Boyle | Eine wahre Freundin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Boyle Eine wahre Freundin

Kriminalroman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-948392-09-3
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-948392-09-3
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Das Leben ist ein Kampf für Rena Ruggiero, seit ihr Mann 'Gentle' Vic, ein Brooklyner Gangster, von einem Punk namens Little Sal auf der Veranda ermordet wurde. Als ihr 80-jähriger Nachbar Enzio einen Annäherungsversuch unternimmt, schlägt sie ihm im Affekt den Kopf mit einem Glasaschenbecher ein und lüchtet in Enzios wertvollem 62er Impala. Ohne wirklichen Plan lieht sie in die Bronx, wo ihre von ihr entfremdete Tochter Adrienne und ihre 15-jährige Enkelin Lucia leben. Adrienne schlägt ihr jedoch die Tür vor der Nase zu. Sie indet Zulucht bei einer Nachbarin. Lacey Wolfstein, eine Betrügerin und pensionierter Pornostar. Lacey hat ihr letztes Jahrzehnt in Florida damit verbracht, reiche Männer um ihr Vermögen zu bringen, bevor sie in die Bronx zurückkehrte und sich zur Ruhe setzte. Als eines ihrer Opfer auftaucht und sowohl sein Geld als auch ihre Liebe fordert, wird es eng für sie. Gleichzeitig taucht auch Richie Schiavano, Mitglied einer Maiafamilie, mit einem gestohlenen Koffer voller Geld auf. Für Rena und Lacey eröffnen sich plötzlich neue Möglichkeiten, ihrem Leben eine Wendung zu verleihen. Ein Koffer voller Geld und ein 62er Impala vor der Haustür.

William Boyle ist in der Nachbarschaft von Gravesend in Brooklyn aufgewachsen. Er ist der Autor von 'Gravesend' und 'Einsame Zeugin', die im Polar Verlag bereits erschienen sind. Er lebt zurzeit in Oxford, MS.
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Rena


Bensonhurst, Brooklyn
Sonntag, 11. Juni 2006


Nach der Sonntagsmesse und dem üblichen Kaffee bei McDonald’s mit ihrer Freundin Jeanne ist Rena Ruggiero zurück in der Bay Thirty-Fifth Street. Es ist seltsam, sich nur in der Straße heimisch zu fühlen, in der man wohnt, während alle anderen Straßen, selbst die in unmittelbarer Nähe, einem fremd vorkommen. Ihr ganzes Leben hat sie in dieser Straße gelebt. Sie ist hier, in diesem Haus aufgewachsen, während ihrer Collegezeit dort wohnen geblieben und nach der Heirat mit Vic in die Wohnung im ersten Stock gezogen. Nach dem Tod ihrer Eltern haben sie das ganze Haus in Beschlag genommen. Für drei Leute war es ziemlich groß, und für einen ist es das erst recht. Seit achtundsechzig Jahren gehört das Haus der Familie, die Eltern hatten es acht Jahre vor ihrer Geburt gekauft.

Wie so oft steht sie vor dem Haus und überlegt, was daran gemacht werden müsste. Es bräuchte eine neue Verschalung. Darum hatte sich Vic kümmern wollen, kurz bevor er ermordet wurde. Vielleicht müsste auch das Dach erneuert werden. Die Veranda hängt durch. Die Pfosten und Geländer müssten abgeschliffen und neu gestrichen und alles morsche Holz müsste ersetzt werden. Die Fenster sind so alt, dass der Wind hereinpfeift. Sie könnte es verkaufen – die Chinesen kaufen im Viertel alles, was sie kriegen können –, aber sie hat keine Lust, sich mit den Verhandlungen herumzuschlagen.

Die Stufen. Noch immer steht ihr das Bild vor Augen, wie Vic an diesem schrecklichen Tag vor neun Jahren darauf lag. Sie erinnert sich genau an die Blutlachen auf den Stufen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man noch die braunen Flecken, die sich für alle Zeiten in den Beton gefressen haben. Der arme Vic. Vielleicht hatte er die Tauben auf dem Dach des Wohnblocks gegenüber beobachtet, wo Zippo, der Hausherr, mit einer großen schwarzen Fahne seine Jungtauben trainierte. Und dann kam Little Sal mit gezogener Waffe.

Rena hatte drinnen am Herd gestanden und Kalbsschnitzel gebraten. Als sie den Schuss hörte, dachte sie, es handle sich um eine Fehlzündung. Oder irgendwelche dummen Jungs mit Chinaböllern. Erst als sie Schreie und dann Sirenen und quietschende Reifen hörte, ging sie raus. Wie in Zeitlupe sieht sie sich aus der Küche den Flur hinunterlaufen. Sie hatte nicht gedacht, dass Vic etwas passiert sein könnte. Er hatte frei und saß einfach nur draußen rum. Die Angst hatte immer in ihr gelauert, aber nicht in diesem Moment. Sie würden sich die Übertragung eines Spiels im Radio anhören und dazu Kalbsschnitzel essen. Als sie Vic erreichte, war Little Sal längst verschwunden.

Rena erinnert sich, wie sie auf dem Weg ins Krankenhaus über ihn gebeugt im Rettungswagen gesessen und weinend den Rosenkranz gebetet hat. Vic mit seiner ruhigen Stimme, den nachdenklichen braunen Augen und seiner schmutzigen Arbeit. Alle in der Organisation nannten ihn Gentle Vic, den sanften Vic. Er hatte für die Brancaccios Schulden eingetrieben. Sehr erfolgreich. Was da passiert war, hatte aber nichts mit seiner Arbeit zu tun, sondern mit einem kleinen Dreckskerl namens Little Sal, der sich einen Namen machen wollte, indem er einen echten Mafioso aus dem Spiel nahm. Vic war erschossen worden, als er an einem Espresso nippte, neben sich auf der Stufe einen Ziploc-Beutel mit Zucchiniblüten, die er von Francesca ein paar Häuser weiter bekommen hatte.

Jeder weiß über Vic Bescheid, was er gemacht hat und wie er gestorben ist, aber niemand spricht sie darauf an. Niemand fragt sie, wie es ist, den eigenen Ehemann verbluten zu sehen. Oder wie es ist, mit dem Gartenschlauch getrocknetes Blut von den Stufen zu spritzen, nachdem man gerade den einzigen Mann beerdigt hat, den man je geliebt hat. Die Brancaccios hatten ihr unter die Arme gegriffen, sie kamen für die Beerdigung auf und gaben ihr etwas Geld, aber seither lässt sich keiner von ihnen mehr bei ihr blicken. Mit den anderen Ehefrauen war sie nie besonders eng.

Rena geht ins Haus und stellt die Alarmanlage aus. Die war Vics Idee gewesen, nachdem Anfang der Neunzigerjahre in einigen Häusern in der Straße eingebrochen worden war. Er war oft außer Haus und wollte, dass sie sich sicher fühlte. Sie zieht den Mantel aus und stellt Teewasser auf, dann überlegt sie es sich anders und dreht das Gas wieder ab. Das Telefon hängt direkt neben dem Herd an der Wand, ein altes gelbes Wählscheibentelefon. Unter dem durchsichtigen Plastik in der Mitte der Wählscheibe steckt ein Foto ihrer Eltern. Sie lächeln. Es wurde an ihrem dreißigsten Hochzeitstag gemacht. Auf dem Foto sind die beiden jünger als Rena heute.

Ihre Freundin Jeanne konnte es beim Kaffee bei McDonald’s wieder mal nicht lassen und ist auf Adrienne zu sprechen gekommen. Adrienne ist Renas Tochter, sie wohnt drüben in der Bronx. Seit Vics Beerdigung hat Rena sie nicht mehr gesehen. Genauso wenig wie ihre Enkelin Lucia. Lucia, inzwischen fünfzehn, war sechs, als Rena sie das letzte Mal im Arm gehalten hat, da stand sie weinend vor Vics Sarg.

Als Rena – in dieser schweren Zeit – erfuhr, was zwischen Adrienne und Richie Schiavano, Vics rechter Hand, lief, war sie entsetzt und hielt damit auch nicht hinterm Berg. Offenbar hatten die beiden seit Adriennes Highschool-Zeit eine On-Off-Beziehung. Adrienne war noch ein Kind gewesen, als die Geschichte anfing. Auf der Beerdigung kam alles raus. Rena war fassungslos. Sie konnte nicht glauben, dass das hinter ihrem und Vics Rücken passiert war. Sie konnte nicht glauben, dass Richie so wenig Respekt vor der Familie hatte. Sie konnte nicht glauben, dass Adrienne eine solche war. Eigentlich hatte sie ganz andere Sorgen, aber den größten Teil ihrer Wut bekam Adrienne ab. In der Situation ganz verständlich. Trotzdem trägt Adrienne ihr bis heute nach, dass sie gegen ihre Beziehung mit Richie war. Dabei hatte sich Rena nur Gedanken gemacht um das, was in den Augen Gottes und der Menschen richtig und was falsch ist, was sich gehört. Das hat sich auch nicht geändert.

Aber im Grunde reicht es noch weiter zurück. Adrienne hat sich immer für ihre Mutter geschämt oder war wegen irgendwas wütend auf sie. Das war nicht richtig. Rena macht das alles sehr traurig, besonders weil auch Lucia betroffen ist. Das Mädchen geht inzwischen auf die Highschool und hat keinen Kontakt zu ihrer Großmutter. Es ist eine Schande.

Rena nimmt den Hörer ab und wählt Adriennes Nummer. Im Lauf der Jahre hat sie Hunderte Briefe geschrieben, Tausende Male versucht, mit ihr zu telefonieren.

Nach dem ersten Klingeln hebt Adrienne ab. Bei einem Versuch vor ein paar Monaten hat sie zum letzten Mal ihre Stimme gehört. »Ja?«, sagt Adrienne verschlafen.

»Adrienne? Mommy hier.«

. Wortlos legt Adrienne auf.

Rena hängt ein und steht nur da. Ein paarmal holt sie tief Luft. Sie will nicht heulen. Sie denkt an den schrecklichen Bericht in der gestrigen . Ein Mann wurde in der D mit einer Machete niedergemetzelt. Mit einer Machete. Bei dem Gedanken vergeht ihr das Heulen. Wer macht so was?

Es klingelt an der Tür. Sie fragt sich, wer heute, an einem Sonntag, etwas von ihr wollen könnte. Oder an irgendeinem anderen Tag. Vielleicht die Zeugen Jehovas. Oder wieder mal ein Immobilienmakler, der sie zum Verkauf des Hauses überreden will. Keiner hält sich mehr an die Sonntagsruhe. Das war früher anders. Alles war früher anders.

Sie geht in die Diele und sieht durch die zerschlissene Gardine am Türfenster eine unförmige Gestalt. »Wer ist da?«, ruft sie aus sicherer Entfernung.

Räuspern. Ein Mann. »Ich bin’s, Enzio!«

Sie tritt an die Tür und schiebt die Gardine beiseite. Ihr Nachbar Enzio steht frisch frisiert und in einem Members-Only-Blouson davor und schnäuzt in ein weißes Taschentuch. In der anderen Hand hält er einen Strauß Margeriten – ihre Lieblingsblumen. Das kann kein Zufall sein. Beim Kaffee hat Jeanne auch wieder davon angefangen, dass sie sich einen Freund suchen soll, dass sie mit ihren sechzig noch lange nicht im Grab liegt. Sämtliche Junggesellen aus der Nachbarschaft hat sie aufgezählt. Darunter Enzio, der an der Ecke wohnt. Er ist mindestens achtzig. Immer steht er, die kurzen Hosen bis knapp unter die Achseln gezogen, den Knopf über dem Bauch geöffnet, mit blanker Brust in der Einfahrt und wienert sein schönes altes Auto. Wenn sie vorbeigeht, nennt er sie und und . Dabei grinst er schmierig.

»Ich bin’s, Enzio«, sagt er wieder, leiser dieses Mal. Er steckt das Taschentuch in die Hosentasche.

»Was willst du?«, fragt Rena.

»Ein bisschen plaudern.«

»Seit wann braucht man dazu Blumen?«

»Komm schon, mach auf, ja?«

Sie zögert, streckt aber die Hand nach der Klinke aus. Sie hat doch keine Angst vor einem alten Jammerlappen wie Enzio, oder? Er tut den lieben langen Tag nichts anderes...



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