Brendebach | Kunming | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 324 Seiten

Brendebach Kunming


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7568-3006-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 324 Seiten

ISBN: 978-3-7568-3006-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte einer Frau, die gleich ein paar neue Leben auf einmal beginnt. Ein Roman über eine Zeit, als man dazu auf eine heute unvorstellbare Weise fort sein konnte. Eine Erzählung über ein Land, in dem alles möglich ist. Kirke, Lehrerin in einer deutschen Kleinstadt, reist durch Asien. Sabbatical - Die Töchter groß und in der Welt, die Ehe ausgelaugt, der Job ohne Perspektive. In Kunming, nachdem sie fast ganz China durchmessen hat, erhält sie berufliche und erotische Angebote, und sie bleibt. Genießt die Unbestimmtheit. Probiert alles aus. Und muss sich am Ende doch entscheiden.

Martin Brendebach erlebte den Kalten Krieg am Nordrand des Westerwaldes und die roaring nineties in Berlin. Nach langen Aufenthalten in China arbeitete er als Lehrer. Heute lebt er in Potsdam und ist Referent in einem Bildungsministerium.

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1. Die Zelle
Kunming, 10. Oktober 1996 Sie ließ sich von Lao Pang zu ihrer Zelle führen. Nackte Betonwände, der Boden mit grünem Filz ausgelegt. Bett, Stuhl, ein niedriges Abstelltischchen, darauf eine Waschschüssel und die zerbeulte Heißwasserkanne. Lao Pang wies auf die Gegenstände und sagte zu jedem: „Zhe ge!“ Mehr Chinesisch traute er Kirke offenbar nicht zu, womit er nicht ganz falsch lag. Sie hätte ihn gern mit einer eleganten Redewendung beschämt, musste aber nach Lage der Dinge schon zufrieden sein, dass er ihr wahrscheinlich falsch betontes „Yaoshi?“ richtig als Frage nach dem Schlüssel deutete. Lao Pang drehte einen imaginären Schlüssel in einem Schloss aus Luft, murmelte „deng yi xiar“ und schlurfte aus der Tür. Diese Wendung hatte Kirke in den letzten Wochen oft genug gehört, um sie zu verstehen: „Einen Moment.“ Sie ließ ihren Rucksack von der Schulter gleiten und pflanzte ihn mitten in den kleinen Raum wie eine Fahne bei neuer Landnahme. Das Fenster, durch das zur Not ein Kind oder ein sehr schmal gebauter Erwachsener sich hätte hindurchzwängen können, war vergittert. Kirke hatte nichts dagegen. In den Briefen, die sie in den folgenden Monaten in die Welt schickte („nach Hause“ ging davon nur ein kleiner Teil, und wenn man es genau nimmt, in das Haus, in dem sie gelebt hatte, kein einziger) nannte sie das Zimmer nie anders als „meine Zelle“, stolz-ironisch. Die meisten, denen sie davon schrieb, dachten an ein Gefängnis, in China allemal, und schrieben Tröstendes zurück. Aber die Idee war Kirke nie gekommen. Lao Pang schnaufte herein, einen Fernseher schleppend. Wahrscheinlich heißt yaoshi Fernseher, wenn man es auf dem ersten und dem vierten Ton spricht, und Schlüssel nur auf dem zweiten und dritten, aber Lao Pang legte einen winzigen Schlüssel, wie man ihn eher für ein Schließfach erwartet hätte, neben den Fernseher auf das Tischchen. Er wies auf beides und wollte wahrscheinlich „zhe ge“ sagen, war dazu aber zu sehr außer Atem. Kirke hätte ihm den Apparat am liebsten gleich wieder mitgegeben. Er störte, hatte in einer Zelle nichts zu suchen. Aber dem schnaufenden Alten das Gerät wieder aufzuhalsen wäre nicht nur nach chinesischen Maßstäben einer groben Unfreundlichkeit gleichgekommen. Also sagte sie „chie-chie“. Lao Pang winkte ab und ging grußlos, sah dabei aber nicht unfreundlich aus. Die Tür ließ er offen, und Kirke wartete, bis er um die Ecke gebogen war, ehe sie das schmale Brett zudrückte. Neun Quadratmeter, vielleicht zehn. Aber allein, endlich. Nach neun Tagen im Viererabteil mit drei fröhlich-lauten Dänen, und vier Wo chen mit Martina, die sie im Zug kennengelernt hatte, in den Hotelzimmern von Peking über Xian bis Chengdu, zuletzt im Schlafsaal im Hostel hier in Kunming, nachdem Martina weitergereist war nach Vietnam. Nicht einmal auf der Toilette war man allein in diesem Land, die öffentlichen Klos, die sich während der ewigen Busfahrten quer durch das Land nicht ganz meiden ließen, waren Betonschuppen mit Löchern im Boden, die mit Türen oder anderem Sichtschutz zu versehen man hier offenbar überflüssig fand. Kirke hatte sich bei der Anmeldung zunächst davon überzeugt, dass hier im Wohnheim zumindest eine der drei Frauentoiletten eine Kabine hatte. Die neun Quadratmeter ihrer Zelle kamen ihr für einen Moment vor wie ein riesiges Reich. Den Fernseher stellte sie unter das Beistelltischchen, mit dem Schirm zur Wand. Dann nahm sie den Geldgürtel ab und legte ihn unter das Kopfkissen. Nachdem sie sich gestern davon überzeugt hatte, dass ihre Mastercard ihr hier allenfalls helfen würde, das Türschloss zu knacken, kam nun alles auf die Traveller-Cheques an. 1000 Dollar. Wie lange wollen Sie in China bleiben? 1000 Dollar lang. Ehe sie den Geldgürtel unter das Kissen legte, hat sie die Fotos herausgenommen. Marie hätte ihr gern das vom Abiball mitgegeben, aber das wollte Kirke nicht. Sie sieht zu glänzend darauf aus, verschwindet dahinter, ist nicht da. Sie hat ein heimliches mitgenommen, auf dem Marie liest, vom Schnappschuss überrascht keine Gelegenheit mehr hat, in die Kamera zu lächeln. Von Anna eines kurz nach einem Rennen, verschwitzt und noch wie erfüllt vom Tempo, die Arme nach hinten aufgestützt, die Augen halb geschlossen in den Himmel. Die Fotos kommen als erstes auf den Schreibtisch, in die linke obere Ecke, links oben, wo man auch zu lesen beginnt. Dann die Bücher, der „Lonely Planet China“, „Wild Swans“, „Chinesisch Schritt für Schritt“, ihr Reisetagebuch, die drei Stapel A5-Lernkarten. Zwei Kugelschreiber und der Walkman mit den beiden Kassetten, die sie mitgenommen hat. Das ist alles. Sie reiht ihre Habseligkeiten an der Wand auf, gegen die der Schreibtisch steht. Fast seine ganze zerkratzte Holzfläche ist noch frei. Mit den Klamotten ist es ähnlich: eine Garnitur zum Tragen, eine zum Waschen. Fünfmal Unterwäsche und ein Handtuch. Die Waschtasche enthält nur absolute Basics: Schmerztabletten, Zahnputzzeug, Binden, Lady Shave mit Klingen. Sie erklärt das Beistelltischchen zum Kleiderschrank. Der Rucksack kommt unter das Bett. Fertig eingerichtet. Es ist diese Einfachheit, die sie gesucht hat. Die sie der Tatsache entgegensetzt, dass alles andere so kompliziert geworden ist. Kirke setzt sich auf den verlebten Sessel und betrachtet ihre Zelle. Das ist der Nullmoment. Gleich gehst du durch diese Tür und das Leben hier baut sich auf, schon wenn du das erste Hallo wechselst mit irgendeinem der Jungs und Mädchen, die hier ihr Auslandsjahr verbringen. Wenn du die ersten Namen kennst und deinen hergibst. Wenn du Mittag isst in einem der kleinen Restaurants mit den drei oder vier Tischen, eine Zeitung kaufst, als könntest du sie schon lesen, froh über das eine oder andere wiedererkannte Zeichen. „Das Leben hier“, aber ein ganzes Leben wird es nicht mehr sein, hier nicht und nirgendwo sonst, ob sie ein zweites Leben anfangen wolle? aber das könne doch nur ein zweites halbes werden, und du kannst keine zwei halben Bäume haben, alles Leben stirbt, wenn man es teilt (bis auf – die Zelle, natürlich), dabei klingt es gut, zweites Leben, als bekomme man noch eines dazu, es klingt nach mehr. Sie ruft sich aus dem Sessel, das bringt nichts. Nur noch eine Stunde bis zum Essen und sie hat ihr Pensum noch nicht geschafft. Sie legt den Stapel vor sich in die Mitte des blanken Tisches, spielt ihre Zeremonie, ein Sammeln wie vor einer schwierigen sportlichen Disziplin, bei der man die Bewegungsabläufe zuvor geistig durchgehen muss, Stabhochsprung vielleicht. Es sind 240, ihre Chinauhr: Zehn Zeichen jeden Tag außer Sonntag, seit sie in Peking aus dem Zug stieg. Aber zuvor muss sie 90 % memorieren, so ihre selbst erklärte Vorgabe. Sie nimmt den ersten Stapel, die erste Woche. Sie weiß noch, wo sie welche Karte beschrieben hat, beim Zeichen für „Mann“ riecht sie die Zwiebeln der Garküche, an deren Tischchen sie noch am ersten Abend die aus einem großen Bogen geschnittenen Karten mit vorsichtigen, und dennoch krakelig geratenen Strichen versah, ein Viereck mit einem Kreuz darin, das Zeichen für Feld, und die gekreuzten krummen Striche darüber, das Zeichen für Hacke; und das Zeichen für „Frau“, die nur noch zu erahnende vor dem Spinnrad kauernde Gestalt. „Geld“ riecht nach den fauligen Teppichen und Vorhängen des von Tropenfeuchtigkeit schon halb zersetzten alten Kolonialhotels in Chengdu, „arbeiten“ schmeckt nach dem Kohle- und Wüstenstaub Xians, der in den Tee sich senkte. „Groß“ und „klein“ klingen wie Schienenrattern, das war im Nachtzug aus Sichuan. Diese Zehn sind natürlich besonders missraten, aber Kirke hat sie nicht neu schreiben wollen, aus Angst, mit dem gleichförmigen „Klack-klack“ ihre Bedeutung zu vergessen. Sie versenkt sich in die Aufgabe. Sie weiß, sobald sie innerlich den Kopf hebt, sich zuschaut dabei und stolz empfindet, kann sie es nicht mehr. Es ist wie ein Märchenschwert, das einem von selbst in die Hand springen muss. Die Karten wandern von der linken in die rechte, sie sagt leise Aussprache und Bedeutung, legt die Karte ab, die Karten gleiten durch die Finger unter Gemurmel, das sie in tranceartige Fahrt bringen kann als sei dies ein Rosenkranz. Nur vier Ausfälle, die bei der zweiten Runde gleich sitzen. Jetzt gießt sie sich einen Instantkaffe auf, auch dies bereits ein kleines Ritual, bevor es an die zehn neuen Zeichen geht. Die Thermoskanne hat das Vogelmuster, es gibt zwei Sorten, Vögel und Chrysanthemen, die beide irgendwo in einem Werk zu hunderttausenden produziert werden müssen, sie stehen überall im Land in den Hotels, Restaurants, Wohnungen, Zügen. Die Vögel schwirren aufgeregt, blau auf rot, einer hat einen zerknitterten Flügel, wo das Blech gebeult ist. Kirke entkorkt die Flasche, das Wasser ist kaum noch lauwarm; länger als ein, zwei Stunden bleibt es nicht richtig heiß. Sie fasst die Flasche am Henkel und nimmt den Schlüssel in die hohle Hand. Zieht die Tür zu, aber das dient wie der Schlüssel nur zur Beruhigung: Sie ist sich sicher, selbst das Mädchen, das unten die Böden wischt,...



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