Evaluation zur schulischen Integration von Migrantenkindern
E-Book, Deutsch, 223 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-531-91338-4
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Dr. Michael Brater ist Professor für Berufspädagogik, Bildungsforschung und Kulturpädagogik an der Alanus-Hochschule Alfter b. Bonn.
Christiane Hemmer-Schanze ist in der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung - GAB München tätig sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität München.
Dr. Albert Schmelzer ist Dozent an der Freien Hochschule für anthroposophische Pädagogik in Mannheim.
Zielgruppe
Professional/practitioner
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;5
2;Vorwort;8
3;1 Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion um die schulische Integration von Migrantenkindern;10
3.1;1.1 Zur aktuellen Krise des deutschen Bildungssystems;10
3.2;1.2 Die Frage nach den Ursachen für die selektive Bildungsbenachteiligung;17
3.3;1.3 Konzepte zur Verbesserung der Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem;20
3.4;1.4 Kulturelle und soziale Integration;30
4;2 Das Konzept der Interkulturellen Waldorfschule;46
4.1;2.1 Waldorfschule und Migrantenkinder;46
4.2;2.2 Die Entstehung der Interkulturellen Waldorfschule;47
4.3;2.3 Hilfreiche Strukturen;52
4.4;2.4 Unterrichtskonzepte;63
4.5;2.5 Vom Umgang mit Aggressivität und Gewalt;90
4.6;2.6 Das Bemühen um Interkulturalität;92
4.7;2.7 Vom Interkulturellen zum Transkulturellen;96
5;3 Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung;98
5.1;3.1 Zum Untersuchungsdesign;98
5.2;3.2 Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim in Zahlen;101
5.3;3.3 Die Schule aus Sicht der Elternschaft (1. Elternbefragung);112
5.4;3.4 Die sprachliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler;137
5.5;3.5 Entwicklung im Lernverhalten;170
5.6;3.6 Entwicklung der sozialen Kompetenzen;177
5.7;3.7 Zufriedenheit der Eltern mit der Entwicklung ihrer Kinder und der Schule (2. Elternbefragung);182
6;4 Resümee;211
7;5 Nachwort;216
8;Literatur;218
9;Die Autoren;223
Zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion um die schulische Integration von Migrantenkindern.- Das Konzept der Interkulturellen Waldorfschule.- Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung.- Resümee.- Nachwort.
2 Das Konzept der Interkulturellen Waldorfschule (S. 47-48)
2.1 Waldorfschule und Migrantenkinder
Im einleitenden Kapitel ist die schwierige Situation von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem in ihren verschiedenen Facetten dargestellt worden. Dabei wurden auch schon sich aus dem pädagogischen Diskurs ergebende Empfehlungen formuliert, wie Schule mit dieser Herausforderung umgehen könne: Anstatt segregierend solle sie integrativ sein, die Lehrenden sollten den Blick weniger auf kulturelle Differenzen als auf die Individualität des Kindes richten, ohne allerdings die Chancen einer Bereicherung des Unterrichts durch kulturelle Vielfalt zu vernachlässigen, es sollten an der Schule ein gutes Sozialklima sowie vertrauensvolle Lehrer-Schüler und Lehrer-Eltern-Beziehungen herrschen, günstig seien Gesamt- und Ganztagsschulen.
Nun mag auffallen, dass diese – allerdings recht allgemeinen – Charakteristika den Grundzügen des Profils der Waldorfschulen entsprechen, von denen es in Deutschland etwa 200, weltweit rund 1000 gibt. Umso erstaunlicher mag es zunächst erscheinen, dass die deutschen Waldorfschulen die Migrationsproblematik bisher kaum aufgegriffen haben. Zwar gibt es selbstverständlich an Waldorfschulen Migrantenkinder, doch stammen sie meistens aus denselben Milieus und sozialen Verhältnissen wie ihre deutschen Mitschüler, nämlich den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten, dem „Bildungsbürgertum" eben.
Allerdings ist der Gerechtigkeit halber anzumerken, dass sich die Waldorfschulen der Migrationsthematik nicht aktiv entzogen oder verweigert haben, vielmehr haben relativ wenige Migrationskinder um Aufnahme gebeten. Das hat sicherlich verschiedene Gründe: das relativ hohe Schulgeld, das Waldorfschulen aufgrund unzureichender staatlicher Zuschüsse verlangen müssen, die geografische Lage – Waldorfschulen liegen oft in Vierteln, in denen Migrantenkinder aus den unteren sozialen Schichten nicht wohnen –, die kulturelle Hemmschwelle: Um eine Freie Schule zu besuchen, ist ein bewusster pädagogischer Entschluss nötig, der Migrantenfamilien zumeist eher fern liegt.
Bisher haben die Waldorfschulen wenig getan, um diese Hindernisse zu überwinden und aktiv um Migrantenkindern aus wirtschaftlich schwächeren sozialen Schichten zu werben. Das erscheint umso bedauerlicher, als die erste Waldorfschule 1919 auf dem Hintergrund einer revolutionären sozialen Bewegung als Schule für die Arbeiterkinder der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria begründet worden ist und das dezidierte Anliegen hatte, eine Schule zu sein, in der „die Kinder des Arbeiters neben denen des Direktors sitzen, wo also die Klassenunterschiede von Grund aus aufhören und einmal wahr gemacht wird mit dem Ausspruch: Freie Bahn dem Tüchtigen."
2.2 Die Entstehung der Interkulturellen Waldorfschule
Diesen emanzipatorischen Ursprungsimpuls aufzugreifen war eines der Motive des kleinen Gründerkreises der Interkulturellen Waldorfschule, bestehend aus einer Waldorfkindergärtnerin, zwei Studierenden und einem Dozenten für Waldorfpädagogik, der sich um Weihnachten 2000 an der Freien Hochschule für anthroposophische Pädagogik in Mannheim konstituierte. Im Hintergrund stand die 20-jährige Erfahrung dieser Kindergärtnerin mit einem Waldorfkindergarten und einem angegliederten Hort in Neckarstadt-West, einem der sozialen Brennpunkte Mannheims, Kindergarten und Hort wurden überwiegend von türkischen Kindern aus wirtschaftlich schwachen sozialen Schichten besucht.
Während ihrer im Studium integrierten Sozialarbeit, in der sie Kinder aus dem Hort betreut hatten, hatten die Studierenden ebenfalls Eindrücke von der schwierigen Situation bekommen: Auch normal begabte Migrantenkinder scheiterten im staatlichen Schulsystem, weil sie sprachliche Defizite hatten und manche Aufgabenstellungen schlicht nicht verstanden, weil der Unterricht zu abstrakt war und wenig Künstlerisches und Handwerkliches enthielt, weil sie bei Klassenarbeiten schlechte Noten bekamen, nicht versetzt wurden und dann ihre Motivation verloren.