E-Book, Deutsch, Band 16, 540 Seiten
Reihe: Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung
Brait Museumsbesuche im Geschichtsunterricht
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7065-6438-0
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine empirische Studie zum historischen Lernen im Zuge von Besuchen der österreichischen Landesmuseen
E-Book, Deutsch, Band 16, 540 Seiten
Reihe: Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung
ISBN: 978-3-7065-6438-0
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrea Brait, PD MMag. Dr., lehrt und forscht am Zentrum für Kulturen und Technologien des Sammelns der Universität für Weiterbildung Krems. Zu ihren Forschungsschwerpunkten in der Geschichtsdidaktik zählen außerschulische Lernorte, insbesondere Museen, sowie die digitale Geschichtskultur.
Autoren/Hrsg.
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2. Geschichtsdidaktische Theorien und normative Vorgaben1
2.1 Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur
Geschichte wurde lange als Fach verstanden, in dem ein gewisser Kanon an historischen Daten und Fakten auswendig gelernt werden sollte.2 Dies änderte sich jedoch ab Mitte der 1970er-Jahre. Im Sinne eines gemäßigten Konstruktivismus3 wurde historisches Lernen als „Prozess, bei dem ein jeweils individuelles Bild der Vergangenheit entsteht“, definiert.4 Jörn Rüsen beschrieb diesen als „Sinnbildung über Zeiterfahrung durch historisches Erzählen“.5
Historisches Lernen definierte er als einen „Vorgang des menschlichen Bewußtseins, in dem bestimmte Zeiterfahrungen deutend angeeignet werden und dabei zugleich die Kompetenz zu dieser Deutung entsteht und sich weiterentwickelt.“6 Martin Lücke und Irmgard Zündorf folgend, geht es darum, „sich die Erfahrungen von Wandel in der Vergangenheit durch historisches Erzählen produktiv anzueignen.“7 Historisches Lernen beschreibt demnach einen „Denkstil“,8 der dazu beitragen soll, „dass der bzw. die Lernende […] historisch[e] Narrationen konstruieren und dadurch sein bzw. ihr Geschichtsbewusstsein – auch auf selbstreflexiver Basis – ausdifferenzieren kann.“9 Das Ziel des historischen Lernens besteht demnach nicht im bloßen Ansammeln von Wissen, sondern in der Förderung der „Fähigkeit historischen Denkens“.10 Diese grundlegenden Definitionen sind in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik allgemein anerkannt und bilden die Basis für die in Österreich gültigen Lehrpläne der Sekundarstufe, weshalb sie für die vorliegende Studie zentral sind.
Der an die Grundüberlegungen von Rüsen aus den 1970er-Jahren anschließende Diskurs führte zur Etablierung der Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin innerhalb der Geschichtswissenschaften.11 Die Geschichtsdidaktik überwand in dieser Zeit ihre
„Beschränkung auf den Status einer reinen Schul oder Unterrichtsfachdidaktik, deren Aufgabe nur allzu oft darin bestanden hatte, einen überlieferten oder verordneten Kanon bewährter oder ideologisch erwünschter Inhalte mit möglichst großem methodischen Geschick in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler zu transportieren.“12
Als „Gründungsurkunde der wissenschaftlichen Disziplin Geschichtsdidaktik“13 können – zumindest für den deutschsprachigen Raum – die von Karl-Ernst Jeismann am Mannheimer Historikertag 1976 präsentierten Ausführungen und seine Definition des „Geschichtsbewusstseins“ gelten, die bis heute grundlegend und gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner aller seither entwickelten – und teilweise konkurrierenden – Theorien (insbesondere der verschiedenen Kompetenzmodelle) sind:
„Didaktik der Geschichte hat es zu tun mit dem Geschichtsbewußtsein in der Gesellschaft sowohl in seiner Zuständlichkeit, den vorhandenen Inhalten und Denkfiguren, wie in seinem Wandel, dem ständigen Um- und Aufbau historischer Vorstellungen, der stets sich erneuernden und verändernden Rekonstruktion des Wissens von der Vergangenheit. Sie interessiert sich für dieses Geschichtsbewußtsein auf allen Ebenen und in allen Gruppen der Gesellschaft sowohl um seiner selbst willen wie unter der Frage, welche Bedeutung dieses Geschichtsbewußtsein für das Selbstverständnis der Gegenwart gewinnt; sie sucht Wege, dieses Geschichtsbewußtsein auf eine Weise zu bilden oder zu beeinflussen, die zugleich dem Anspruch auf adäquate und der Forderung nach Richtigkeit entsprechende Vergangenheitserkenntnis wie auf Vernunft des Selbstverständnisses der Gegenwart entspricht. Dabei ist der Begriff ‚Geschichtsbewußtsein‘ hier in einem sehr allgemeinen Sinne als das Insgesamt der unterschiedlichen Vorstellungen von und Einstellungen zur Vergangenheit genommen.“14
Damit war eine bis heute „zentrale Kategorie“15 der Geschichtsdidaktik begründet,16 die später durch die von Hans-Jürgen Pandel beschriebenen Dimensionen17 weiter ausdifferenziert wurde, welche mittlerweile mehrfach infrage gestellt und erweitert bzw. adaptiert wurden,18 wie auch der theoretische Zugang insgesamt immer wieder kritisiert wird.19 So weist Susanne Popp darauf hin, dass auf „dem Weg über das Geschichtsbewußtsein, das die politisch-historische Identität mitbestimmt, […] der gegebene Herrschaftsanspruch als historisch legitimer und damit zustimmungsfähiger in Individuen und Gruppen mental verankert werden“20 soll. Bärbel Völkel gibt zu bedenken:
„Geschichtsbewusst zu sein im Sinne von sinnbildender Zeiterfahrung bedeutet […] stets auch, ethnozentrisch zu denken. Man kann es sogar noch stärker zuspitzen: Wenn es das Ziel des Geschichtsunterrichts ist, Geschichtsbewusstsein als Sinnbildung über Zeiterfahrung zum Gegenstand des historischen Lernens und Denkens zu machen, dann ist gleichzeitig Ethnozentrismus zentraler Gegenstand unseres Geschichtsunterrichts.“21
Der Ansatz ist dennoch in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik nach wie vor weit verbreitet, wird auch international breit diskutiert,22 fand Eingang in curriculare Vorgaben und mit einer gewissen Verzögerung setzten auch empirische Forschungen ein, die sich auf diese Theoriegrundlage stützten.23 „Der Reiz und der Erfolg des Begriffs ‚Geschichtsbewusstsein‘ lag und liegt vermutlich nicht zuletzt in seiner Offenheit und in seiner großen Reichweite“24, wie Michael Sauer betont. Ungeachtet verschiedener Definitionen herrscht Konsens über das Verständnis des Geschichtsbewusstseins als ein über „bloßes Wissen oder reines Interesse an der Geschichte“ hinausgehendes Phänomen, das auf „den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“25 abzielt.
Das von Jeismann beschriebene Geschichtsbewusstsein hat aber nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Dimension.26 Damit war also von Beginn an die „Geschichtskultur“ inkludiert,27 wenngleich der Begriff erst Ende der 1980er-Jahre von Rüsen im geschichtsdidaktischen Diskurs verankert wurde,28 um kollektive Zugänge zur Geschichte zu beschreiben.29 Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein stark gestiegenes gesellschaftliches Interesse an historischen Themen zu beobachten,30 das sich etwa im Erfolg großer Geschichtsausstellungen zeigte,31 weshalb es nicht verwundert, dass die Beschäftigung mit dem außerschulischen Geschichtslernen von der Geschichtsdidaktik als bedeutender eingestuft wurde.32 Die Geschichtsdidaktik versteht sich seitdem nicht mehr als eine hauptsächlich auf das Schulfach Geschichte ausgerichtete Disziplin.33
Die Verwendung des Begriffs „Geschichtskultur“ wurde von Rüsen im Zusammenhang mit historischen Museen vorgeschlagen, um jenen „Bereich der Lebenspraxis“ zu umschreiben, „in dem historische Museen34 angesiedelt sind und wirken. Geschichtskultur ist der durch Geschichtsbewußtsein entscheidend geprägte Teil der Kultur“.35 Wenig später folgten von Rüsen noch genauere Überlegungen, u. a. im dritten Band seiner Historik, wo es heißt:
„Mit diesem Ausdruck soll deutlich werden, daß das spezifisch Historische im kulturellen Orientierungsrahmen der menschlichen Lebenspraxis einen eigenen und besonderen Ort hat. […] Geschichtskultur ist […] mehr als und Anderes als die Domäne der von der Geschichtswissenschaft verwalteten Erkenntnis in der praktischen Verwendung historischen Wissens. […] Mit dem Terminus ‚Geschichtskultur‘ soll die von der Wissenschaft kultivierte kognitive Seite der historischen Erinnerungsarbeit systematisch mit der politischen und ästhetischen Seite der gleichen Arbeit verbunden werden.“36
In der Folge beschrieb Rüsen Geschichtskultur ganz allgemein als „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft“,37 nannte unterschiedliche Institutionen, wie Museen, Universitäten, Massenmedien usw., als Träger38 und meinte in der 2013 überarbeiteten Gesamtdarstellung seiner Historik, dass es sich bei der Geschichtskultur um den „Inbegriff der Sinnbildungsleistungen des menschlichen Geschichtsbewusstseins [handelt]. Sie umfasst die kulturellen Praktiken der Orientierung des menschlichen Leidens und Handelns in der Zeit.“39 Rüsen versuchte also, die Dichotomie zwischen geschichtswissenschaftlichen und lebensweltlichen Bezugnahmen auf die Vergangenheit zu überwinden, was mittlerweile eingehend diskutiert wurde;40 kritisch gesehen wird etwa die anthropologische Fundierung seines Konzepts.41
Der von Rüsen artikulierte Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur wird auch von Pandel beschrieben, der Geschichtskultur definiert als
„die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte umgeht. Sie ist eine Produktion von Sinnbildungsangeboten, die sich auf Geschichte...