E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Brandner Kerl aus Koks
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8437-2823-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2823-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Wurschthimmel
Tante Hannah stand am Herd und buk Hefesemmeln. Als Paul in die Küche gelaufen kam, drehte sie sich um und lächelte ihn an.
»Na, Burschi? Kommst grad recht.«
Der süße dämpfige Geruch der Teigklumpen, die zwischen Hannahs flinken Händen hin- und herflogen, ehe sie als glänzende Kugeln auf dem Blech landeten, war auch eine Art Lächeln, fand Paul. Und ihr Herd war eine Zauberkiste. Was immer sie hineinschob oder in Töpfen und Pfannen aufs Feuer stellte, verwandelte sich in ein duftendes, schmelzendes, blätterndes Wunderwerk, das Paul das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Ihr Blaukraut war so saftig, dass man beim Essen schlürfen und schmatzen musste, ihre Leberknödel zerfielen im Mund zu lauter köstlichen kleinen Perlen, und vor ihren Schnitzeln und Würsteln und Hendln fühlte sich Paul wie in dem Märchen vom Schlaraffenland.
Da war er gelandet. Im Schlaraffenland. Mit einer Zauberkiste, aus der ihm Köstlichkeiten in den Mund flogen, mit einem Küchentisch aus schrundigem Holz, an den man sich nur zu setzen brauchte, um einen gefüllten Teller vorgesetzt zu bekommen, und mit Wiesen rundherum, auf denen man laufen und laufen und laufen konnte, ohne je an einen Zaun, eine Grenze, eine Mauer zu stoßen. Er hatte Glück. Er war ein Junge, der im Schlaraffenland wohnte. Besser ging es nicht.
Die Geschichte vom Schlaraffenland hatte ihm Onkel Hans erzählt, der ihn von dort abgeholt hatte, wo er früher gewesen war. »Das Schlaraffenland hast du bei uns, in Tante Hannahs Küche«, hatte er gesagt. »Den Wurschthimmel.« Über das Wort hatte Paul gelacht.
An mehr erinnerte er sich nicht. Einer von den großen Jungen, mit denen er draußen auf den Wiesen spielte, hatte ihn einmal gestoßen und gerufen: »Was will denn das Krischperl. Der ist doch gar nicht von hier. Einer aus dem Heim ist der.«
Also war er das wohl. Einer aus dem Heim. Die Erwachsenen erklärten ständig, wie viel länger sie schon hier waren, also mussten die Kinder vorher schließlich irgendwo anders gewesen sein. Wenn man sich nicht erinnerte, war ein Ort so gut wie der andere. Da Paul sich nicht über ihn ärgerte, war es dem Jungen langweilig geworden, ihm das mit dem Heim hinterherzurufen. Stattdessen zeigte er Paul, wie man Fußball spielte. Sepp hieß er. Es gab drei, die Sepp hießen, aber dieser war der längste. »Auch wenn du eigentlich noch zu klein bist«, hatte er gesagt und Paul den großen harten Ball genau vor den Fuß gelegt, sodass er ihn nur noch zu treten brauchte.
Vom Treten taten Paul die Zehen weh, und der Ball flog nur bis in Tante Hannahs Blumenbeet, aber der lange Sepp hatte ihn gelobt. »Gar nicht so schlecht«, hatte er gesagt. »Wenn du willst, übe ich morgen wieder mit dir. Dann wird das schon noch was.«
Paul konnte den nächsten Tag, an dem er wieder hinaus auf die Wiesen laufen und mit den drei Sepps und all den anderen spielen würde, kaum erwarten. Aber in der großen Küche am Tisch zu sitzen und Tante Hannahs Hefesemmeln in sich hineinzustopfen, war auch schön. Und nachher würde er in seinem Bett unter der Dachschräge liegen, zugedeckt mit der riesigen Bettdecke, und die Bilderalben anschauen, die Onkel Hans ihm gegeben hatte. Da gab es eines mit Schiffen und eines mit wilden Tieren, und die Bilder hatte Onkel Hans alle selbst gesammelt und eingeklebt.
»Als ich ein Junge wie du war, Paul. Zigarettenbildchen. Mein Vater, der Opa, hat sie alle für mich aufgehoben, und jetzt gehören sie dir, weil du jetzt unser Junge bist.«
Wach zu werden, weil sich der Geruch vom Holzfeuer nach oben schlich und den Duft von Hefeteig mit sich zog, war so wunderbar, dass Paul sofort aus dem Bett sprang. Bei der Ziehfrau, zu der ihn seine Mutter gegeben hatte, wollte er selbst aus dem klammen Gitterbett nie raus in die Kälte. Es wartete ja doch nur immer leicht angebrannter Haferbrei auf ihn und die anderen vier Ziehkinder.
Als Paul um die Ecke linste, lächelte Tante Hannah und schob das Blech in den Ofen. Paul sah genau hin und glaubte zu erkennen, wie sie die Lippen bewegte, um »Abrakadabra« zu murmeln. Wenn sie gleich das Blech wieder herauszog, würden aus den Teigbällen Semmeln geworden sein, die goldbraun glänzten, außen knusprig und innen so weich, dass er sie mit der Zunge zerdrücken konnte.
»Hast du dir die Hände gewaschen?«
Paul nickte. Das war zwar nicht ehrlich, aber es sparte Zeit.
»Schön, schön«, sagte Tante Hannah. »Warum setzt du dich dann nicht schon mal hin und probierst deine Milch?«
Mit einem Nicken wies sie nach dem Tisch, an dem ihre Tochter Lisa bereits vor einer großen Tasse Milch saß. Vor Pauls Platz stand ebenfalls eine. Die Tassen waren so schwer, dass er sich gehörig anstrengen musste, um sie in die Höhe zu stemmen, und die Milch darin dampfte, nicht weil sie gekocht war, sondern weil sie so frisch und warm aus dem Euter der Kuh herausgeschossen kam. Sie war sahnegelb und viel dicker und süßer als die, die er in der Fuggerei bekommen hatte, und wenn er sie noch ein bisschen süßer haben wollte, durfte er sich aus dem braunen Topf in der Tischmitte Honig hineinlöffeln.
»Nimm nur, nimm nur«, sagte Tante Hannah. »Müssen doch zusehen, dass du armes Hascherl was auf die Knochen kriegst.«
Das Leben war süß. Honigsüß. In die Milch würden sie nachher die Hefesemmeln tauchen, und wenn Onkel Hans zur Vesper kam, würde er sich zu ihnen setzen und irgendetwas Lustiges erzählen. Onkel Hans war Straßenbaumeister und brachte von den Bauern oft Hausgemachtes mit. Köstlichkeiten, die ins Schlaraffenland passten. Abends, an besonderen Tagen, holte er seine Gitarre und sang dazu mit einer Stimme, die Paul so schön fand, dass es ihm abwechselnd heiß und kalt über den Rücken lief. Dann setzte sich die Tante und strahlte ihren Hans an. Sie war schön, wenn sie glücklich war, fand Paul. Mit ihren roten Wangen und den blonden Haaren, die sich in der Hitze kräuselten.
Diese Abende, wenn Onkel sang und Tante hübsch aussah und er und Lisa ein bisschen länger aufbleiben durften, mochte Paul am liebsten. Noch summend vor Energie, frisch vom Stoppelkrieg auf den Feldern, mit dürftig gebürsteten Fingern und ordentlich zerstochen von den Stoppeln setzte Paul sich über Eck neben Lisa, trank von seiner Milch und wünschte sich, dass heute einer von diesen Abenden sein würde.
Die Küchentür schwang auf, Onkel Hans kam herein, fasste seine Hannah um die Mitte und drückte ihr einen Kuss aufs Gesicht. Wohin genau, bekam Paul nicht zu sehen, obwohl ihn solche Dinge brennend interessierten. Er sah etwas müde aus, hatte aber offensichtlich gute Laune. Den Grund zog er aus dem ledernen Tornister. Ein prächtiger Hase, das Fell bereits abgezogen. »Vom Huberbauern, frisch geschossen. Das der noch was trifft in seinem Dauerrausch!«
Er wandte sich wieder Tante Hannah zu, die die goldbraunen duftenden Semmeln vom Blech in einen Korb schüttete und mit der anderen Hand ein Stück gelber Butter in eine Pfanne gleiten ließ, um irgendetwas Schlaraffiges, Wurschthimmeliges, das ihnen in den Mund fliegen würde, darin auszubraten. Tante Hannah war wirklich eine Zauberin: Sie sah aus, als hätte sie nur zwei Hände wie andere Leute, aber so wie sie herumwirbelte und alles gleichzeitig warm auf den Tisch stellte, musste sie mindestens acht haben. Schüsseln und Teller flogen geradezu auf ihre Plätze. Die Oma, der Opa und Onkel Adi, »der andere Onkel«, kamen zur Tür hereingetrottet, alle setzten sich, und gleich darauf begannen die Löffel auf dickem Porzellan zu klappern.
»Lasst es euch schmecken.«
Paul liebte das. Er konnte gar nicht genug Menschen um sich herum haben. Menschen, die durcheinanderredeten, lachten, kauten, sich gegenseitig das Salzfass, die Butterdose, den Semmelnkorb unter den Fingern wegschnappten und in einer Weise, die nicht erklärt werden musste, zu ihm gehörten. Die Kinder stießen mit ihren Milchtassen, die Männer mit Bierkrügen und die Oma mit einem Stamperl voll gelber Flüssigkeit an. Tante Hannah trank nichts. Sie sah erschöpft und immer noch hübsch aus, und sie lächelte Paul an. Das war das Schönste. Dieses kleine Lächeln, das von den anderen keiner bemerkte und das sie und ihn zu Verschwörern machte.
»Können wir heute nach dem Essen singen, Onkel Hans?«, fragte Paul.
»Singen?« Der Onkel wischte sich über den Mund, was eine glänzende Butterspur auf seinem Handrücken zurückließ. »Gehört ihr kleinen Kröten um die Zeit denn nicht ins Bett? Und selbst wenn nicht – habt ihr nichts Besseres zu tun, als mit uns Alten herumzusitzen und vergessene Kamellen zu trällern? Nein? Na, was soll man dazu sagen?«
Paul sagte nichts, sah nur den Onkel unverwandt an, während er sich unter dem Tisch mit aller Kraft selbst die Daumen drückte.
»Na, wenn du’s so gern möchtest«, gab der Onkel schließlich nach. »Warum eigentlich nicht?« Er grinste und boxte Paul so sanft, dass dieser es kaum spürte, auf den Arm.
Pauls Herz vollführte einen kleinen Satz. Auf ein Lied,...