E-Book, Deutsch, 385 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Breidenbach / Ghalleb / Pensel Fakten und Verunsicherung
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2022
ISBN: 978-3-7873-4289-1
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit
E-Book, Deutsch, 385 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-4289-1
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alternative Facts, Post-Truth, Fake News – kaum etwas erregt und spaltet den öffentlichen Diskurs aktuell derart wie die Auseinandersetzungen über die Bedeutung von Fakten. Die globalen Krisen der jüngsten Zeit wie der Klimawandel, die Covid-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg werden von einem diffusen Gefühl der Verunsicherung begleitet, das auf den prekären Status von Wahrheit, Wirklichkeit und Faktizität verweist. In Diskursen der Gegenwart stehen diese wie selten zuvor zur Debatte und verlangen nach einer Neuverhandlung. Ausgehend von diesem Befund zielt das Buch darauf, in Überschreitung der vorherrschenden binären Unterscheidung zwischen Fakten und klar davon abzugrenzenden Fiktionen oder Lügen zu einer solchen Neuordnung beizutragen. Die versammelten Essays widmen sich gesellschaftlichen Phänomenen wie Hatespeech, politischer Lüge, Propaganda, Halbwahrheiten oder Verschwörungstheorien, beschreiben historische, epistemologische und sprachtheoretische Zusammenhänge und analysieren aktuelle politische Fallbeispiele sowie kulturelle Reflexionen in Fernsehserien, Filmen und Literatur.
In diesem Band begegnen sich kultur- und literaturwissenschaftliche, soziologische, literarische wie philosophische Stimmen und Perspektiven. Mit Beiträgen von Dirk Baecker, Klaus Benesch, Elisabeth Bronfen, Chiara Cappelletto, Oswald Egger, Nicola Gess und Carolin Amlinger, Jocelyn Holland, Gertrud Koch, Kathrin Röggla, Marc Rölli, Sylvia Sasse und Sandro Zanetti, Thomas Schestag, Marcus Steinweg, Peter Waterhouse und Slavoj Žižek.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Sozialphilosophie, Politische Philosophie
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literarische Stoffe, Motive und Themen
- Geisteswissenschaften Philosophie Erkenntnistheorie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Mediensoziologie
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Medienwissenschaften Medienphilosophie, Medienethik, Medienrecht
Weitere Infos & Material
Ideologie, Irrtum, Illusion
Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, nimmt jedes Nachdenken über Fakten oder Wahrheit automatisch immer auch deren Gegenbegriffe wie Fiktion oder Lüge in Augenschein. Unter dem Vergrößerungsglas theoretischer Analyse treten dabei zwei entscheidende Merkmale dieser Gegenspieler hervor: Erstens erschöpft sich ihr theoretischer Wert nicht notwendig in ihrem oppositionalen und negierenden Status in der Ausrichtung auf ihre positiv konnotierten Gegenspieler. Fiktion kommt etwa, wie oben bereits beschrieben, eine konstruktive Rolle in der Konstitution von Fakten zu. Zweitens stehen sie zu anderen negativ konnotierten Begriffen nicht in einem bloßen Äquivalenzverhältnis. Fiktion etwa unterscheidet sich von Lüge oder Verschwörungstheorie und unterhält zu beiden ein je spezifisches Verhältnis. Hierin liegt die Produktivität theoretischer Ansätze begründet, die eine Umordnung gewöhnlich in einem binären oppositionalen Schema angeordneter Begriffe vornehmen. Insbesondere in der Philosophie koinzidiert eine Denkbewegung, die sich von Verfahren dualistischer Gegenüberstellung zugunsten einer Beschreibung komplexerer Beziehungsformen abwendet, oft mit einer selbstreflexiven Wende, durch die philosophisches Denken sich immer wieder neu bestimmt und von etablierten Denktraditionen losschreibt. Dieses Zusammentreffen einer Verschiebung von Begriffskonstellationen mit einer Neuverhandlung theoretischer Prämissen innerhalb der (bzw. einer bestimmten) philosophischen Tradition lässt sich beispielhaft an den Begriffen von ›Ideologie‹, ›Irrtum‹ und ›Illusion‹ bei Louis Althusser, Gilles Deleuze und Ernst Cassirer aufzeigen.
Das philosophische Schaffen Althussers steht unverkennbar in der marxistischen Theorietradition. Wie viele andere Denker dieser Tradition interpretiert er jedoch seine Anhängerschaft als Verpflichtung zu kritischer Auseinandersetzung, zu Erweiterung und Korrektur. Eine Schwachstelle marxistischer Theorie sieht er in ihrem Diskurs über die Ideologie, der ausschließlich auf deren materielle und historische Entstehungsbedingungen Bezug nehme und dabei die ihr eigene immanente Realität vernachlässige.
Ideologie wird dort [in Marx’ und Engels’ Deutscher Ideologie] begriffen als eine pure Illusion, als ein reiner Traum, als ein Nichts. Ihre gesamte Wirklichkeit liegt außerhalb ihrer selbst. Folglich wird die Ideologie als eine imaginäre Konstruktion gedacht, deren Status genau dem theoretischen Status des Traums bei den Autoren vor Freud entspricht.120
In Analogie zu Freuds Traumbegriff geht es Althusser darum, Ideologie nicht mehr als imaginäres Gebilde, sondern als einen existierenden Funktionszusammenhang zu begreifen. Wie sich nach Freud nicht mehr sagen lässt, dass etwas bloß Traum sei, so lässt sich nach Althusser nicht mehr sagen, dass etwas bloß Ideologie sei. Ideologie darf nicht auf ein falsches Bewusstsein, ja überhaupt nicht auf eine Bewusstseinsstruktur reduziert werden, da ihr ein durchaus materielles gesellschaftliches Sein eignet. Sie manifestiert sich in Taten, Praktiken und Ritualen121 und wird durch Institutionen des ›Ideologischen Staatsapparates‹ wie Religion, Schule, Familie, Recht, Politik, Interessenverbände, Informationsmedien und Kultur organisiert.
Da die Produktionsstätten von Ideologie konkrete gesellschaftliche Institutionen sind, bildet die Frage nach deren Exklusions- und Inklusionsmechanismen sowie nach ihren internen Hierarchien und Machtverhältnissen – eine Problematisierung des zweiten und dritten Gesichtspunktes in Lockes Zusammenstellung von Kriterien zur Konstitution eines Faktums also – einen wichtigen Angriffspunkt analytischer Auseinandersetzung mit Ideologien. Alle ideologischen Staatsapparate, so Althusser, entfalten ihre ideologischen Wirkungen in Verbindung mit repressiven Dimensionen.122 Der Ausschluss etwa von Frauen oder LGBTQ+-Personen von bestimmten Funktionen religiöser Institutionen wirkt sich nicht nur auf die Leben der unmittelbar Betroffenen aus, er dient auch der Kontrolle über die von der Kirche an Gläubige vermittelten Botschaften. Die zahlreichen sozialen Sortierprozesse im Bildungswesen wiederum knüpfen das Erlernen von Wissen bereits in der Kindheit an die Einübung in ein Klassensystem.123 Die Analyse Althussers greift dabei in besonderer polemischer Schärfe den Realzustand an, wo in den Bildungsinstitutionen häufig nur vererbte Privilegien, als Leistungen und Qualifikationen getarnt, weitergegeben werden. Sie gälte allerdings immer noch für das liberale Idealszenario eines ›meritokratischen‹ Bildungswesens der ›Chancengleichheit‹, da auch dort die Hierarchisierungs- und Exklusionsmechanismen der Bildungseinrichtungen in erster Linie am kapitalistischen Produktionsprozess orientiert wären.
Die Funktion der Ideologie gegenüber den Individuen, die mit diesen Institutionen interagieren, ist jedoch nicht ausschließlich repressiv. Vielmehr ist Ideologie notwendiger Faktor in der Ermächtigung von Individuen zu gesellschaftlichen Subjekten – und gerade das macht es andererseits so schwer ihren unterdrückerischen Aspekten zu widerstehen. In der ›Anrufung‹ der Individuen als Subjekte,124 einer sich als Feststellung tarnenden performativen Operation, die den Setzungsakten fiktionaler Literatur analog ist, setzt Ideologie die Grundstrukturen sozialer und politischer Interaktion. Aus diesen lässt sich nicht durch eine einfache theoretische Negation der Ideologie ausbrechen. Ebenso wenig wie Geschichten und Mythen ihre Wirkung dadurch verlieren, dass sie als Erfindungen enttarnt werden, lässt sich Ideologie durch Aufklärung überwinden. Wenn die Kritik der Ideologie wirksam sein möchte, darf sie nicht davon ausgehen, einem Scheingebilde entgegenzutreten, sondern muss ebenso materiell und wirklich sein wie die Ideologie selbst.
Während Althussers Ideologietheorie das zweite und dritte Kriterium der Locke’schen Aufstellung betrifft, die soziologischen Dimensionen der Faktenproduktion analysiert und problematisiert, nehmen sich andere Ansätze das auf den ersten Blick so harmlos und selbstverständlich auftretende erste Kriterium, den »Abgleich mit der eigenen empirischen Erfahrung«, vor. Das Kriterium ruft die in der Geschichte des philosophischen Denkens so alte wie umkämpfte Diskussion über die Modi, in denen sich Wirklichkeit dem Bewusstsein mitteilt, auf den Plan. Ein zentrales Motiv dieser Diskussion ist die Frage nach dem Umgang mit der Erfahrung, dass Erfahrung täuschen kann. Welche Schutzmechanismen bewahren das Bewusstsein davor, sich von dem, was ihm begegnet, benebeln, behexen, erregen, kurz: beirren zu lassen? Wie lässt sich eine ›Wahrnehmung‹ von Objekten von einer bloßen Beeinflussung durch Situationen unterscheiden? Verschiedenste philosophische Schulen haben ihr Selbstbild an ihre Fähigkeit geknüpft, Haltungen der Kontemplation zu kultivieren, die dem Erkenntnissubjekt eine neue Souveränität im Umgang mit den in seinen Erfahrungshorizont tretenden Phänomenen verleihen. Sie entwarfen Szenarien der Wahrnehmung als transzendentale Vorbedingungen dafür, dass sich eigene Erfahrungen in Wissen von der Wirklichkeit übersetzen lassen.
Doch diese spezifische Variante einer philosophischen Einstellung zur Realität birgt einen Widerspruch in sich, der, zur Entfaltung gebracht, den für das Denken (scheinbar) wichtigsten Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum radikal verunsichert: In ihrer Kritik an einem ›dogmatischen Bild des Denkens‹ verweisen Gilles Deleuze125 und, im Anschluss an Deleuze, François Zourabichvili auf eine paradoxe Funktion des ›Außen‹ in der philosophischen Beschreibung des Erkenntnisvorgangs. In einer manichäischen ›Spaltung der Exteriorität‹ wird das Außen gleichzeitig zur notwendigen Bedingung der Erkenntnis wie zur Quelle des Irrtums.126 Auf der einen Seite stellt es dem Denken erst das Wahrnehmungsmaterial zur Verfügung, mit dem es sich als Erkenntnis von etwas entwerfen kann, auf der anderen Seite interveniert es als Affektauslöser störend in Gedankenprozesse. Im Versuch, die Grenze zwischen Wahr-Nehmen und Affiziert-Werden festzulegen und zu stabilisieren, fällt die Philosophie als Erkenntnistheorie immer wieder in die Philosophie als Morallehre zurück. Das Konzept des ›Guten‹ wird als eine Art deus ex machina beschworen, um dem Denken eine innere Rechtschaffenheit zuzuschreiben, die es aus quasi-natürlichem Antrieb auf die Erkenntnis des Wahren orientiert. Die Wahrheit erscheint als notwendiges Resultat, der Irrtum lediglich als akzidentieller Fehltritt des Denkens, auch wenn Letzterer ›faktisch‹ häufiger auftreten mag als sein Gegenteil.127 Doch diese Verquickung der Erkenntnis mit der Idee des ›Guten‹ lotst nicht nur die theoretische Reflexion in das gefährliche Fahrwasser soziohistorisch bedingter moralischer Normen, sie entzieht das Denken gleichzeitig einer echten Begegnung mit seiner Umwelt, da es ein Außen nur noch als Projektion seines eigenen Bildes in der Welt wieder-erkennen, nicht mehr im starken Sinne wahrnehmen kann.
In Deleuze’ Argumentation ist diese doppelte Tendenz des philosophischen Denkens zu Moralismus einerseits und Solipsismus andererseits Konsequenz einer keinesfalls selbstverständlichen Hervorhebung des Irrtums als des absolut Negativen des Denkens. Mit dieser Privilegierung des Irrtums werden alle anderen Bedrohungen des Denkens, »die Dummheit, die Bösartigkeit, der Wahnsinn«, auf Quellen des Irrtums und zu »Fakten einer äußeren Kausalität« reduziert.128 Der Schlüssel zum Aufbrechen dieser Konstellation liegt in einer Operation, die den Irrtum aus seiner...