E-Book, Deutsch, 628 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Brandt Die Bestimmung des Menschen bei Kant
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2007
ISBN: 978-3-7873-3026-3
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 628 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-3026-3
Verlag: Felix Meiner
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Nach Kant liegt der Zweck der menschlichen Existenz in der Moral und damit der Freiheit, auf sie richtet sich unser gesamtes Vernunftinteresse. Aus diesem gut bezeugten Zentrum werden in der vorliegenden Untersuchung die kopernikanische Wende, die Geschichtsphilosophie und vor allem die drei Kritiken interpretiert; dass die Kritik der reinen Vernunft sich als republikanischer Gerichtshof artikuliert, ist in der Leitidee der moralischen Bestimmung des Menschen begründet. Kants Wirkung beruhte auf dem Freiheitspathos, mit dem er sich gegen die Bevormundung durch die Despoten und eine scholastisch verwaltete Metaphysik stellte. Im letzten Kapitel, 'Die Vierte Kritik', werden Äußerungen untersucht, gemäß denen eine neue Kritik der reinen Vernunft die drei Kritiken der Vernunft bzw. des Verstandes (1781), der Urteilskraft (1790) und der praktischen Vernunft (1788) in ihrer Vollständigkeit begründen sollte; es wird gezeigt, dass dieses Projekt Kant notwendig schien, aber zugleich nicht durchführbar war.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: Transzendentalphilosophie, Kritizismus
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: 18. Jahrhundert
- Geisteswissenschaften Philosophie Moderne Philosophische Disziplinen Philosophische Anthropologie
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: Aufklärung
Weitere Infos & Material
Vorrede
Die sittliche Bestimmung des einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen ist das dirigierende Zentrum der Kantischen Philosophie. Die drei Kritiken (1781 bis 1790) und mit ihnen die übrigen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, zur Rechtsphilosophie, Ethik und Aufklärung sehen in der Beantwortung der Frage nach der »ganzen Bestimmung« oder dem Endzweck der Menschen das eigentliche Thema und Interesse unserer Vernunft und damit der philosophischen Reflexion. Diese prägnante Zielbestimmung ist nicht das Ergebnis einer isolierten Überlegung, sondern entsteht aus dem Zusammendenken vieler tradierter Systeme und avancierter Zeitgenossen; Kant stellt sich an die Spitze einer Modernisierung der deutschen Philosophie, bei der die schwerfällige Gelehrtenmetaphysik des Wolffianismus durch ein leicht handhabbares Konzept aus Logik, Physik und Ethik1 abgelöst wird; die Ethik behandelt die moralische Bestimmung des Menschen und damit den einzig unbedingten Wert. Von ihm aus wird die Philosophie organisiert; sie zeigt, »daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen.« (A 831) In diesem Sinn ist jeder Mensch Metaphysiker, der Philosoph klärt dieses Existential nur auf und verteidigt es gegen die Angriffe einer dogmatischen oder empiristisch-skeptischen Theorie. Hier liegt die einheitstiftende Idee der kritischen Philosophie, selbst die KrV wird verständlich nur von ihrem Ende her, der »ganzen Bestimmung des Menschen« (A 840), die alle Teile der Vernunft in einem Zwecksystem im Ganzen bestimmt und verlangt, daß die KrV sich als Gerichtshof begreift. Vor diesen Gerichtshof werden Thron und Altar zitiert, er ermöglicht die rechtliche Deduktion der Anwendung der Verstandesbegriffe auf Erscheinungen in Raum und Zeit (Analytik) und destruiert im Gegenzug die vorgebliche theoretische Vernunfterkenntnis von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (Dialektik). Wenn diese drei Gegenstände unseres Glaubens, Tuns und Hoffens aus dem Zugriff der theoretischen Erkenntnis befreit sind, dann können sie zur eigentümlichen Domäne der praktischen Vernunft werden. So wandert bei Kant das Zentrum der Philosophie von der Theorie der Schulmetaphysik zur Praxis, vom Erkennen zum Wollen, vom »Selbst denken« (Christian Wolff)2 zum »Selbst denken«, von der Frage nach der statischen Wesenbestimmung des Menschen, »Was ist der Mensch?«, zur Untersuchung seiner Zweckbestimmung in praktisch-dynamischer Hinsicht, damit aber von einer Orientierung an der Vergangenheit zum Selbstentwurf der Zukunft. Bei ihm wendet sich die Menschheit ab von der arché, dem Zeitanfang und der Herrschaft des Geburtsadels und der Erbsünde, hin zu dem, wozu der Mensch generell bestimmt ist. Kant beantwortet die Frage nach der finalen Bestimmung des Menschen so, daß sie in seiner Freiheit und moralischen Selbstbestimmung liegt, und er erweitert diese Idee vom einzelnen Individuum zur Menschheit im Ganzen; er gelangt aus der Reflexion über die Bestimmung der Menschheit zu einem einheitlichen philosophischen Begriff der Geschichte, der nicht mehr nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft der Menschheit umfasst. Der Primat des Praktischen ist nicht nur ein Phänomen der Kantischen Philosophie und der zweiten Epoche der Aufklärung (1750– 1800), sondern er ist vorstrukturiert in der hellenistisch-römischen, vor allem stoischen Philosophie; der Neostoizismus löst den Aristotelismus und die Scholastik ab, die in Christian Wolffs System ihr Ende fanden. Die gemeinsamen Grundüberzeugungen der Autoren nach Wolff, nach 1750, lassen sich nur erklären durch die systematischen Konzepte, die sich Winckelmann und Rousseau, Adam Smith und Kant gleichermaßen durch die Lektüre besonders von Cicero und Seneca aneigneten, sie aktivieren ein gemeinsames Kulturgedächtnis und können sich in ihm verständigen. Der von der Bestimmungsfrage in Deutschland durchzogene Zeitraum ist die zweite Jahrhunderthälfte, 1750–1800. Es erweist sich unter diesem Aspekt als günstig, vom Hellenismus, ca. 320 v. Chr. bis kurz nach der Zeitenwende, als der ersten Moderne, und von der Überwindung mittelalterlicher Vorstellungen in der Neuzeit als der zweiten Moderne zu sprechen; die zweite greift auf die hellenistische Moderne in vielfältigen Formen zurück, zunächst in England (Francis Bacon, Hobbes) und Frankreich (Descartes, Gassendi), erst um 1750 in Deutschland, der hier nun nachweislich verspäteten Nation. Wie sich die erste Moderne der Ideen- und Polis-Philosophie von Platon und Aristoteles entgegenstellt und den Menschen als autonomen Weltbürger konzipiert, so opponiert die zweite Moderne gegen die Binnenraum-Philosophie des Mittelalters und entwirft den Menschen als Weltbürger in vertraglich zu organisierenden Staaten. Wie die hellenistischen Schulen durchgängig von einem Primat der Lebensphilosophie vor der Theorie um ihrer selbst willen ausgehen, so drängt die zweite Moderne zunehmend zu dem Bekenntnis des »man is born for action«.3 Zugleich gilt, daß die genannten Philosophen kreative Denker sind und nach dem Vorbild der Eklektiker sich jeweils die Gedanken zueigen machen, die sie überzeugen; dazu gehört auch die antike Vormoderne von Demokrit, Platon und Aristoteles. Kant ist wie seine Zeitgenossen in diesem Sinn Eklektiker; die ungeheuren Ressourcen, über die er beim kreativen Weiterdenken der Metaphysik verfügt, kommen aus allen antiken Schulen und aus den drei modernen Ländern England, Frankreich und Deutschland. In der Antike dominieren die hellenistischen Schulen, besonders die Stoa, aber niemand ist im 18. Jahrhundert noch bekennender Stoiker wie etwa Justus Lipsius um 1600; so greift Kant auch auf platonisch-aristotelische Lehren zurück, etwa bei der Benutzung des Formbegriffs. Die kritische Philosophie ist als Philosophie der Philosophie konzipiert, sie versteht sich als Summe und Vollendung der nach ihrem Selbsterkennen strebenden Vernunft und damit als Übergang in eine im Prinzip geschichtslose Metaphysik als Wissenschaft. Eklektik ja, aber unter einem jetzt gewonnenen Vernunftprinzip. Mit der Avantgarde aus England und Frankreich, immer noch mit John Locke, dann jedoch den beiden zeitgenössischen Denkern David Hume und vor allem Rousseau wird die Modernisierung der Reflexion und die Überwindung der absolutistisch orientierten Wolffschen Metaphysik, aber im Gegenzug auch des englischen Empirismus und Skeptizismus versucht. Es gehört zur heuristischen Methode der vorliegenden Untersuchung, die Lehren und Systeme herauszupräparieren, mit denen sich die kritische Philosophie auseinandersetzte, die sie angriff oder aufgriff und weiterführte. Man kann philosophische Texte als fertige isolierte Produkte benutzen und dann über sie im je eigenen Horizont, etwa der Ontologie oder Anthropologie, verfügen; hier soll umgekehrt das Problem aufgesucht werden, auf das in der Philosophie eine Antwort gesucht wird, häufig im Rückgriff auf überzeugende Lösungen und Teillösungen, die aus verwandten Situationen schon bereitliegen. Die Rekonstruktion der Auseinandersetzungen, aus denen die Schriften, Vorlesungen und Notizen Kants entstanden, schützt wenigstens tendenziell vor Überformungen des Autors durch spätere Meinungen des Interpreten. Zu klären ist u. a., wie es möglich war, daß Kants Philosophie von den Zeitgenossen enthusiastisch begrüßt wurde, die Universitäten eroberte, daß sie sich selbst als Revolution begriff und sofort nach 1789 mit der Französischen Revolution in eine Parallele gesetzt wurde. Die Bestimmungsphilosophie ermöglicht u. a. die Apotheose der Freiheit und Vernunft auf derselben Grundlage, die in Frankreich von der Monarchie zur Republik der »vertu« und der »liberté, égalité, fraternité« führte. In der ersten Jahrhunderthälfte hätte sich jedermann mit Entsetzen abgewendet, 1789 wußte man, wovon geredet und wofür gehandelt wurde, und stimmte zu, sicher nicht aus ontologischen Gründen. Es soll versucht werden, das komplexe Reflexionssystem der kritischen Philosophie besser als bisher zu durchdringen und seine Faszination, die bis heute dauert, verständlicher zu machen. Dazu gehört, daß die klassizistische Orientierung Kants ernst genommen wird; die antiken Autoren sind im 18. Jahrhundert, also vor dem Historismus, präsente Autoritäten, an denen sich die eigenen Gedanken bemessen. Diese Präsenz wird die Interpretation Schritt für Schritt begleiten; sie will damit die Texte aus dem Oktroy späterer Verstehenshorizonte befreien und die Auseinandersetzungen Kants nicht nur auf die Konstellationen der Zeitgenossen beschränken, sondern in allen nachweislich relevanten Gedankenbezügen aufsuchen. Die Bestimmung oder auch die »ganze Bestimmung des Menschen« wurde bisher nicht als Leitidee Kants ab ungefähr 1765 entdeckt;4 die...