E-Book, Deutsch, 270 Seiten
Braig Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7438-5335-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-7438-5335-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nachdem der Vater der dreizehnjährigen Shirin in Afghanistan beim Minensuchen tödlich verunglückt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Als 'Teejunge' muss sie nun auf dem Basar von Herat Geld verdienen, anstatt wie bisher die Schule zu besuchen. Hier trifft sie den 'Dancing Boy' Faruk, der ihr seine traurige Geschichte erzählt. Die beiden werden Freunde, und als sich das Schicksal wendet, machen sie sich zusammen auf den Weg in ein neues Leben.
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Shirin
Shirin war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Heute war ein guter Tag, die Lehrerin hatte sie sehr gelobt, weil sie den besten Aufsatz der Klasse geschrieben hatte. Shirin beeilte sich, sie wollte möglichst schnell nach Hause kommen, um den Eltern davon zu berichten. Sie würden sich sehr freuen, das wusste Shirin, denn ihnen war wichtig, dass ihre Tochter die Schule besuchte und gut lernte. „Nur wer eine gute Schulbildung besitzt, kann später über sein Leben selbst bestimmen“, das bekam Shirin immer wieder von Vater und Mutter zu hören. Beide hatten als Kinder noch ein ganz anderes Afghanistan erlebt, als Shirin es heute kannte. Manchmal zweifelte Shirin an diesem Lieblingssatz der Eltern, denn schon die Großeltern hatten beide die Hochschule besucht und waren schließlich doch nicht in der Lage gewesen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Shirin konnte sich nur schwach an sie erinnern, erst war der Großvater, ein paar Jahre später die Großmutter gestorben. Bis zuletzt hatten sie gehofft, es kämen wieder andere Zeiten und der Großvater, der bei der Regierung in Ungnade gefallen war, könnte zurück an die Hochschule und die Großmutter könnte wieder als Lehrerin arbeiten und ohne Burka auf die Straße gehen. Aber sie hatten den Wandel nicht mehr erlebt. Shirins Vater hatte zwar ebenfalls studiert, aber als Sohn seines missliebigen Vaters keine entsprechende Stelle bekommen, und arbeitete mal hier und mal dort, um mit seiner Familie eher schlecht als recht über die Runden zu kommen. Die Mutter war in Zeiten groß geworden, als Mädchen keine öffentlichen Schulen besuchen durften. Im Geheimen hatten Lehrerinnen bei sich zu Hause unterrichtet und dort hatte auch Shirins Mutter eine einigermaßen gute Schulbildung bekommen, aber eine Ausbildung hatte sie nicht machen können, an ein Studium war gar nicht zu denken. Es war nicht immer so gewesen in Afghanistan. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Jungen und Mädchen gemeinsam zur Schule gingen, in denen Männer und Frauen studieren konnten und anschließend in ihren gewählten Berufen arbeiteten, so hatten die Eltern erzählt. Allerdings hatte es immer schon große Unterschiede zwischen dem Leben in den großen Städten und dem auf dem Land gegeben. In den Dörfern, erst recht in solchen, die weit weg von den großen Zentren oder in den Bergen angesiedelt waren, mussten die Kinder meist arbeiten, anstatt zur weit entfernten Schule zu gehen, und die Menschen erfuhren weniger vom Weltgeschehen als in der Stadt. Hier hatten die Frauen immer schon weniger Rechte und weniger Wert als die Männer. Dann kam die sowjetische Invasion in Afghanistan. Soldaten aus der Sowjetunion, einem Land, das es heute gar nicht mehr gab, waren gekommen und hatten die Macht übernommen. Auch in dieser Zeit war nicht alles gut gewesen, denn Krieg bedeutet immer Unrecht und Gewalt, und zu leiden haben am meisten die, die an den militärischen Auseinandersetzungen gar nicht beteiligt sind. Aber die sowjetischen Soldaten hatten versucht, den Menschen auf dem Land Lesen und Schreiben beizubringen und wer es sich leisten konnte, durfte weiterhin eine gute Ausbildung machen oder studieren. Männer genauso wie Frauen. In den großen Städten galten die Frauen fast so viel wie die Männer. Fast nur – aber immerhin hatten sie viel mehr Möglichkeiten als heute. Dann kamen die Taliban, unterstützt von den westlichen Feinden der Sowjetunion, deren Ziel es war, mit Hilfe dieser einheimischen Rebellen die sowjetische Armee aus dem Land zu werfen und selbst an Einfluss zu gewinnen. Aber dann hatten die Taliban ihre ausländischen Unterstützer nicht mehr gebraucht und allein die Macht in Afghanistan übernommen. Die Sowjets mussten das Land verlassen, es kam zum Bürgerkrieg, den Frauen wurden alle Rechte genommen und nur ganz mutige Familien schickten ihre Töchter in geheime Schulen. Schule gab es laut Gesetz nur für Jungen, die Mädchen und Frauen hatten zu Hause zu bleiben und den Männern zu dienen. Viele Jahre überdauerte die Herrschaft der Taliban, dann kam der nächste große Krieg, weil das ganze Land dafür bestraft werden sollte, dass ein paar wenige Terroristen, deren Drahtzieher in Afghanistan vermutet wurden, in Nordamerika Anschläge verübt und sehr viele Menschen getötet hatten. Die meisten Menschen in Afghanistan verstanden nicht, was sie damit zu tun hatten, und viele von ihnen kamen in einem Krieg ums Leben, den sie nicht gewollt hatten, der von den Angreifern aber Befreiungskrieg genannt wurde. Die Taliban sollten verjagt werden, weil sie angeblich die Hintermänner der Anschläge versteckten, so hieß es. Und die Menschen in Afghanistan sollten von der Unterdrückung durch die Taliban und die Frauen von der Unterdrückung durch die Männer und den alltäglichen Ungerechtigkeiten befreit werden. Das alles war schwer zu verstehen, fand Shirin. Sie sollten zugleich bestraft und befreit werden, und viele starben, obwohl sie nie jemandem etwas zuleide getan hatten. Aber das waren Erwachsenendinge, die musste sie schließlich auch nicht verstehen. Da die Menschen in Afghanistan nichts gegen die Bomben und Minen und die Angriffe der fremden Soldaten tun konnten, hatten sie versucht, an die Befreiung zu glauben und viele, die die besseren Zeiten noch erlebt oder deren Eltern ihnen davon erzählt hatten, hatten sich erhofft, dass nun wenigstens bald alles wieder so sein würde, wie in den guten Zeiten Afghanistans. Leider war das so nicht eingetroffen. Viele Warlords (Kriegsherren, die über einzelne Regionen herrschen) hatten zwar die Seiten gewechselt, nicht aber ihr Verhalten. Sie unterstützten nun zwar nicht mehr die Taliban, sondern standen auf Seiten der westlichen Befreier, ansonsten hatte sich aber nichts verändert. Die Warlords besaßen weiterhin die Macht und nutzten dies gründlich aus. Allerdings war es den Mädchen jetzt wieder erlaubt, öffentliche Schulen zu besuchen – wenn die Familien sich das leisten konnten und wenn es die Umstände und die Eltern und Großeltern erlaubten und die Taliban, die in manchen Regionen des Landes immer noch die Macht besaßen, fern waren. Bei Shirin war das der Fall, und sie freute sich darüber. Shirin liebte es, zur Schule zu gehen. Sie lernte gerne und mochte es, nicht immer zu Hause sitzen, sondern sich mit anderen Mädchen zu treffen, mit ihnen zu lernen und zu spielen. Bald wäre sie alt genug, um die Burka tragen zu müssen, wenn sie das Haus verließ. Das war zwar nicht mehr Vorschrift wie früher, aber ihre Mutter würde sie aus Sorge um die Sicherheit der Tochter nicht ohne aus dem Haus gehen lassen, wenn ihr Körper erst einmal die äußerlichen Anzeichen einer Frau entwickelte. Immer noch liefen Frauen ohne Burka Gefahr, von Männern angegriffen und belästigt zu werden. Viele Männer wollten nicht einsehen, dass Frauen gleiche Rechte haben sollten wie sie selbst, nur weil jetzt andere Regeln galten, die sie nicht selbst gemacht hatten, sondern die ihnen durch einen Krieg von außen aufgezwungen wurden. Mit Gewalt sollte ihnen klar gemacht werden, dass sie keine Gewalt gegenüber Frauen ausüben durften, so erlebten sie den Wandel in der Gesellschaft und viele wehrten sich dagegen, und Frauen ohne Burka lebten weiterhin in ständiger Gefahr. Shirin war wild entschlossen, die Zeit ohne Burka so lange wie möglich zu genießen, aber sie würde auch mit ihr zur Schule gehen, wenn es eben nicht anders ging, das stand für sie fest. Der Schulweg war weit. Shirin musste früh morgens zu Fuß vom Dorf, in dem ihre Familie lebte, in das nächste, ein wenig größere Dorf, in dem sich die Schule befand, gehen, und am Nachmittag wieder zurück. Aber nun hatte sie es bald geschafft, sie sah schon die Dächer ihres Dorfes in der Sonne funkeln. Irgendetwas war komisch, so schien es ihr, als sie sich dem Haus näherte, in dem sie zusammen mit Vater und Mutter und den beiden kleinen Schwestern lebte. Eigentlich sah alles aus wie immer, aber doch lag etwas Beunruhigendes in der Luft. Als Shirin die Haustür öffnete, hörte sie ihre Mutter weinen und die Tante beruhigend auf sie einreden. Shirin erschrak. Die Tante wohnte nicht hier und kam nur ganz selten zu Besuch. Als sie ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf die beiden kleinen Mädchen, die still und mit großen Augen in der Ecke auf dem Teppich saßen. Ihre kleinen Schwestern tobten sonst fast ohne Unterbrechung im Haus herum, bis die Eltern sie hinausschickten. Dann machten sie ihrer anscheinend grenzenlosen Energie im Freien Luft. Die beiden so still und regungslos zu sehen, jagte Shirin einen riesigen Schrecken ein. „Was ist los?“, fragte sie, aber Nila und Nesrin saßen nur stumm da und starrten Shirin mit angstvollen Augen an. Dann fiel Shirins Blick auf die Mutter, die auf ihrer Schlafmatte lag und abwechslungsweise vor sich hin schluchzte oder laut jammerte und schrie. „Mutter“, wollte Shirin rufen, aber die Stimme versagte ihr. Dennoch hatte die Tante, die neben der Mutter am Boden kniete, sie bemerkt. Sie drehte sich um, sah Shirin an und erhob sich. „Shirin“, sagte sie ernst und leise und ging auf das Mädchen zu, um es in den Arm zu nehmen. Aber Shirin trat einen Schritt zurück. „Was ist passiert?“, fragte sie leise. „Wo ist Vater?“ „Du musst jetzt...