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E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Brand / Altmeyer / Bauer Abschiedsrituale im stationären Hospiz
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-046002-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Positive Emotionalisierung von Trauer
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-17-046002-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Laura Brand ist Vikarin der Evangelischen Kirche im Rheinland. Sie wurde im Fachbereich Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum promoviert.
Autoren/Hrsg.
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Einführender Teil
1. Einleitung
Rituale und Ritualisierungen haben in der Moderne an Bedeutung gewonnen. Während Rituale lange Zeit als statisch oder sinnentleert galten, wird ihnen gegenwärtig eine wachsende Aufmerksamkeit zuteil. Die Zahl an Ritualanbietern steigt, die Ritualpraxis innerhalb und außerhalb der christlichen Kirchen wird »immer bunter, individueller, beweglicher, teilweise auch schriller«1. Insbesondere in Grenzsituationen im Kontext von Sterben, Tod und Trauer wird Ritualen eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Paradigmatisch zeigt sich dies in Handlungsempfehlungen zur Sterbe- und Trauerbegleitung im Rahmen von Palliative Care.2
An- und Zugehörige von Patient*innen werden hier explizit in den ganzheitlichen Versorgungsauftrag, bei dem auch spirituelle Aspekte der Sorge systematisch mit berücksichtigt werden, einbezogen. In den Leitsätzen für die Hospizarbeit, die Teil der Palliative Care ist,3 wurde bei einer Mitgliederversammlung am 5.10.2007 vom Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) formuliert, dass schwerstkranke und sterbende Menschen ebenso wie deren An- und Zugehörige »gleichermaßen Aufmerksamkeit, Fürsorge und Wahrhaftigkeit«4 bedürfen. »Zur Sterbebegleitung gehört im notwendigen Umfang auch die Trauerbegleitung«5. Im stationären Hospiz konzentriert sich diese vor allem auf die perimortale Situation. Für die Phase unmittelbar nach dem Tod wird hier die besondere Bedeutung von Ritualen geltend gemacht.6
Da aber in der Gegenwart nicht mehr ohne weiteres auf christliche Rituale zurückgegriffen werden kann, erscheint eine empirische Untersuchung der Abschiedsrituale im stationären Hospiz umso wichtiger. Die vorliegende Studie verfolgt dabei ein poimenisches Erkenntnisinteresse. Ihr geht es um eine praxisnahe Darstellung und Beschreibung der Gestalt, Wirkung und Funktion der Abschiedsrituale im stationären Hospiz sowie um eine seelsorgetheoretische Reflexion dieser Praxis. Die zentrale Fragestellung, die dieser Studie zugrunde liegt und bewusst offen formuliert ist, lautet: Welche Bedeutung haben Abschiedsrituale im Hinblick auf die Trauerbegleitung im stationären Hospiz?7
2. Forschungsstand
Das Interesse an Ritualen ist nicht nur in der Seelsorgetheorie und -praxis in jüngster Zeit gestiegen. Die positive Wirkung von Ritualen wird indes von unterschiedlicher Seite betont. In Lifestyle-Zeitschriften ebenso wie in Trauer-Ratgebern und Fachbüchern wird sie häufig thematisiert. Dort finden sich zum Teil auch konkrete Hinweise zur Ritualgestaltung. Rituale und der Begriff des »Rituals« sind darüber hinaus Forschungsgegenstand verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen. Die »Vitalität und Vielfalt von Ritualen und Ritualdiskursen in unserer heutigen Welt«8 ist insofern bemerkenswert, als Rituale aus wissenschaftlicher Sicht lange Zeit »als starr und eintönig oder beinahe unwesentlich und unwichtig«9 angesehen wurden. In der Praktischen Theologie kam es erst in den 1970er Jahren zu einem Gegentrend und einer Wiederentdeckung von Ritualen. Mit seiner Monographie »Symbol und Ritual«10 leistete Werner Jetter einen wesentlichen Beitrag. Nicht nur in der Kasualtheorie, Liturgik und Poimenik als Bereiche der Praktischen Theologie, sondern auch in den Kirchen und damit in der konkreten religiösen Praxis erfuhren Rituale in der Folgezeit eine wachsende Aufmerksamkeit.
Obwohl Ritualen gegenwärtig von unterschiedlicher Seite besondere Bedeutung zugeschrieben wird, »ist die Ritualpraxis als eine öffentlich geteilte Praxis erschüttert.«11 Traditionell kirchlich-liturgische Feiern verlieren an Relevanz, überarbeitete Agenden versuchen den Akteur*innen mehr Handlungsspielräume zu bieten, die Ritualpraxis sowohl im inner- wie außerkirchlichen Bereich pluralisiert sich.12 Ein besonders deutlicher Rückgang traditionell kirchlicher Rituale zeigt sich im Kontext von Trauer in der Zeit zwischen Tod und Bestattung: »Vielfach ist beklagt worden, dass die Praxis der Aussegnung im Sterbehaus (der Familie), traditionell die erste Station des Bestattungsweges, in der Moderne zurückgegangen und zumindest im urbanen Kontext weitgehend verlorengegangen ist.«13
Die Hospize werden in diesem Zusammenhang »auch als Kompensationsinstitutionen für die ›rituelle Leere‹ am Ende des modernen Lebens angesehen […], als Versuche, die in traditionellen Kulturen vorhandenen rites de passage (Übergangsrituale) in eine zeitgemäße Form zu bringen.«14 Die vorliegende Studie schließt an diese Beobachtung an. Sie will die rituelle Praxis am Lebensende im stationären Hospiz qualitativ-empirisch mit einem poimenischen Erkenntnisinteresse erforschen. Es geht ihr nicht um die Überprüfung einer bereits bestehenden Theorie in der Praxis, sondern darum, die konkrete rituelle Praxis der Akteur*innen »vor Ort hinsichtlich der Eigenlogiken dieser Akteure«15 zu untersuchen und zu interpretieren.
Zwar liegen einzelne empirische Untersuchungen in Hospizeinrichtungen vor, die sich mit sozialen Aspekten des Sterbens, der professionellen Praxis der Sterbebegleitung der Hospizmitarbeiter*innen sowie organisationsspezifischen Zielen, Legitimationsbedürfnissen und Eigenlogiken des Hospizes befassen.16 Dabei finden sich sowohl deskriptive als auch kritische Darstellungen. Letztere befassen sich vor allem mit einer Kritik am Ideal des »guten« Sterbens.17 Eine empirische Studie, die konkret untersucht, welche Rituale als eine Form der perimortalen Trauerbegleitung im Hospiz tatsächlich praktiziert werden und wie sie von denen, die sie anbieten, wahrgenommen, interpretiert und reflektiert werden, liegt bislang jedoch nicht vor.
Da diese Arbeit mit ihrem poimenischen Erkenntnisinteresse, Abschiedsrituale als eine Form der perimortalen Trauerbegleitung im stationären Hospiz aus evangelisch-theologischer Perspektive zu erforschen, im Bereich der Praktischen Theologie zu verorten ist, ist insbesondere der Forschungsstand in diesem Bereich darzustellen. Mit seiner Habilitationsschrift »Der Prozeß des Trauerns« legte Yorick Spiegel 1973 eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit Trauer vor, die den Anspruch hat, »die vorhandenen Materialien zur Theorie der Trauer, zum Trauerprozeß, zur Bewältigung der Trauer und zur therapeutischen Beratung von Trauernden in einer integrativen Studie systematisch aufzuarbeiten.«18 Kerstin Lammer folgte 2003 mit ihrer Dissertation »Den Tod begreifen – Neue Wege in der Trauerbegleitung«19. Ein Jahr später veröffentlichte sie ihre Monographie »Trauer verstehen«20, die ebenso wie die beiden zuvor genannten Untersuchungen keine empirische, sondern eine Aufarbeitung bereits vorliegenden Materials darstellt.
Veröffentlichungen von praktisch-theologischer Seite, die sich mit Ritualen in der Trauerbegleitung im Kontext von Spiritual und Palliative Care beschäftigen, finden sich z.?B. bei Traugott Roser, Karoline Labitzke, Thomas Fries und Erhard Weiher.21 Zusammen mit dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio veröffentlichte Traugott Roser zudem einen Artikel, in dem er sich auf eine »empirische Erhebung zu seelsorglichen Dienstleistungen in acht Hospizen und Palliativstationen«22 bezieht. Auf Grundlage der Daten stellen Roser und Borasio fest, dass »[r]ituelle Handlungsformen […] vor allem in den Gesprächssituationen [überwiegen], in denen Patient und Angehörige gemeinsam anwesend sind (72,4%)«23.
Auseinandersetzungen mit Ritualen in der Seelsorgetheorie finden sich z.?B. bei Isolde Karle, Christoph Morgenthaler und Michael Klessmann.24 Eine empirisch orientierte Seelsorgeforschung hat sich in der Praktischen Theologie erst in der jüngsten Vergangenheit entwickelt: Einige empirische Studien zur Seelsorge beschäftigen sich mit Erwartungen und der »Zufriedenheit mit Seelsorge«25 insbesondere im Kontext der Krankenhaus-Seelsorge. Fast alle »erheben ausschließlich die Adressat_innen-Perspektive«26 und nur wenige beziehen die Anbieter*innen-Perspektive mit ein. Zudem gibt es »kaum empirische Studien und Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Seelsorge«27, so Kerstin Lammer. Bei den wenigen empirischen Studien im deutschsprachigen Raum zur Seelsorge finden sich sowohl quantitative als auch qualitative Untersuchungen ebenso wie eine Kombination aus beiden. Methodisch wird bei den qualitativen vor allem auf Interviews zurückgegriffen. Empirische Seelsorgeforschung, die sich einer ethnografischen Strategie bedient, ist die Ausnahme.28
Obwohl die »Begegnung mit sterbenden und trauernden Menschen […] zu den Kernaufgaben der Seelsorge«29 gehört, zeigt sich ein weiteres Desiderat in der seelsorglichen Begleitung An- und Zugehöriger im Sterbeprozess sowie unmittelbar nach dem Tod des oder der anderen. »Zu wenig sind bislang in der Forschung die Handlungsformen seelsorglicher Begleitung von Angehörigen in der Sterbephase untersucht worden«30, betont beispielsweise Traugott Roser. Während die Auseinandersetzung mit der kirchlichen Bestattungspraxis in der Praktischen Theologie bereits zu einem umfassenden Literaturkorpus geführt hat, ist die Phase zwischen Tod und Bestattung aus poimenischer Perspektive bislang weitestgehend unberücksichtigt. Die vorliegende Studie widmet sich diesem Desiderat, indem sie Abschiedsrituale als eine Form der perimortalen Trauerbegleitung im stationären Hospiz empirisch untersucht.
3. Forschungsanliegen und Vorgehensweise
Durch vielfältige Veränderungsprozesse und die tendenzielle Verlagerung des Sterbeortes vom familiären Umfeld in Einrichtungen des Gesundheitswesens ist in der modernen...