E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Boyes My dear Krauts
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0153-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie ich die Deutschen entdeckte
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0153-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roger Boyes, 1952 in Hereford/England geboren, ist Deutschland-Korrespondent der Londoner Tageszeitung The Times und Autor der Kult-Kolumne »My Berlin« im Tagesspiegel. Er lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland.
Autoren/Hrsg.
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1 Der Kampf der Kulturen
SIEHST BLASS AUS
Just in dem Moment, als ich deutschen Boden betrat, plingte eine SMS auf mein erschöpftes Handy.
»Stellen Sie das bitte aus«, sagte der Zollbeamte, ein junger Mann mit Nickelbrille und weichen Gesichtszügen, die ihn eher nach Dichter als nach Durchwinker aussehen ließen. Mein Pass wellte sich an den Ecken bereits wie labbriges Toastbrot, und der Beamte musste meine Daten von Hand eingeben, statt sie einfach durch seine Maschine zu ziehen. Vor lauter Konzentration biss er sich auf die Zunge. In der Schlange hinter mir kam allmählich Unruhe auf. Ich hatte es mit einem sehr langsamen Dichter zu tun. Aber das sind oft die besten. Pling!
SAG DU BIST ARZT
»Ich muss Sie bitten, Ihr Handy jetzt auszuschalten«, sagte der Beamte, nun recht entschieden.
»Ich bin Arzt!«, log ich, wie mir elektronisch geheißen.
»Hier steht aber, dass Sie Journalist sind.« Plötzlich war er hellwach.
»Na ja, ich bin beides. Sozusagen wie, äh … Tschechow.«
»Ach, Tschechow hat auch für Zeitungen geschrieben?«
Ich nickte heftig. Und fragte mich im Stillen: Hat er?
»Deshalb muss mein Handy an bleiben. Könnte ja ein Notfall sein.«
»Und, ist es einer?«
»Kann man so sagen.«
Mein Notfall hatte einen Namen: Harry. Es war ihm (vermutlich durch Bestechung) gelungen, sich Zugang zu einer Galerie zu verschaffen, von der aus man den gesamten Zoll- und Gepäckabfertigungsbereich überblicken konnte. Wahrscheinlich war diese Empore normalerweise für die GSG 9 reserviert, Zutritt nur für Leute mit Waffenschein und kugelsicherer Weste. Er winkte mir zu, als ich den zunehmend verwirrten Dichter-Durchwinker in Richtung Gepäckkarussell verließ, das sich wie ein Betrunkener ständig rülpsend in Bewegung setzte und wieder anhielt.
»Gib mir fünf Minuten«, signalisierte ich ihm per Lippenbewegung und streckte dazu eine gespreizte Hand in die Luft. Die eleganten Kofferkulis, entworfen von einem preisgekrönten Dortmunder Mobilitätskünstler, blieben frisch einreisenden Engländern leider verwehrt. Man musste erst eine Ein-Euro-Münze einwerfen, bevor man sie losketten konnte. Da das Flugzeug eben erst aus London angekommen war, waren nur die am gründlichsten vorbereiteten Passagiere in der Lage, ihr Gepäck abzuladen. Eine amerikanische Rockband, drei Typen mit weißen Westen, Schlüsselhalsbändern und hervorlugenden Boxershorts, wuchteten unter Flüchen ihre Gitarren und Verstärker vom Fließband. Ein Araber löste das Gepäckproblem, indem er die Koffer einfach seiner Frau in die Hand drückte. Bestimmt hatte er einen schlimmen Rücken. Unter allgemeinem Gemaule und Gejaule bemühten sich diejenigen Passagiere, die nicht aus der Eurozone stammten, die Einreise nach Deutschland zu meistern. Vorsichtig holte ich eine türkische Ein-Lira-Münze hervor und schob sie in den dafür vorgesehenen Schlitz. Den Trick hatte ich auch von Harry. Und natürlich funktionierte er. Mit etwas Glück (und der Hilfe dieser beinahe wertlosen türkischen Münze) würde ich mir bald jede Menge Billigst-Zigaretten aus dem Automaten ziehen können.
Der Frühflug von London nach Berlin mit Breezyjet war eine ziemlich rumpelige Angelegenheit gewesen, ungefähr das luftfahrttechnische Gegenstück zu einer Fahrt im Viehtransporter. Niemand hatte sich erbrochen. Doch die Gesichter der um die festgezurrten Kofferkulis herumirrenden Passagiere leuchteten aquariumgrün. Harrys Kurzmitteilung hätte auf jeden von ihnen gepasst: Sie hatten diese gewisse Billigflieger-Blässe. Diese Leute litten zum Großteil am Easy-Jet-Wahn: Sie bildeten sich ein, dass man dank billiger Flugtarife in zwei Städten gleichzeitig glücklich sein konnte. Oder das Londoner Elend mit persönlichen Erfolgen in Berlin wettmachen. Oder umgekehrt. Oder dass es zwei verschiedene Glücks-Level gab, ein britisches und ein deutsches. Dass so ein Flug für neunundzwanzig Euro – ohne Essen, ohne Kotztüte, ohne Sitznummer – irgendwie einen ganzen Menschen aus ihnen machte. Vor allem die Spezies des Laptop Man wollte unbedingt an diesen Schwachsinn glauben – in erster Linie deutsche Männer, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre geboren wurden. Sie waren mit der bestmöglichen medizinischen Versorgung aufgewachsen, waren wohlgenährt und ausreichend mit Vitaminen versorgt; die meisten von ihnen hatten nie eine Uniform getragen und nicht ein Einziger war das Resultat einer ungewollten Schwangerschaft. Wenn sie irgendwo ankamen, suchten sie instinktiv erst mal nach einer Steckdose. Der momentane Aufenthaltsort spielte keine Rolle. Ihre Heimat war nicht Deutschland, sondern irgendein elektronisches Territorium, das keine Fahnen kannte – ständig unter Strom, ständig auf dem Sprung. Das war nicht mein Ding.
Deutschland war gegen jede Wahrscheinlichkeit mein Zuhause geworden. Die Briten haben kein Wort für Heimat. Sie sagen home. We’re going home for Christmas. Ein Wort, das eine gewisse Wärme transportiert – man hockt am Kamin, und auf dem Sims knacken die Kastanien –, aber ansonsten nur begrenzte Gültigkeit besitzt. Manchmal kann es sich auch auf ein schlecht belüftetes, überheiztes Wohnzimmer beziehen. Großbritannien ist einfach zu chaotisch und zu umtriebig, zu knausrig und zu betrügerisch, als dass jemand es als Heimat betrachten würde. Zudem wird das englische Wort home auch solchen öffentlichen Einrichtungen angeheftet, die den gesellschaftlich Zukurzgekommenen Schutz bieten, wodurch seine Bedeutung stark gelitten hat.
Es gab das Battersea Dog’s Home (ein Tierheim), old people’s homes (Altersheime) und homes für tschetschenische Flüchtlinge und jugendliche Straftäter. Alles Heime, aber keine Heimat. Weder Großbritannien noch Deutschland waren für mich wirklich home, aber eben auch nicht Heimat. Doch Berlin war mein Zuhause geworden, völlig unerwartet und mangels Alternative. Es war der Ort, an dem ich schließlich gestrandet war – nach Jahrzehnten der Berichterstattung über Revolutionen und Kriege, von denen niemand Notiz nahm. Am Ende würde es mir hier womöglich noch gefallen. Obwohl das eher unwahrscheinlich war. Denn die Deutschen schienen ihr Land selber nicht besonders zu mögen – am allerwenigsten der Laptop Man, der von seiner Heimat vor allem eins wissen wollte: Wo kann ich meinen Rechner einstöpseln?
Inzwischen etwas ins Schwitzen geraten, nahm ich mein Gepäck vom Karussell. Es war vollgestopft mit Cornish Pasties von Marks & Spencer’s, mit Cheddar Cheese, Golden Syrup und Treacle Tart: Überlebensmittel, die es in Deutschland nicht gab. Die Gespräche mit der Zeitung waren nicht ganz so produktiv gewesen wie erhofft.
Als mich der Anruf der Chefredaktion ereilte, rechnete ich zunächst mit einem Rüffel. Der deutsche Botschafter hatte sich nämlich über das – seiner Ansicht nach unbarmherzige – ständige Stochern in der Naziglut beschwert. Deutschland habe sich, so der Botschafter in einem leidenschaftlichen Leserbrief, zwischenzeitlich weiterentwickelt. Das Land sei – entgegen anderslautenden Behauptungen des Korrespondenten – keineswegs von Ängsten geplagt, unglücklich oder in irgendeiner Weise vergangenheitsfixiert. Manchmal nahm der Chefredakteur solche Briefe ernst. Manchmal warf er sie in den Papierkorb. Das wusste man vorher nie so genau. Ich trottete also durch das langgezogene Großraumbüro – eine umgebaute Baumwoll-Lagerhalle im Osten von London, die im neunzehnten Jahrhundert von Schmugglern genutzt worden war – und legte mir schon mal meine Verteidigungsstrategie zurecht. Schließlich wollte ich nicht so enden wie meine Kollegen, die mit glasigen Augen vor ihren Bildschirmen saßen und auf ihre viertelstündige Mittagspause warteten.
Zu Beginn meiner Laufbahn hatte ich gedacht, dass der Beruf des Journalisten geradezu perfekt für mich sei: Ging es darin doch freigeistig, humorvoll und kameradschaftlich zu. Der Journalismus befriedigte ein Bedürfnis in mir, das Arbeitsleben in ein immerwährendes, verantwortungsloses Abenteuer zu verwandeln. Doch daraus war irgendwann disziplinierte Akkordarbeit geworden, die den Geist eher tötete als ihn zu befreien. Die Versetzung nach Deutschland war vermutlich meine letzte Chance, wieder Spaß am Job zu finden: die ständige Herausforderung, das Interesse an einer Gesellschaft zu wecken, die beschlossen hatte, langweilig zu sein! Deutschland war ein faszinierend neurotisches Land, das sich für normal hielt. Was das Land (und seine Frauen) so faszinierend machte, war der permanente Selbstzweifel, diese Gereiztheit und latente Aggressivität. Und wie sollte man die verstehen, ohne einen Blick auf die Geschichte zu werfen?
Ich winkte im Vorübergehen ein paar vertrauten Gesichtern zu. Freudlos sahen sie auf. Der Auslandskorrespondent war zwar eine aussterbende Spezies, aber im Moment auch ein Grund, neidisch zu sein....