Braun | Herzstücke | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

Braun Herzstücke

Leben mit Autoren
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7317-6145-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Leben mit Autoren

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6145-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Niemand hat das deutschsprachige Theater der vergangenen sechzig Jahre so intensiv begleitet wie Karlheinz Braun. Von der Frankfurter 'neuen bühne' mit ihren Uraufführungen von Günter Grass bis Nelly Sachs ging er 1959 in den Suhrkamp Verlag, wo er den Theaterverlag aufbaute: von Max Frisch, Peter Weiss und Martin Walser bis zu Martin Sperr und Peter Handke. Braun gehörte zu dem legendären Lektorat, das 1968 den Suhrkamp Verlag nach dem 'Aufstand der Lektoren' verließ und den Verlag der Autoren gründete, der in den nächsten Jahrzehnten zur wichtigsten Adresse deutscher Theater- & Filmautoren werden sollte. 'Herzstücke' erzählt diese Geschichte und damit die von über hundert Autoren wie Botho Strauß, Dea Loher, Heiner Müller, Rainer Werner Fassbinder, Thea Dorn, Wim Wenders & F. K. Waechter. Der Blick zurück eines leidenschaftlichen Theatermenschen auf ein Leben mit Autoren, ihre Erfolge und Niederlagen, und damit auch eine große Kulturgeschichte des deutschen Theaters und Films aus erster Hand.Karlheinz Braun über:Thomas Bernhard | Bertolt Brecht | Wolfgang Deichsel | Hans Magnus Enzensberger | Jenny Erpenbeck | Rainer Werner Fassbinder | Marieluise Fleißer | Dario Fo | Dieter Forte | Max Frisch | Günter Grass | Peter Handke | Nino Haratischwili | Elke Heidenreich | Wolfgang Hildesheimer | Gert Jonke | Heinar Kipphardt | Ursula Krechel | Fitzgerald Kusz | Hartmut Lange | Peter Lilienthal | Dea Loher | Gert Loschütz | Heiner Müller | Edgar Reitz | Erika Runge | Hansjörg Schneider | Martin Sperr | Botho Strauß | F. K. Waechter | Martin Walser | Peter Weiss | Wim Wenders | Urs Widmer | u.v.m.'

Karlheinz Braun, geboren 1932 in Frankfurt am Main, studierte Philologie und Philosophie an der Goethe-Universität mit einer Promotion über Romantheorie. Vom Studententheater 1959 zum Leiter des Suhrkamp Theaterverlags, 1969 Mitgründer und über drei Jahrzehnte einer der beiden »Delegierten« des Verlags der Autoren mit einem Intermezzo im Direktorium des Schauspiel Frankfurt.
Braun Herzstücke jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


ERSTER TEIL 1932–1953

Woher? Wohin?

Der Vater Karl war ein evangelischer Kraftfahrzeugmechaniker aus Idstein im Hintertaunus, die Mutter Mathilde, geborene Schuhmacher, eine katholische Näherin aus dem nicht weit entfernten Camberg. Da eine Mischehe in beiden Kleinstädten heftig missbilligt wurde, zog das Paar nach Frankfurt, wo ich am 4. Juli 1932 in der Universitätsklinik geboren wurde. Zuerst wohnte die Familie in der Arbeitersiedlung Hellerhof, dann in der Niddastraße 68 im Bahnhofsviertel, wo der Vater in einer Hinterhofwerkstatt einen Gebrauchtwagenhandel aufzog. Karl Braun war ein tüchtiger und geselliger Geschäftsmann, die Firma wuchs und mit ihr auch die Familie. Im Laufe der Jahre bekam ich vier Brüder, die sich später alle dem Fahrzeughandel widmeten, Dieter, Norbert, Manfred und Erich. Heute betreiben sie mit der AVG Trucks GmbH einen der größten deutschen LKW-Fahrzeugmärkte.

Die Eltern waren eher unpolitisch, sie mochten die Nationalsozialisten nicht. Der Vater entging der Rekrutierung für die Wehrmacht, indem er sich mit seiner Firma zum Gütertransport nach La Rochelle am Atlantik absetzte. Die Mutter floh 1943 mit ihren fünf Söhnen vor der großen Bombardierung Frankfurts in das elterliche Geburtshaus nach Camberg. Von dort fuhr ich täglich mit der Bahn ins 21 km entfernte Limburger Gymnasium. Nach Kriegsende kam der Vater in einem russischen ZIS-Laster zurück, mit dem er sein Geschäft neu aufbaute. 1950 zog die Familie wieder nach Frankfurt, in eine wiederhergestellte Wohnung der Ruine Emserstraße 33, die sie in den folgenden Jahren gemeinsam wiederaufbaute. Für mich war das Goethe-Gymnasium nicht weit.

Früh übt sich

Mächtig stolz war ich, ein etwas schmächtiger gerade zehnjähriger Knirps, dass ich diese herrschaftliche Wohnung in der oberen Niddastraße entdeckt hatte: »Wohnung zu vermieten!« stand da auf einem Schild im Fenster. Wir wohnten damals in der unteren Niddastraße, wo sie auf die Hohenzollernstraße stieß (heute Düsseldorfer Straße), in einem düsteren Hinterhaus, unten hatte der Vater seine Werkstatt mit dem Gebrauchtwagenhandel: Auto-Braun. Die mit dem dritten Bruder hochschwangere Mutter suchte schon länger nach einer größeren Wohnung, – und ich fand sie, ein paar hundert Meter weiter am heute nicht mehr vorhandenen Niddaplätzchen, nahe der Gallusanlage. Eine klassizistische Stadtvilla, in der wir die erste Etage beziehen konnten: hohe, lichte Räume mit großen Flügeltüren. Der Vater schaffte für den Salon eine Garnitur ausladender Ledersessel an, die wir nach dem Krieg nirgendwo mehr unterbringen konnten. Auf der Rückseite des Hauses ein kleiner Park mit einer gewaltigen Rotbuche. Für die Braun-Söhne ein idealer Spielplatz. Aber interessanter war das Bahnhofsviertel, das wir mit seinen Flussnamen-Straßen in Besitz nahmen. Wir und unsere Freunde waren die Niddabande, die gegen die Weserbande kämpfte, oder die Elbebande unterstützten, die sich gegen die Moselbande wehrte – das Viertel war für uns ein Labyrinth von Hinterhöfen und Durchgängen, dunklen Lieferanteneingängen und verlockenden Eisdielen. Schon damals war das gründerzeitliche Viertel ein Ort vielerlei Vergnügungen, das riesige jungendstilige Schumann-Theater lockte allabendlich Tausende Besucher mit Zirkus und Revuen, auch Operetten, und auf der Kaiserstraße, dem damaligen Prachtboulevard, gab es ein halbes Dutzend schmaler Kinos mit Namen wie Lichtburg oder Excelsior, Rex oder Hansa oder auch den üppigen Gloria-Palast. Kino war das »Theater für alle«, und Marie, unser rotlockiges sommersprossiges Hausmädchen, war ganz wild darauf. Ich verdanke es Marie, die mich sonntagnachmittags in die Kinos auf der Kaiserstraße schmuggelte, dass ich Marika Rökk, Johannes Heesters, Zarah Leander, Heinz Rühmann und wie sie alle hießen, kennenlernte. Der Schulbub war ein früher Fan der großen UFA-Stars. Faszinierender waren nur noch die Revuen und Operetten im Schumann-Theater, die in dem 4500-Platz-Theater mit großem Aufwand en suite gegeben wurden und die mich und den Schulfreund Wolfgang begeisterten. Dabei war Wolfgang der musikalisch Versiertere, denn er sang mit schönstem Knabensopran im Frankfurter Motettenchor, ich dagegen mühte mich nur mit anfängerhaftem Klavierspiel. Unsere Talente (und Ansprüche) genügten jedoch, um Das Land des Lächelns vor eingeladenem Publikum nachzuspielen. Dafür montierten wir in den offenen Flügeltüren der Wohnung Bettlaken als Theatervorhang, dekorierten dahinter einiges Mobiliar und Topfpflanzen, verwandelten uns mit wenigen Kostümteilen in die Protagonisten der Operette, und schon spielten, tanzten und sangen wir zu zweit vor wohlgesonnenem Publikum eine Digest-Fassung der Operette – eine frühe Kinderversion von Michael Quasts späterer tolldreister Unternehmung, die Offenbach-Operetten allein mit einem Pianisten zu spielen, zu tanzen und zu singen. Das war ein herrliches selbstgemachtes Kindertheater, aber mitten im schönsten Spiel flippten wir plötzlich aus, und die Szene geriet zu einer selbstdarstellerischen Stripteasenummer. Peinlich, die nackten Knaben mit erregten Pimmeln, nein, so was geht doch nicht. Aber warum ist mir die Szene überhaupt noch in Erinnerung? Kinderspiele, die dann mit dem Heulen der Sirenen bald endeten. Im Keller verbrachten wir die Bombenangriffe, kletterten danach aufs Dach, um die brennende Stadt zu sehen, am nächsten Vormittag sammelten wir auf dem Schulweg Granatsplitter in Zigarrenkisten. Wir hatten keine Angst, es war alles sehr aufregend. Nach den ersten schweren Luftangriffen verzog sich die Familie in das elterliche Haus der Mutter nach Camberg im Hintertaunus, wo sich der evangelische Großstadtjunge in einer stockkatholischen Provinz wiederfand.

Siebzig Jahre später sprach mich nach einer Diskussion um das Frankfurter Volkstheater, bei der ich auf dem Podium saß, eine Frau an. Sie führte mich zu einem massigen alten Mann im Rollstuhl. Es war der Schulfreund Wolfgang, den ich seit unseren Kinderspielen nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sie wohl auch nicht vergessen. Nicht lange nach diesem Wiedertreffen las ich seine Todesanzeige in der Zeitung.

Wie es wirkt

In Camberg, im Haus des Großvaters, überlebten wir den Krieg. Es waren inzwischen fünf Söhne, jeder sollte eigentlich ein Mädchen sein, aber mit dem fünften gaben es die Eltern auf. Als Ältester musste ich etwas Ersatz für den Vater sein, der mit seiner Firma in La Rochelle für die Wehrmacht fuhr. Wir waren nicht gut gelitten im erzkatholischen Camberg. Man verübelte der Mutter immer noch, dass sie den evangelischen Mann aus dem nur wenige Kilometer entfernten Idstein geheiratet hatte, und die Söhne waren natürlich alle Protestanten. So fühlten wir Buben uns nicht nur als Großstädter fremd in der kleinen Stadt, sondern vor allem auch wegen der falschen Konfession. Aber die Ablehnung stärkte unseren Willen zur Selbstbehauptung, vor allem bei mir, und so war es ganz natürlich, dass ich dort heimisch wurde, wo sich die Minderheit versammelte, in der evangelischen roten Backsteinkirche mit dem Pfarrhaus in einem großen Garten am Rande der Stadt. Der verständnisvolle Pfarrer hatte immer Zeit für den ständig fragenden Schüler, einer seiner Söhne war in meinem Alter, so wurde die Pfarrerfamilie zu einem zweiten Zuhause. Und ich stellte mir für die Zukunft ein ähnliches Leben vor, mit Kirche, Pfarrhaus und Garten, abgetrennt von der lärmenden Welt, ein ruhiges Leben mit Frau und Kindern. Das hatte weniger mit der Religion zu tun, obwohl die bei dem Jugendlichen auch eine gewisse Rolle spielte, es war eher dieses genügsame, pflichtbewusste Leben, wie ich es später bei Stifter wiederfinden sollte. Ich beteiligte mich selbstverständlich an bestimmten Arbeiten für die Kirche und die Gemeinde. Besonders angetan hatte es mir die Orgel, die ich zu bestimmten Zeiten spielen durfte; mein Klavierspiel war inzwischen ganz passabel, es reichte für Mozarts A-Dur Klavierkonzert KV 488, das ich mangels Orchester mit einer Schallplatte immer zusammen mit Lili Kraus spielte (die Kadenzen ließ ich sie alleine spielen). Es muss fürchterlich geklungen haben, zumal Schallplatte und Klavier nicht aufeinander abgestimmt waren, aber mit Orchester zu spielen, das war einfach das Größte. Mit den Klavierkenntnissen und gelegentlicher Unterstützung des Organisten konnte ich mir ein einfaches Orgelspiel selbst beibringen. Es reichte sogar zur Not, dass ich wenige Male, wenn der Organist unpässlich war, den Gottesdienst am Sonntagvormittag an der Orgel begleiten durfte. Das waren die bewegenden Höhepunkte in diesen ersten Nachkriegsjahren, in der selbst in der Kleinstadt mit noch vielen Bauern der Hunger und die Not groß waren. Viele Väter waren noch in Gefangenschaft, meiner schaffte es mit den Amerikanern vom Atlantik in den Hintertaunus zu kommen. Mit einem ZIS, den er dann in Camberg wegen des Benzinmangels zu einem holzvergasenden Lastwagen umbaute. Für die älteren Söhne hieß das, tagelang aus Scheiten kleine Klötzchen zu hacken, mit denen der Kessel des Holzvergasers gefüttert wurde. Und da es auch lange keine Autos zu kaufen und zu verkaufen gab, verlegte sich der Vater kurzfristig auf den Pferdehandel – was historisch gesehen ja die gleiche Branche war. Diese unmittelbare Nachkriegszeit war für mich befreiend, besonders von der Hitlerjugend, die ich verabscheute, aber nicht wegen ihres Nazitums, sondern weil die »Kameraden« alle viel größer und stärker und lauter waren als ich, der ich lieber in einem Versteck auf der Stadtmauer...


Braun, Karlheinz
Karlheinz Braun, geboren 1932 in Frankfurt am Main, studierte Philologie und Philosophie an der Goethe-Universität mit einer Promotion über Romantheorie. Vom Studententheater 1959 zum Leiter des Suhrkamp Theaterverlags, 1969 Mitgründer und über drei Jahrzehnte einer der beiden »Delegierten« des Verlags der Autoren mit einem Intermezzo im Direktorium des Schauspiel Frankfurt.

"Karlheinz Braun, geboren 1932 in Frankfurt am Main, studierte Philologie und Philosophie an der Goethe-Universität mit einer Promotion über Romantheorie. Vom Studententheater 1959 zum Leiter des Suhrkamp Theaterverlags, 1969 Mitgründer und über drei Jahrzehnte einer der beiden "Delegierten" des Verlags der Autoren mit einem Intermezzo im Direktorium des Schauspiel Frankfurt."



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.