E-Book, Deutsch, 672 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
Boyd Eines Menschen Herz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70308-2
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 672 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-311-70308-2
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
William Boyd, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühlt, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und im südfranzösischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Wo immer er sich gerade aufhält - er geht für sein Leben gern spazieren.
Weitere Infos & Material
Die intimen Tagebücher des Logan Mountstuart
Vorbemerkung zu den Tagebüchern
»Yo, Logan«, schrieb ich. »Yo, Logan Mountstuart, vivo en la Villa Flores, Avenida de Brasil, Montevideo, Uruguay, America del Sur, El Mundo, El Sistema Solar, El Universo.« Das waren meine ersten Worte – oder, genauer, dies ist meine älteste Aufzeichnung und der Beginn meiner schriftlichen Existenz –, verewigt auf dem Vorsatzblatt eines indigoblauen Taschenkalenders von 1912 (den ich noch besitze und der ansonsten leer geblieben ist). Damals war ich sechs Jahre alt. Heute1 erstaunt es mich, dass ich meine ersten Worte in einer Sprache schrieb, die nicht die meine ist. Die flüssige Beherrschung des Spanischen ist mir verloren gegangen – dieser Verlust in meiner sonst vollkommen ungetrübten Kindheit schmerzt mich am meisten. Das für meine Zwecke genügende, fehlerhafte, grammatisch schwerfällige Spanisch, das ich heute spreche, ist der erbärmlichste Abkömmling des natürlichen Umgangsgeplappers, das in meinen ersten neun Lebensjahren aus mir heraussprudelte. Seltsam, wie vergänglich diese frühen sprachlichen Fähigkeiten sind, wie leichtfertig und schnell sie das Gedächtnis aufgibt. Ich war ein zweisprachiges Kind im wahren Sinne, denn das Spanisch, das ich sprach, unterschied sich in nichts von dem eines Uruguayers.
Uruguay, das Land meiner Geburt, hat sich genauso nebelhaft in meinem Kopf erhalten wie das Alltagsspanisch, das ich einst mühelos beherrschte. Ich bewahre die bildliche Erinnerung an einen breiten braunen Fluss, die Bäume am anderen Ufer dicht gedrängt wie Brokkolisprossen. Auf dem Fluss sehe ich ein schlankes Boot mit einer einzigen Person im Heck. Das Boot treibt flussabwärts, der kleine Außenbordmotor kerbt eine schaumige Kiellinie in die bewegte Wasserfläche, und das Uferschilf, das von der Bugwelle erfasst wird, schwankt und nickt und beruhigt sich wieder, als sich das Boot entfernt. Bin ich die Person im Boot, oder bin ich der Zuschauer am Ufer? Ist das die Stelle am Rio Negro, wo ich als Kind oft angelte? Oder ist es die Vision einer Reise durch die Zeit, einer Reise, die so vergänglich ist wie die Spur eines Bootes im fließenden Strom? Leider kann ich dieses Bild nicht als meine erste, verlässlich datierbare Erinnerung bezeichnen. Diese Ehre kommt einem anderen Anblick zu, dem Anblick des kurzen, stummelartigen und beschnittenen Penis meines Tutors Roderick Poole, den ich mit verhohlener Neugier registrierte, als er nackt aus der atlantischen Brandung von Punto del Este stieg, wohin wir beide an einem Junitag des Jahres 1914 zum Picknick gefahren waren. Ich war acht Jahre alt, und Roderick Poole war aus England nach Montevideo gekommen, um mich auf St. Alfred’s vorzubereiten, meine englische Vorschule. Wenn’s geht, immer nackt schwimmen, Logan, war der Rat, den er mir an jenem Tag erteilte, und ich habe stets versucht, mich daran zu halten. Wie dem auch sei, Roderick war beschnitten und ich nicht – was erklären mag, warum ich dem Anblick so viel Aufmerksamkeit widmete, nicht aber, warum mir ausgerechnet dieser Tag im Gedächtnis geblieben ist. Die Erinnerungen an die Zeit davor sind wirr und verschwommen, ohne Zeit und ohne Ort. Ich wünschte, ich hätte etwas Bezeichnenderes, Poetischeres, meiner nachfolgenden Biographie Angemesseneres zu bieten als das. Aber ich muss bei der Wahrheit bleiben – wo, wenn nicht hier?
Die ersten Seiten des Tagebuches, das ich fünfzehnjährig begann und dem ich, wenn auch mit Unterbrechungen, mein Leben lang treu geblieben bin, sind verschollen. Das ist kein großer Verlust, denn zweifellos enthalten sie die Gelöbnisse fast aller intimen Tagebücher und bekennen sich ebenfalls zum Vorsatz vollständiger und unerschütterlicher Wahrhaftigkeit. Ich dürfte mich auf absolute Offenheit eingeschworen und mir alle Schamgefühle angesichts der dadurch hervorgerufenen Entblößungen versagt haben. Warum fühlen wir Tagebuchschreiber uns zu einer solchen Verfahrensweise gedrängt? Spüren wir die permanente Gefahr des Abgleitens in uns, den Drang, zu fälschen und zu kaschieren? Gibt es Seiten in unserem Leben – Dinge, die wir tun, denken und fühlen –, die wir nicht zu enthüllen wagen, nicht einmal vor uns selbst, nicht einmal in der absoluten Abgeschiedenheit unserer privaten Aufzeichnungen? Wie dem auch sei: Ich habe mir sicher geschworen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit usw. usw., und ich glaube, diese Blätter werden meinem Vorsatz gerecht. Ich habe mich manches Mal gut verhalten, und ich habe mich manches Mal alles andere als gut verhalten – aber ich habe immer allen Versuchungen widerstanden, mich in ein besseres Licht zu rücken. Es gibt keinerlei Streichungen mit dem Zweck, etwaige Fehlurteile zu vertuschen (»Die Japaner werden es niemals wagen, die USA von sich aus anzugreifen«), keinerlei Zusätze mit dem Ziel, mir unverdiente Weisheiten anzumaßen (»Die ganze Erscheinung dieses Herrn Hitler ist mir zuwider«), und keinerlei Einschübe, die kluge Voraussicht beweisen sollen (»Gäbe es doch nur die Möglichkeit, die Kraft des Atoms auf sichere Art zu zähmen«) – denn das ist nicht der Sinn eines Tagebuchs. Wir führen Tagebuch, um die Vielgestaltigkeit des Ich einzufangen, die uns, das menschliche Individuum, formt. Man stelle sich unseren Werdegang vor wie eine der bekannten Zeichnungen, die die Abstammung des Menschen illustrieren: Dem zottigen Affen, dessen Hände am Boden schleifen, folgen Hominiden, die sich allmählich aufrichten und einen Teil ihrer Behaarung verlieren – bis hin zum weißen und glatt rasierten Nudisten, der stolz die Steinaxt oder den Speer schwingt. All diese Zwischenstadien suggerieren ein unaufhaltsames Fortschreiten bis hin zu diesem athletischen Idealtypus. Aber unser Leben verläuft nicht in dieser Weise, und ein aufrichtiges Tagebuch konfrontiert uns mit einer sprunghafteren und ungeordneteren Wirklichkeit. Die verschiedenen Lebensetappen existieren zwar, aber sie sind durcheinandergeworfen, einander entgegengestellt und wiederholen sich, wie es der Zufall will. Die verschiedenen Verkörperungen des Ich kämpfen auf diesen Blättern um Vorrang: Der Neandertaler mit den zusammengewachsenen Augenbrauen schubst den axtschwingenden beiseite; der neurasthenische Intellektuelle trampelt den lehmbeschmierten Urmenschen nieder. Darin verbirgt sich kein tieferer Sinn; ein logischer, erkennbarer Fortschritt findet nicht statt. Das wahrhaftige trägt diesem Umstand Rechnung und versucht nicht, eine Ordnung oder Hierarchie zu errichten, versucht nicht zu urteilen oder zu analysieren: Ich bestehe aus all diesen verschiedenen Wesen – all diese unterschiedlichen Menschen sind mein Ich.
Jedes Leben ist gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich – es ist das Mischungsverhältnis dieser beiden Kategorien, das ein Leben interessant oder banal erscheinen lässt. Ich wurde am 27. Februar 1906 in Montevideo, Uruguay, geboren, der an einer Meeresbucht gelegenen Hauptstadt des kleinen Landes, das vom rinderreichen Argentinien und dem brütend heißen Brasilien eingekeilt wird. »Die Schweiz Südamerikas« wird das Land manchmal genannt, und denkt man bei diesem Vergleich an ein Binnenland, ist das nicht ganz abwegig, denn trotz der langen Küste – die Republik ist auf drei Seiten von Wasser umgeben, dem Atlantik, der gewaltigen Bucht des Rio de la Plata und dem breiten Rio Uruguay – sind die Uruguayer hartnäckige Landratten, ein Umstand, der mir stets das Herz erquickt hat, zumal ich innerlich gespalten bin in einen seezugewandten Briten und einen wasserscheuen Uruguayer. Meine ganze Natur ist ihrer genetischen Herkunft gemäß zweigeteilt: Ich liebe das Meer, aber vom Strand aus. Meine Füße müssen stets auf festem Grund stehen.
Mein Vater hieß Francis Mountstuart (geb. 1871), meine Mutter Mercedes de Solis. Sie behauptete, von Juan de Solis abzustammen, dem ersten Europäer, der im frühen 16. Jahrhundert seinen Fuß auf uruguayischen Boden setzte – ein Schritt, der ihm kein Glück brachte, denn er und die meisten seiner Entdeckerkumpanen wurden sogleich von den Charrua-Indianern massakriert. Sei’s drum: Ob meine Mutter mit ihrer eitlen Prahlerei recht hatte, bleibt unbeweisbar.
Meine Eltern fanden zusammen, weil meine Mutter, die gut Englisch sprach, die Sekretärin meines Vaters wurde. Mein Vater war Geschäftsführer der uruguayischen Zweigniederlassung der Fleischverarbeitungsfabrik Foley & Cardogin. Das berühmteste Produkt der Firma war Foley’s Finest Corned Beef – (»Foley’s Finest«: Wir Briten haben alle irgendwann im Leben einmal Foley’s Corned Beef gegessen) –, aber das Hauptgeschäft bestand im Export gefrorener Rinderhälften aus dem riesigen – einem Schlachthof mit angeschlossenem Kühlhaus –, der ein paar Meilen westlich von Montevideo an der Küste gelegen war. Foley’s war zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar nicht der größte von Uruguay (diese Ehre kam Lemco’s in Fray Bentos zu), aber er warf viel Gewinn ab – dank dem Fleiß und der Beharrlichkeit von Francis Mountstuart. Mein Vater war vierunddreißig Jahre alt, als er meine (zehn Jahre jüngere) Mutter 1904 in der schönen Kathedrale von Montevideo heiratete. Zwei Jahre später kam ich, ihr einziges Kind, zur Welt und wurde zu Ehren meiner Großväter (die mich beide nicht mehr erlebten) Logan Gonzago getauft.
Ich grabe in meinen...