E-Book, Deutsch, 832 Seiten
Boyne Cyril Avery
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99096-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 832 Seiten
ISBN: 978-3-492-99096-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
John Boyne, geboren 1971 in Dublin, ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Autoren Irlands. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman »Der Junge im gestreiften Pyjama«, der weltweit zum Bestseller wurde und von der Kritik als »ein kleines Wunder« (The Guardian) gefeiert wurde.
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1945
Der Kuckuck im Nest
Die guten Menschen von Goleen
Lange bevor wir herausfanden, dass er zwei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen gezeugt hatte, einer in Drimoleague und einer in Clonakilty, stand Father James Monroe vor dem Altar der Kirche Unserer Lieben Frau, Stern des Meeres, der Gemeinde Goleen in West Cork und brandmarkte meine Mutter als Hure.
Die Familie saß in der zweiten Reihe, mein Großvater am Gang, wo er mit seinem Taschentuch die an die hölzerne Lehne vor ihm genagelte Bronzeplakette zum Gedenken an seine Eltern polierte. Er trug seinen Sonntagsanzug, den meine Großmutter am Abend zuvor erst aufgebügelt hatte. Sie ließ die Jaspisperlen ihres Rosenkranzes durch ihre verwachsenen Finger wandern und bewegte stumm ihre Lippen, bis er seine Hand auf ihre legte und ihr befahl aufzuhören. Meine sechs Onkel, das dunkle Haar feucht schimmernd von nach Rosenwasser duftender Pomade, saßen in nach Alter und Dummheit aufsteigender Ordnung neben ihr, jeweils zwei, drei Zentimeter kleiner als der nachfolgende ältere Bruder, was von hinten klar zu erkennen war. Die Jungs taten ihr Bestes, um wach zu bleiben, nachdem es am Vorabend in Skull einen Tanz gegeben hatte. Schwer angeschlagen waren sie nach Hause gekommen und hatten nur wenig schlafen können, bevor ihr Vater sie zum Kirchgang weckte.
Am Ende der Bank, unter der Schnitzerei der zehnten Station des Kreuzwegs, saß meine Mutter voll panischer Angst vor dem, was gleich kommen würde. Sie traute sich kaum, den Blick zu heben.
Die Messe begann wie immer, erzählte sie mir später, müde absolvierte der Priester die Eingangsrituale, und die Gemeinde sang gewohnt schief das Kyrie. William Finney, ein Nachbar meiner Mutter aus Ballydevlin, stieg aufgeblasen zur ersten und zweiten Lesung auf die Kanzel, räusperte sich direkt ins Mikrofon und betonte jedes Wort mit so dramatischer Eindrücklichkeit, als stände er auf der Bühne des Abbey Theatre. Father Monroe schwitzte sichtlich unter dem Gewicht seines Ornats und vor Wut, und nachdem die Gemeinde das Halleluja gesungen und er das Evangelium verkündet hatte, bedeutete er allen, sich zu setzen. Die drei rotbackigen Messdiener eilten zu ihrer Bank auf der Seite und tauschten aufgeregte Blicke. Vielleicht hatten sie in der Sakristei die priesterlichen Notizen gelesen oder gehört, wie Father Monroe seine Rede einübte, während er sich das Gewand über den Kopf zog. Vielleicht wussten sie auch nur, zu welcher Grausamkeit dieser Mann fähig war, und waren froh, dass sie sich an diesem Tag nicht gegen sie richten würde.
»Meine Familie lebt in Goleen, seit es Aufzeichnungen gibt«, fing Father Monroe an und sah auf einhundertfünfzig erhobene und einen gesenkten Kopf. »Einmal kam mir das fürchterliche Gerücht zu Ohren, dass mein Urgroßvater Verwandte in Bantry hätte, doch das hat sich zum Glück nicht bestätigt.« Ein dankbares Lachen der Gemeinde: Ein bisschen lokalpatriotische Bigotterie tat niemandem weh. »Meine Mutter«, fuhr er fort, »war eine gute Frau, sie liebte ihre Gemeinde. Sie ging ins Grab, ohne West Cork je verlassen zu haben, und sie hat es nie auch nur einen Moment bereut. ›Hier leben gute Menschen‹, hat sie mir immer gesagt. ›Gute, ehrbare, katholische Menschen.‹ Und nie, nie hatte ich Grund, daran zu zweifeln. Bis heute.«
Kurz wurde es unruhig in der Gemeinde.
»Bis heute«, wiederholte Father Monroe langsam und schüttelte traurig den Kopf. »Ist Catherine Goggin anwesend?« Er sah sich um, als hätte er keine Ahnung, wo sie sein könnte, obwohl sie seit sechzehn Jahren jeden Sonntagmorgen auf demselben Platz saß. Sofort drehten sich die Köpfe aller Männer, Frauen und Kinder in ihre Richtung, mit Ausnahme derer meines Großvaters und meiner sechs Onkel, die entschlossen nach vorn starrten, und meiner Großmutter, die ihren Blick in dem Augenblick senkte, als meine Mutter aufsah. Das Auf und Ab der Schande.
»Catherine Goggin, da bist du ja«, sagte der Priester, lächelte ihr zu und bedeutete ihr vorzutreten. »Komm her zu mir wie ein gutes Mädchen.«
Meine Mutter stand langsam auf und ging zum Altar, wo sie bisher nur die Kommunion empfangen hatte. Ihr Gesicht war damals nicht rot, erklärte sie mir Jahre später, sondern blass. Es war heiß in der Kirche, von der schwülen Sommerluft draußen und dem Atem der erregten Gemeinde, und sie fühlte sich unsicher auf den Beinen, hatte Sorge, sie könnte ohnmächtig werden, auf den Marmorboden fallen und dort verrotten als abschreckendes Beispiel für die anderen Mädchen in ihrem Alter. Nervös sah sie zu Father Monroe hin, fing kurz seinen bösartigen Blick auf und wandte sich gleich wieder ab.
»Als könnte sie kein Wässerchen trüben«, sagte der Priester und sah mit einem angedeuteten Lächeln auf seine Schäfchen hinab. »Wie alt bist du jetzt, Catherine?«, fragte er.
»Sechzehn, Father«, sagte meine Mutter.
»Sag es lauter. Damit dich auch die guten Leute hinten in der Kirche hören können.«
»Sechzehn, Father.«
»Sechzehn. Jetzt nimm den Kopf hoch und sieh dir deine Nächsten an. Deine Mutter und deinen Vater, die anständige, christliche Leben gelebt und ihren Eltern Ehre gemacht haben. Deine Brüder, die wir alle als gute, aufrechte junge Männer kennen, harte Arbeiter, die keine Mädchen auf Abwege bringen. Siehst du sie, Catherine Goggin?«
»Ja, das tue ich, Father.«
»Wenn ich dir noch einmal sagen muss, lauter zu sprechen, verpasse ich dir über den Altar hinweg eine Ohrfeige, und ich sage dir, nicht eine Menschenseele hier in der Kirche wird mir einen Vorwurf daraus machen.«
»Ja, das tue ich, Father«, sagte sie jetzt lauter.
»›Ja, das tue ich.‹ Das ist das einzige und letzte Mal, dass du in einer Kirche ›Ja‹ sagst, ist dir das klar, kleines Mädchen? Für dich wird es nie einen Hochzeitstag geben. Deine Hände greifen nach deinem fetten Bauch, wie ich sehe. Gibt es da ein Geheimnis, das du verbirgst?«
Ein kollektives Luftholen in den Bankreihen: Das war es, wovon die Gemeinde ohnehin ausgegangen war, was sonst hätte es sein können? Nur die Bestätigung hatte noch gefehlt. Blicke flogen zwischen Freunden und Feinden gleichermaßen hin und her, in den Köpfen formten sich bereits die kommenden Gespräche. Die Goggins, würde es heißen. Von der Familie war ja nichts anderes zu erwarten. Der Vater kann kaum seinen Namen auf ein Blatt Papier schreiben, und die Frau ist eine wirklich absonderliche Person.
»Ich weiß es nicht, Father«, sagte meine Mutter.
»Du weißt es nicht. Natürlich weißt du es nicht. Bist ja auch nicht mehr als ein dummes kleines Flittchen, nicht mehr Hirn im Kopf als ein Stallkarnickel. Und mit der Sittlichkeit steht es auch nicht besser, möchte ich hinzufügen. All ihr jungen Mädchen«, sagte er, hob die Stimme und sah die Bürger Goleens an, die reglos auf ihren Plätzen saßen, während er den Finger auf sie richtete. »Seht euch Catherine Goggin an, ihr jungen Mädchen, damit ihr wisst, was mit euch geschieht, wenn ihr untugendhaft lebt. Dann endet ihr mit einem Kind im Bauch und ohne einen Mann, der sich darum kümmert.«
Es wurde kurz laut in der Kirche. Im Jahr zuvor hatte sich ein Mädchen auf Sherkin Island schwängern lassen. Es war ein wundervoller Skandal gewesen. Und vorvergangene Weihnachten war es in Skibbereen passiert. Kam jetzt die gleiche Schande über Goleen? Wenn es tatsächlich so war, würde schon zum Tee nachmittags ganz West Cork Bescheid wissen.
»Nun, Catherine Goggin«, fuhr Father Monroe fort, legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte fest mit den Fingern zu. »Vor Gott, deiner Familie und den guten Christen dieser Gemeinde, nenne uns jetzt den Namen des Jungen, der mit dir ins Bett gegangen ist. Nenne ihn, damit er es gestehen und ihm im Namen Gottes vergeben werden kann. Und dann verschwindest du aus dieser Kirche und dieser Gemeinde und beschmutzt den Namen Goleens nie wieder, hörst du?«
Sie hob den Blick und sah zu meinem Großvater hinüber, der mit wie in Stein gehauener Miene den hinter dem Altar hängenden, ans Kreuz geschlagenen Jesus anstarrte.
»Dein armer Vater kann dir nicht helfen«, sagte der Priester, der ihrem Blick folgte. »Der will auch nichts mehr mit dir zu tun haben. Das hat er mir gestern Abend gesagt, als er ins Pfarrhaus kam, um mir die schändliche Neuigkeit zu überbringen. Und dass mir hier keiner Bosco Goggin die Schuld gibt, denn der hat seine Kinder nach den Werten der katholischen Kirche großgezogen. Nenne mir den Namen des Jungen, Catherine Goggin, nenne ihn mir, damit wir dich hinauswerfen können und dein schmutziges Gesicht nicht länger sehen müssen. Oder kennst du seinen Namen nicht? Ist es das? Gab’s da zu viele, als dass du dir sicher sein könntest, wer es war?«
Ein unzufriedenes Murmeln war aus den Reihen der Kirche zu hören. Das ging der Gemeinde dann doch einen Schritt zu weit, schließlich gerieten nun alle ihre Söhne in Verdacht. Father Monroe, der über zwanzig Jahre Hunderte von Predigten in dieser Kirche gehalten hatte, wusste, wie er die Anwesenden zu lesen hatte, und nahm sich ein wenig zurück.
»Nein«, sagte er. »Nein, ich sehe, da ist noch ein letzter Hauch Anstand in dir, und es gab nur einen Burschen. Aber nenne mir jetzt seinen Namen, Catherine Goggin, oder ich vergesse mich.«
»Ich sage ihn nicht«, sagte meine Mutter und schüttelte den Kopf.
»Was war das?«
»Ich sage ihn nicht«, wiederholte sie.
»Du sagst ihn nicht? Die Zeit für Schüchternheit ist lange vorbei, begreifst du das nicht? Den Namen, kleines Mädchen, oder ich schwöre beim Kreuze, dass ich dich in Schande aus...