E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Bremer Tesla oder die Vollendung der Kreise
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99027-198-8
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-99027-198-8
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Alida Bremer, geboren 1959 in Split, lebt seit 1986 in Deutschland. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik in Belgrad, Rom, Münster und Saarbrücken. Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin und Kulturvermittlerin zwischen Südosteuropa und dem deutschsprachigen Raum.
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2.
Nur eine der fünf Voraussetzungen für die Einreise in die Neue Welt erfüllten Anton und Ernesto nicht: Sie waren minderjährig und unbegleitet, und das bedeutete, dass jemand für sie bürgen musste. Die anderen Anforderungen erfüllten sie: Sie hatten jeweils zehn Dollar in der Tasche, sie waren zum Glück keine Frauen, wer war schon gerne eine Frau?, weder minderjährige noch volljährige und nicht einmal ganz alte Frauen durften alleine einreisen, wenn niemand für sie bürgte. Sie waren keine Kriminellen oder politische Umstürzler, und sie waren gesund, man hatte ihnen kein X für geistesschwach, kein Ct für Trachom und kein S für senil mit Kreide auf die Schulter geschrieben.
Mehr war nicht nötig, nicht einmal ein Reisedokument brauchte man, die Geburtsurkunde reichte. Allerdings verschwieg Anton dem Einwanderungsbeamten, genauer gesagt dem Dolmetscher, der jeden seiner Sätze aus dem Italienischen ins Englische übertrug, die Vorkommnisse um die abgefackelte kaiserliche und königliche Flagge und die Verbannung aus allen Schulen der österreichisch-ungarischen Monarchie, als dieser ihm die Frage nach kriminellen oder politischen Aktivitäten stellte. Am Ende des Gesprächs wusste er, dass er einen guten Eindruck hinterlassen hatte. In Gedanken sagte er zu seinem Vater: »Es war eine Notlüge, aber du siehst, dass ich mich zurechtfinde.« Die erste Hürde lag hinter ihm, jetzt musste nur noch Doktor Vilimek erscheinen und ihn abholen.
Nach fünfundzwanzig Tagen auf dem Atlantik waren die ersten Boten des Festlands die Möwen gewesen, die dem Schiff entgegenflogen. Er hatte sie wie alte Bekannte begrüßt, auch wenn ihre Schreie und das Kreisen über den Köpfen der Menschen genauso beunruhigend waren wie am Himmel über Triest. Die kreischende weiß-graue Eskorte hatte die Giulia an Staten Island und Coney Island vorbei bis zum Hafen in Brooklyn begleitet, wo die amerikanischen Staatsbürger und die Reisenden der ersten und der zweiten Klasse an Land gingen, während alle anderen mit einem kleinen Dampfer nach Ellis Island gebracht wurden.
Nach der ersten medizinischen Untersuchung – ein Arzt hatte ihnen die Augenlider umgestülpt, was schmerzhaft gewesen war, und sie durchgewunken, ein anderer hatte ihre Lungen abgehört – waren sie durch eine Tür mit der Aufschrift »Push to New York« gegangen und saßen nun in einer riesigen Halle inmitten aufgeregten Treibens. Aufseher liefen hin und her und baten die Männer, ihre Hüte abzunehmen, während Krankenschwestern in weißen Trachten die weinenden Kinder ermahnten und mit süßem Tee und Gebäck beruhigten.
Eine Gruppe ukrainischer Juden, die auf dem Schiff tagelang ausgelassen getanzt hatten und die vollständig verstummt waren, als am neunzehnten Tag der Überfahrt ein Mann starb, war noch immer nicht aus ihrer Schockstarre erwacht, die sich nach jener Seebestattung bei ihr eingestellt hatte. Der Leichnam des Mannes war in einen Sack gesteckt worden, an dem ein zweiter Sack mit Kohle befestigt war, und beide Säcke ließ man dann langsam über ein Holzbrett ins Meer gleiten. Zum letzten Geleit waren drei lange Hupsignale ertönt, dann hatte die Giulia ihre Fahrt fortgesetzt. Als Anton diese Gruppe hier im Wartesaal wiedererkannte, musste er an den Tod auf dem Atlantik denken und an das unendliche Wasser, das den Verstorbenen verschluckt hatte.
Im Fenster sah er die Nebelschwaden über den Hudson River ziehen.
Überall standen Koffer und Reisesäcke herum, man musste um sie herumlaufen oder darüber springen, und Anton wunderte sich, warum manche Auswanderer mehr mit sich schleppten, als sie zu tragen imstande waren, auf dem Weg vom Schiff bis hierher waren sie gestolpert und hatten geschwitzt und gestöhnt, und jetzt wurden sie von den anderen beschimpft, denen diese Berge im Weg standen. Man würde doch bald in Amerika neue Kleidung kaufen können. Er hatte nur seinen sorgfältig verpackten Anzug und seine guten Schuhe in einer Tasche sowie den Seesack mit schmutziger Wäsche dabei. Er fragte sich, wann er sie endlich würde waschen können; wie man Wäsche wäscht, hatte ihm seine Mutter vor der Abreise gezeigt. Sie hatte ihm eine ganze Reihe praktischer Dinge erklärt. Am meisten hatte ihm das Nähen gefallen: Mithilfe einer einfachen Nadel und eines Fadens konnte man Wunder vollbringen.
Ohne einen Knopf sei die teuerste Hose wertlos, hatte die Mutter erklärt und ihn gebeten, zur Illustration dieser Behauptung einmal im Zimmer auf und ab zu gehen, ohne den Knopf zu schließen. Dann hatte sie ihm gezeigt, wie man einen Knopf wieder befestigt. Sie strickte für ihn zwei Paar Wollsocken; ein Paar sollte immer einen Tag lang gelüftet werden, bevor es wieder getragen wird, dieser Wechsel sei bei Socken sehr wichtig, und nach der Reise sollte er alle Socken in einer Seifenlauge waschen. Sie waren aus heller Wolle, die eine Farbe von gesalzenem Sauerrahm hatte, und ihre Oberfläche ließ ihn an die Schafe im Heimatdorf seiner Mutter denken, und an die Pappeln am Fluss, die selbst an Tagen ohne Wind rauschten. Diese Socken waren für seine klobigen Schuhe gedacht, für die guten Schuhe sollte er sich in Amerika dünnere Socken kaufen, so lautete der Rat seiner Mutter.
Seine Gedanken kamen ihm gewöhnlich vor, da Piròn neben ihm herumphilosophierte: Warum es verschiedene Sprachen in der Welt gebe? Warum verschiedene Religionen und Nationen? Was das überhaupt sei, eine Nation? Und die Staaten, was seien die Staaten? Was sei ein Heim und was eine Heimat? Wäre man frei wie eine Möwe, wenn man der Heimat abschwöre? Oder seien die Möwen an das Meer gebunden wie die Menschen an ihre Herkunft? Ob Španjulet einen Blick durch diese fabelhaften hohen Fenster geworfen habe? Die Stadt dort drüben, ob sie nicht eine Nummer zu groß für dieses Lumpenproletariat sei, das mit ihnen angereist war? Aus Europa werde nur Elend und Armut über den Ozean geschwemmt, während dieses Gebäude hier von einem wohlhabenden Leben zeuge, ob Anton das nicht auch so empfinde? Ihm sei es jetzt sogar ein wenig peinlich, hierhergekommen zu sein. Was würden die Amerikaner über uns bloß denken? Über diese zerstrittenen und zerrissenen Nationen Europas, deren hungrigste und ärmste Teufel hier strandeten? Nationen seien sowieso bloß Einbildungen irgendwelcher europäischer Dichter. Eine amerikanische Dichterin habe dagegen ein Sonett geschrieben, in dem sie die europäischen Elenden begrüßt, das Gedicht sei am Podest der Freiheitsstatue angebracht worden, davon habe er vor der Abreise in Triest erfahren, und jetzt sei diese Statue zum Greifen nahe, aber sie dürften nicht zu ihr, um das Sonett zu lesen. Von ihrer eigenen Insel grüßte die Freiheitsstatue alle mit ihrer Fackel. Nun ja, es hätte sowieso nicht viel gebracht, Englisch könnten sie ja noch nicht. Ob Španjulet wisse, dass diese Insel hier nach einem gewissen Herrn Ellis benannt sei? Ihm habe die Insel früher gehört.
»Stell dir vor, Spagnolèto, in Amerika leben Menschen, die ganze Inseln besitzen. Der besagte Ellis hat sie deshalb verkauft, weil sie derart günstig vor dem Hafen von New York liegt. Damit man uns hier schneller abfertigen kann. Das ist nur vernünftig. Sie müssen uns kontrollieren, sie wollen doch nicht jeden in ihr Paradies hereinlassen. Und Amerika ist ein Paradies, schau dir bitte an, wie hochwertig die Stühle sind, auf denen wir sitzen, und wie hübsch die Uniformen dieser Beamten aussehen!«
Anton dachte über seine Wäsche nach, über die Armut – er schwor sich, nie mehr in der dritten Klasse reisen zu müssen, er wollte in Amerika reich werden, na gut, zumindest so wohlhabend, dass er sich die zweite Klasse leisten konnte –, und er dachte über die Ratschläge seiner Mutter zum Sparen und Haushalten nach, deshalb antwortete er nicht, doch das schien seinen neuen Freund nicht zu stören.
Ernesto redete weiter, fragte sich nun laut, wie man ein echter Amerikaner werden könne? Er wollte es unbedingt schaffen. Er, Ernesto Chiaro, ein ehrenwerter amerikanischer Staatsbürger, das sei sein Traum. Warum fühle sich jemand zu einer Nation gehörig? Und er antwortete sich selbst: Entweder aus Stolz, weil irgendjemand aus dieser Nation irgendwelche Leistungen vollbracht hat und man sich mit ihm identifiziert, oder aus Verletzung, weil dich irgendjemand wegen deiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation benachteiligt oder beleidigt hat. Das erste Modell, das sei eher amerikanisch, und das zweite, das sei etwas für die kleineren, unbedeutenden europäischen Nationen, die ständig von jemandem unterdrückt und beleidigt würden.
»So wie du, Španjulet, von meinen Leuten in Zara.«
»Wir nennen die Stadt nicht Zara, sondern Zadar.«
»Nun sei nicht so empfindlich.«
Sie schwiegen eine Weile und starrten auf das Gedränge in der Einwanderungshalle, die mit...