte oder las in den Büchern der Erwachsenen. Die Eltern machten ihr bei der Auswahl der Lektüre keine Vorschriften.
1912, als Hilde Lange zehn Jahre war, wäre sie gern, wie die Jungen aus der Nachbarschaft, auf das Steglitzer Gymnasium gegangen. Doch das war in Preußen nicht erlaubt. Gymnasialklassen für Mädchen gab es noch nicht. Erst seit wenigen Jahren konnten begabte Mädchen in besonderen Vorbereitungsklassen zum Abitur geführt werden. Noch trauten sich nicht viele diesen Schritt in die Welt der männlichen Wissenschaften zu. Latein und Mathematik galten als unweiblich. Die Mädchen lernten auf dem Lyzeum nur, was man für angemessen und nützlich für die Gattinnen späterer Militärs, Beamter, Unternehmer und Professoren hielt: Handarbeit, Zeichnen, Religion, Gesellschaftstanz, Konversation in Deutsch, Englisch und Französisch. Die naturwissenschaftlichen Fächer und Mathematik spielten dagegen eine untergeordnete Rolle.
Hilde Lange wurde kein braves Mädchen, das mit Schleifchen im Haar an Mamas Hand durch die Schloßstraße flanierte und ehrfürchtig den Erwachsenen...




