E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Brell Kress
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1187-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1187-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aljoscha Brell wurde 1980 in Wesel, NRW, geboren und lebt in Berlin. Er leitet ein Team von Webentwicklern in einem Berliner IT-Unternehmen. Er war Stipendiat der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloqiums Berlin und erhielt 2009 das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste. Kress ist sein Debütroman.
Autoren/Hrsg.
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Den Rest des Morgens brachte Kress damit zu, wechselweise an seinem Schreibtisch und auf seiner Couch zu sitzen und dabei den Kohledurchschlag seiner Hausarbeit zu studieren. Besonderes Augenmerk richtete er auf die korrekte Verwendung des Genitivs. Sosehr er sich bemühte: Einen angemessenen Grund für Schleichers »Freud und Leid« fand er nicht. Entsprechend beunruhigt war er, als er gegen kurz nach zehn in die U7 stieg.
Am Fehrbelliner Platz, wo er umsteigen musste, verkündeten die Lautsprecher irgendetwas von Unregelmäßigkeiten im Betriebsablauf, infolgedessen war die U3, als sie endlich kam, auf das Unerträglichste überfüllt. Fremde Arme drückten sich an fremde Bäuche, jemand balancierte kompliziert ein Reclamheftchen vor seinen Augen, jemand unterhielt sich lautstark mit seinem Mobiltelefon, alle Klappfenster waren geöffnet, die Luft war unerträglich, satt von Ausdünstungen und Kosmetikdüften und der dumpfen U-Bahn-Schachtluft, die durch die geöffneten Fenster kam.
Die eine Sache, die ihn sogar noch mehr beschäftigte als der Umstand, dass Schleicher »Freud und Leid« mit seiner Arbeit empfand, war diese: Er hatte die eiserne Reserve hinter der Kachel im Badezimmer hervorgeholt und davon seine Miete überwiesen; die eiserne Reserve würde noch einen Monat lang halten – unter Umständen konnte er auch im zweiten Monat noch die Miete bezahlen. Dann war Schluss. Wenn Schleicher Probleme mit der Arbeit hatte, würde er Kress mit Sicherheit keinen Vertrag als studentische Hilfskraft anbieten. Und ergo würde er sich eine andere Geldquelle suchen müssen.
Die Bahn hatte wieder gehalten, und Kress tadelte mit Blicken den jungen Mann, der sich gerade hereingeschoben und direkt neben ihn gequetscht hatte. Der Mann trug ein weißes Muskelshirt und etwas, das man, wie Kress sich zu erinnern glaubte, Baseballkappe nannte. Eben hatte der Türalarm zu tuten begonnen, die Tür war im Begriff, sich wieder zu schließen – als plötzlich von hinten jemand über den Bahnsteig gerannt kam. Ritterlich zerrte der Baseballkappen-Träger, dessen nackte Schulter so nah an Kress’ Kinn war, dass er hätte zubeißen können, die sich schließenden Türhälften wieder auf.
»Danke, danke, danke«, sagte die Verspätung, hochrot und atemlos, griff nach einer Haltestange und nickte dem Türaufzerrer zu.
»Das war ja knapp«, sagte dieser, offenbar in dem Bemühen, Kapital aus seiner Heldentat zu schlagen.
»Jepp«, die Verspätung nickte, und dann sah sie sich um, und ihr Blick fiel auf Kress, der direkt vor ihr stand. »Ach Mensch, da hab ich ja Glück«, sagte sie, während die U-Bahn wieder anfuhr, und wischte sich eine Strähne hinter ihr Ohr, »der Mann, der seinen Vornamen nicht nennen will. Na? Auch auf dem Weg in die Uni?«
Natürlich hatte Kress die Verspätung bereits im allerersten Moment erkannt, ja sogar bevor sie überhaupt zu sehen gewesen war, schon als der Arm des Türaufzerrers zur Tür gezuckt war, hatte er instinktiv gewusst, dass es die Verspätung war, die da den Bahnsteig entlanggerannt kam. Sofort hatte er fliehen wollen – nur, wohin? Also hatte er den Kopf zur Seite gedreht und mit klopfendem Herzen aus dem Fenster geblickt, wo nichts zu sehen war als die in regelmäßigen Abständen schimmernden Lampen in der vorüberrauschenden Schachtdunkelheit.
»Ach, Madeleine, das ist ja …«, presste er hervor, seine Kehle wie abgeschnürt, »ja genau, auch auf dem Weg zur Uni.« Normalerweise hätte er das Wort Uni niemals auch nur gedacht, Kress ging nicht in die Uni, sondern stets nur in die Universität, aber unter diesen besonderen Umständen war dieser kleine Lapsus vermutlich verzeihlich.
Die Verspätung lächelte ihn etwas künstlich an, schien aber kein Interesse an einer Antwort zu haben. Sie hatte sich den Rucksack vom Rücken gezogen und beförderte nun einen kleinen silbernen Apparat heraus, der über ein Kabel mit zwei Ohrstöpseln verbunden war.
Kress, der sich ihr Wiedersehen ganz anders vorgestellt hatte, spürte, dass er etwas unternehmen musste.
»Also«, sagte er und räusperte sich, »hast du ein angenehmes Wochenende verlebt?«
»Hm?«, die Verspätung, die Stöpsel bereits im Ohr, zupfte sie wieder heraus.
»Ob du ein angenehmes Wochenende verlebt hast, wollte ich wissen.«
Die Verspätung musterte ihn überrascht.
»Ach so. Ja. Du auch?«
»Nun, ja, ich auch«, Kress nickte. »Ich habe im Wesentlichen gelesen. Goethe. Die Italienische Reise.«
»Na, das ist doch mal was.« Sie machte sich neuerlich daran, die Stöpsel in die Ohren zu schieben.
»Und was genau hast du gemacht?«, sagte er. »Am Wochenende, meine ich?«
»Ich – ähm«, die Verspätung ließ die Hand mit den Ohrstöpseln wieder sinken, runzelte die Stirn. »Dies und das. Gelesen hab ich. Ich war mit ’ner Freundin im Theater. Ich hab ’nem Freund geholfen, sein Auto zu reparieren.«
»Tatsächlich, ein Auto hast du repariert? Aha. Was war denn beschädigt daran?«
»Ähm …«, die Verspätung schüttelte den Kopf. »’tschuldige, hab ich jetzt irgendwie was verpasst? Kennen wir uns irgendwoher?«
»Aus dem Seminar kennen wir uns.«
»Ja, na ja, weiß ich ja. Doktor Schleicher. Letzte Woche Dienstag. Ich dachte bloß, weil du stellst Fragen, als würden wir uns …«
»Ich versuche lediglich, unseren gemeinsamen Weg zur Universität mit einem Gespräch für dich und mich zu verkürzen«, sagte Kress nervös, irgendwie auch gereizt.
Die U-Bahn rüttelte sie beide durch. Die Verspätung musterte ihn.
»Okay. Gut. Meinetwegen.« Sie rollte das Kabel der Ohrstöpsel zusammen und schob den silbernen Apparat in den Rucksack zurück. »Also. Ich hab diesen Freund, Kai. Und Kai ist DJ, oder will DJ werden, jedenfalls hat er sich letzten Sonntagabend diesen Auftritt in so einem Studentenclub in Oldenburg organisiert. La Maruca oder so ähnlich. Kennst du Oldenburg? Ist auch egal. Jedenfalls musste er da natürlich hin. Und das Problem war, dass gerade am Sonntagmorgen, als er seinen Kram verladen wollte, sein Peugeot gestreikt hat. Ist nicht mehr angegangen, das Ding. Und weil er sich keine Werkstatt leisten kann und weil keine Werkstatt am Sonntagmorgen offen hat, bin ich eingesprungen und hab die Zündkerzen ausgewechselt. Reicht dir das als Information?«
»Und so etwas kannst du, Zündkerzen wechseln?«
»Bis Oldenburg hat’s gereicht.«
»Und wo hast du das gelernt?«
»Sag mal! Du bist ganz schön neugierig, oder?«
»Wie gesagt, ich versuche lediglich, eine Unterhaltung mit dir zu betreiben.«
Die Verspätung lachte, schüttelte den Kopf.
»Zündkerzen wechseln ist nicht so irrsinnig schwer. Hat mir mein Vater beigebracht. Irritiert dich das?«
»Warum sollte mich das irritieren?«
»Ich hab die Erfahrung gemacht, dass Männer nicht selten davon irritiert sind, dass ich Zündkerzen wechseln kann.«
»Keineswegs bin ich davon irritiert, im Gegenteil, ich begrüße es sogar. Ich stehe, zu deiner Information, in vielerlei Hinsicht auf der progressiven Seite der Frauenfrage.«
Das Gesicht der Verspätung veränderte sich ins Verblüffte.
»Du was?«
»Nun, also«, hob er an, merkte, wie er knallrot anlief, und war geradezu dankbar, dass sich die Türen in diesem Moment neuerlich öffneten. Die U-Bahn war am Heidelberger Platz eingefahren, wo Dutzende Studenten auf dem Bahnsteig warteten. »Bitte noch etwas Platz machen«, rief es von außen, Kress wurde gegen die Wand gedrückt, irgendwer stapfte ihm auf die Zehenspitzen, es war der reinste Kriegszustand, aus dem Augenwinkel war sogar jemand zu sehen, der vergeblich versuchte, sein Fahrrad ins Innere zu bugsieren.
»Sehr geehrte Fahrgäste«, erklang die berlinernde Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern, »der nächste Zug folgt in nur drei Minuten nach. Bitte treten Sie von den Türen zurück.« Und als niemand zu hören schien: »Ich wiederhole, bitte treten Sie jetzt von den Türen zurück, je schneller Sie zurücktreten, desto schneller kann der nachfahrende Zug einfahren.«
»Lene«, rief eine Frau, die zu den Neuzugestiegenen zählte, eine dunkelhaarige, etwas moppelige Person mit stark geschminkten Lidern, die versuchte, sich irgendwie zur Verspätung hindurchzuwühlen. »Also das«, sagte sie, während sie aufgeregt mit den Händen wedelte, »ist ja der absolute Alptraum, Herzchen, ich glaube, ich bekomme einen Ohnmachtsanfall, so etwas habe ich mein Lebtag lang nicht erlebt.«
»Mona«, die Verspätung bedachte die etwas moppelige Frau mit einer behelfsmäßigen Umarmung. »Alles gut bei dir?«
»Ich weiß nicht, Herzchen, ich glaube, ich bekomme wieder meine … Hey!«, rief sie plötzlich. »Du Rüpel!«
»Entschuldigung, ich wollte nicht …«, sagte der angesprochene Mann, derselbe, der zuvor der Verspätung die Tür aufgezogen hatte.
»Hat dir deine Mama keine Manieren beigebracht?«, rief die Frau.
»Doch, schon, wie gesagt, ich wollte nicht …«
»Pfff«, machte die Frau, und an die Verspätung gewandt, wobei sie sich mit der flachen Hand Luft zufächerte: »Männer! Was habe ich sagen wollen, ehe Monsieur hier auf meine Füße zu treten müssen gemeint hat?«
Der Zug war wieder angefahren, der Waggon ächzte unter dem Gewicht der Studenten.
»Du warst im Begriff zu erzählen, dass du wieder deine …«
»Ja, ja, ja. Aber, dem...